ÜBER DAS WESEN UND DIE BEDEUTUNG
VON GOETHES SCHRIFTEN
ÜBER ORGANISCHE BILDUNG
Die hohe Bedeutung von Goethes morphologischen Arbeiten ist darin zu
suchen, daß in denselben die theoretische Grundlage und die
Methode des Studiums organischer Naturen festgestellt ist, welches
eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges ist.
Will man dieses in der richtigen Weise würdigen, so muß man sich
vor allem den großen Unterschied gegenwärtig halten, welcher
zwischen Erscheinungen der anorganischen und solchen der organischen
Natur besteht. Eine Erscheinung der ersteren Art ist z. B. der
Stoß zweier elastischer Kugeln aufeinander. Ist die eine Kugel
ruhend und stößt die andere in einer gewissen Richtung und mit
einer gewissen Geschwindigkeit auf dieselbe, so erhält jene ebenfalls
eine gewisse Bewegungsrichtung und eine gewisse Geschwindigkeit.
Handelt es sich nun darum, eine solche Erscheinung zu begreifen,
so kann dies nur dadurch erreicht werden, daß wir das, was
unmittelbar für die Sinne da ist, in Begriffe verwandeln. Es muß
uns dieses in dem Maße gelingen, daß nichts
Sinnenfällig-Wirkliches bleibt, welches wir nicht begrifflich
durchdrungen hätten. Wir sehen die eine Kugel ankommen, an die andere
stoßen, letztere sich weiter bewegen. Wir haben diese
Erscheinung begriffen, wenn wir aus Masse, Richtung und
Geschwindigkeit der ersten und aus der Masse der anderen die
Geschwindigkeit und Richtung von letzterer angeben können; wenn wir
einsehen, daß unter den gegebenen Verhältnissen jene Erscheinung
mit Notwendigkeit eintreten müsse. Das letztere heißt
aber nichts anderes, als: Es muß dasjenige, was sich unseren
Sinnen darbietet, als eine notwendige Folge dessen erscheinen,
was wir ideell vorauszusetzen haben. Ist das letztere der Fall, so
können wir sagen, daß sich Begriff und Erscheinung decken. Es
ist nichts im Begriffe, was nicht auch in der Erscheinung wäre und
nichts in der Erscheinung, was nicht auch im Begriffe wäre. Nun
haben wir auf jene Verhältnisse, als deren notwendige Folge eine
Erscheinung der unorganischen Natur auftritt, näher einzugehen. Hier
tritt der wichtige Umstand ein, daß die sinnlich wahrnehmbaren
Vorgänge der unorganischen Natur durch Verhältnisse bedingt werden,
welche ebenfalls der Sinnenwelt angehören. In unserem Falle kommen
Masse, Geschwindigkeit und Richtung, also durchaus Verhältnisse der
Sinnenwelt in Betracht. Es tritt nichts weiteres als Bedingung
der Erscheinung auf. Nur die unmittelbar sinnlich-wahrnehmbaren
Umstände bedingen sich untereinander. Eine begriffliche
Erfassung solcher Vorgänge ist also nichts anderes als eine Ableitung
von Sinnenfällig-Wirklichem aus Sinnenfällig-Wirklichem.
Räumlichzeitliche Verhältnisse, Masse, Gewicht oder sinnlich
wahrnehmbare Kräfte wie Licht oder Wärme sind es, welche Erscheinungen
hervorrufen, die wieder in dieselbe Reihe gehören. Ein Körper wird
erwärmt und vergrößert dadurch sein Volumen; das erste wie das
zweite gehört der Sinnenwelt an, sowohl die Ursache wie die Wirkung.
Wir brauchen also, um solche Vorgänge zu begreifen, gar nicht aus der
Sinnenwelt herauszugehen. Wir leiten nur innerhalb derselben
eine Erscheinung aus der andern ab. Wenn wir also eine solche
Erscheinung erklären, d. h. begrifflich durchdringen wollen, so haben
wir in den Begriff keine anderen Elemente aufzunehmen als solche,
welche auch anschaulich mit unseren Sinnen wahrzunehmen sind.
Wir können alles anschauen, was wir begreifen wollen. Und darin
besteht das Decken von Wahrnehmung (Erscheinung) und Begriff. Es
bleibt uns nichts dunkel in den Vorgängen, weil wir die Verhältnisse
kennen, aus denen sie folgen. Hiermit haben wir das Wesen der
unorganischen Natur entwickelt und zugleich gezeigt, inwiefern wir
dieselbe, ohne über sie hinauszugehen, aus sich selbst erklären
können. An dieser Erklärbarkeit hat man nun niemals gezweifelt, seit
man überhaupt angefangen hat, über die Natur dieser Dinge zu denken.
Man hat zwar nicht immer den obigen Gedankengang durchgemacht, aus
welchem die Möglichkeit einer Deckung von Begriff und Wahrnehmung
folgt; doch hat man nie Anstand genommen, die Erscheinungen auf die
angedeutete Weise aus der Natur ihres eigenen
Wesens zu erklären.64
Anders aber verhielt es sich bis zu Goethe mit den
Erscheinungen der organischen Welt. Beim Organismus erscheinen
die für die Sinne wahrnehmbaren Verhältnisse, z. B. Form, Größe,
Farbe, Wärmeverhältnisse eines Organes, nicht bedingt durch
Verhältnisse der gleichen Art. Man kann z. B. von der Pflanze nicht
sagen, daß Größe, Form, Lage usw. der Wurzel die
sinnlichwahrnehmbaren Verhältnisse am Blatte oder an der Blüte
bedingen. Ein Körper, bei dem dies der Fall wäre, wäre nicht ein
Organismus, sondern eine Maschine. Man muß vielmehr zugestehen,
daß alle sinnlichen Verhältnisse an einem lebenden Wesen nicht
als Folge von andern sinnlichwahrnehmbaren
Verhältnissen erscheinen65,
wie dies bei der unorganischen Natur der Fall
ist. Alle sinnlichen Qualitäten erscheinen hier vielmehr als Folge
eines solchen, welches nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. Sie
erscheinen als Folge einer über den sinnlichen Vorgängen schwebenden
höheren Einheit. Nicht die Gestalt der Wurzel bedingt jene des Stammes
und wiederum die Gestalt von diesem jene des Blattes usw., sondern
alle diese Formen sind bedingt durch ein über ihnen Stehendes, welches
selbst nicht wieder sinnlich-anschau-licher Form ist; sie sind wohl
füreinander da, nicht aber durcheinander. Sie bedingen sich nicht
untereinander, sondern sind alle bedingt von einem anderen. Wir können
hier das, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht wieder aus sinnlich
wahrnehmbaren Verhältnissen ableiten, wir müssen in den Begriff der
Vorgänge Elemente aufnehmen, welche nicht der Welt der Sinne
angehören, wir müssen über die Sinnenwelt hinausgehen. Es
genügt die Anschauung nicht mehr, wir müssen die Einheit
begrifflich erfassen, wenn wir die Erscheinungen erklären wollen.
Dadurch aber tritt eine Entfernung von Anschauung und Begriff ein; sie
scheinen sich nicht mehr zu decken; der Begriff schwebt über der
Anschauung. Es wird schwer, den Zusammenhang beider einzusehen.
Während in der unorganischen Natur Begriff und Wirklichkeit eins
waren, scheinen sie hier auseinanderzugehen und eigentlich zwei
verschiedenen Welten anzugehören. Die Anschauung, welche sich den
Sinnen unmittelbar darbietet, scheint ihre Begründung, ihre Wesenheit
nicht in sich selbst zu tragen. Das Objekt scheint aus sich selbst
nicht erklärbar, weil sein Begriff nicht von ihm selbst, sondern von
etwas anderem entnommen ist. Weil das Objekt nicht von Gesetzen der
Sinnenwelt beherrscht erscheint, doch aber für die Sinne da ist, ihnen
erscheint, so ist es, als wenn man hier vor einem unlösbaren
Widerspruche in der Natur stünde, als wenn eine Kluft bestünde
zwischen anorganischen Erscheinungen, welche aus sich selbst zu
begreifen sind, und organischen Wesen, bei denen ein Eingriff in die
Gesetze der Natur geschieht, bei denen allgemeingültige Gesetze auf
einmal durchbrochen würden. Diese Kluft nahm man in der Tat bis
auf Goethe allgemein in der Wissenschaft an; erst ihm gelang es,
das lösende Wort des Rätsels zu sprechen. Erklärbar aus sich selbst
sollte, so dachte man vor ihm, nur die unorganische Natur sein; bei
der organischen höre das menschliche Erkenntnisvermögen auf. Man wird
die Größe der Tat, welche Goethe vollbracht hat, am besten
ermessen, wenn man bedenkt, daß der große Reformator der
neueren Philosophie Kant jenen alten Irrtum nicht nur
vollkommen teilte, sondern sogar eine wissenschaftliche Begründung
dafür zu finden suchte, daß es dem menschlichen Geiste
nie gelingen werde, die organischen Bildungen zu erklären. Wohl sah er
die Möglichkeit eines Verstandes ein - eines intellectus archetypus,
eines intuitiven Verstandes -, dem es gegeben wäre, den Zusammenhang
von Begriff und Wirklichkeit bei den organischen Wesen geradeso wie
bei den Anorganismen zu durchschauen; allein dem Menschen selbst
sprach er die Möglichkeit eines solchen Verstandes ab. Der menschliche
Verstand soll nämlich nach Kant die Eigenschaft haben, daß er
sich die Einheit, den Begriff einer Sache nur als hervorgehend aus der
Zusammenwirkung der Teile - als durch Abstraktion gewonnenes
analytisches Allgemeine - denken kann, nicht aber so, daß jeder
einzelne Teil als der Ausfluß einer bestimmten konkreten
(synthetischen) Einheit, eines Begriffes in intuitiver Form erschiene.
Daher sei es diesem Verstande auch unmöglich, die organische Natur zu
erklären, denn diese müßte ja aus dem Ganzen in die Teile
wirkend gedacht werden. Kant sagt darüber:
«Unser Verstand hat also das Eigene für die Urteilskraft, daß ihm Erkenntnis durch denselben, durch das Allgemeine, das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem nicht abgeleitet werden kann».66
Wir müßten danach also bei den organischen Bildungen darauf
verzichten, den notwendigen Zusammenhang der Idee des Ganzen, welche
nur gedacht werden kann mit dem, was unseren Sinnen im Raume und in
Zeit erscheint, zu erkennen. Wir müßten uns nach Kant darauf
beschränken, einzusehen, daß ein solcher Zusammenhang
existiert; die logische Forderung aber zu erkennen, wie der allgemeine
Gedanke, die Idee aus sich heraustritt und als sinnenfällige
Wirklichkeit sich offenbart, diese könne bei den Organismen nicht
erfüllt werden. Wir müßten vielmehr annehmen, daß sich
Begriff und Wirklichkeit hier unvermittelt gegenüberstünden und durch
einen außerhalb der beiden liegenden Einfluß etwa auf
dieselbe Weise zustande gebracht worden seien, wie der Mensch nach
einer von ihm aufgeworfenen Idee irgendein zusammengesetztes Ding, z.
B. eine Maschine aufbaut. Damit war die Möglichkeit einer Erklärung
der Organismenwelt geleugnet, ihre Unmöglichkeit sogar scheinbar
bewiesen.
So standen die Dinge, als Goethe sich daran machte, die organischen
Wissenschaften zu pflegen. Aber er ging an das Studium derselben,
nachdem er durch die wiederholte Lektüre des Philosophen Spinoza in
der angemessensten Weise darauf vorbereitet war.
Zum ersten Male machte sich Goethe an Spinoza im Frühjahre 1774.
Goethe sagt von dieser seiner ersten Bekanntschaft mit dem Philosophen in
«Dichtung und Wahrheit»67:
«Nachdem ich mich nämlich in
aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens
umgesehen hatte, geriet ich endlich an die <Ethik> dieses
Mannes». Im Sommer desselben Jahres traf Goethe mit Friedrich Jacobi
zusammen. Letzterer, der sich ausführlicher mit Spinoza
auseinandersetzte - wovon seine Briefe über die Lehre des Spinoza,
1785, zeugen -, war ganz dazu geeignet, Goethe tiefer in das Wesen des
Philosophen einzuführen. Spinoza wurde damals auch viel besprochen,
denn bei Goethe
«war noch alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung, gärend und siedend».68
Einige Zeit später
fand er in der Bibliothek seines Vaters ein Buch, dessen Autor gegen
Spinoza heftig kämpfte, ja ihn bis zur vollkommenen Fratze entstellte.
Dies wurde der Anlaß, daß sich Goethe mit dem tiefen
Denker noch einmal ernstlich beschäftigte. Er fand in seinen Schriften
Aufschlüsse über die tiefsten wissenschaftlichen Fragen, die er damals
aufzuwerfen fähig war. Im Jahre 1784 liest der Dichter Spinoza mit
Frau von Stein. Er schreibt am 19. November 1784 an die Freundin: «Ich
bringe den Spinoza lateinisch mit, wo alles viel deutlicher ... ist.»
[WA 6, 392] Die Wirkung dieses Philosophen auf Goethe war nun eine
ungeheure. Goethe selbst war sich darüber stets klar. Im Jahre 1816
schreibt er an Zelter: «Außer Shakespeare und Spinoza
wüßt' ich nicht, daß irgend ein Abgeschiedener eine
solche Wirkung auf mich getan (wie Linnè).» [WA 27, 219] Er betrachtet
also Shakespeare und Spinoza als die beiden Geister, welche auf
ihn den größten Einfluß ausgeübt haben. Wie nun sich
dieser Einfluß in bezug auf die Studien organischer Bildung
äußerte, das wird uns am deutlichsten, wenn wir uns ein Wort
über Lavater aus der «Italienischen Reise» vorhalten: Lavater vertrat
eben auch jene damals allgemein gangbare Ansicht, daß ein
Lebendiges nur durch einen nicht in der Natur der Wesen selbst
gelegenen Einfluß, durch eine Störung der allgemeinen
Naturgesetze entstehen könne. Darüber schrieb denn Goethe die Worte:
«Neulich fand ich in einer leidig apostolisch-kapuzinermäßigen Deklamation des Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles, was Leben hat, lebt durch etwas außer sich. Oder so ungefähr klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht beim Ärmel».69
Dies ist
nun ganz im Geiste Spinozas gesprochen. Spinoza unterscheidet drei
Arten von Erkenntnis. Die erste Art ist jene, bei der wir uns bei
gewissen gehörten oder gelesenen Worten der Dinge erinnern und uns von
diesen Dingen gewisse Vorstellungen bilden, ähnlich denen, durch
welche wir die Dinge bildlich vorstellen. Die zweite Art der
Erkenntnis ist jene, bei welcher wir uns aus zureichenden
Vorstellungen von den Eigenschaften der Dinge Gemeinbegriffe bilden.
Die dritte Art der Erkenntnis ist nun aber diejenige, bei welcher wir
von der zureichenden Vorstellung des wirklichen Wesens einiger
Attribute Gottes zur zureichenden Erkenntnis des Wesens der Dinge
fortschreiten. Diese Art der Erkenntnis nennt nun Spinoza scientia
intuitiva, das anschauende Wissen. Diese letztere, die höchste
Art der Erkenntnis, war es nun, die Goethe anstrebte. Man muß
sich dabei vor allem klar sein, was Spinoza damit sagen will: Die
Dinge sollen so erkannt werden, daß wir in ihrem Wesen einige
Attribute Gottes erkennen. Der Gott Spinozas ist der Ideengehalt der
Welt, das treibende, alles stützende und alles tragende Prinzip. Man
kann sich nun dieses entweder so vorstellen, daß man es als
selbständiges, für sich abgesondert von den endlichen Wesen
existierendes Wesen voraussetzt, welches diese endlichen Dinge neben
sich hat, sie beherrscht und in Wechselwirkung versetzt. Oder aber,
man stellt sich dieses Wesen als aufgegangen in den endlichen Dingen
vor, so daß es nicht mehr über und neben ihnen, sondern nur mehr
in ihnen existiert. Diese Ansicht leugnet jenes Urprinzip
keineswegs, sie erkennt es vollkommen an, nur betrachtet sie es als
ausgegossen in die Welt. Die erste Ansicht betrachtet die
endliche Welt als Offenbarung des Unendlichen, aber dieses Unendliche
bleibt in seinem Wesen erhalten, es vergibt sich nichts. Es geht nicht
aus sich heraus, es bleibt, was es vor seiner Offenbarung war. Die
zweite Ansicht sieht die endliche Welt ebenso als eine Offenbarung des
Unendlichen an, nur nimmt sie an, daß dieses Unendliche in
seinem Offenbarwerden ganz aus sich herausgegangen ist, sich selbst,
sein eigenes Wesen und Leben in seine Schöpfung gelegt hat, so
daß es nur mehr in dieser existiert. Da nun Erkennen
offenbar ein Gewahrwerden des Wesens der Dinge ist, dieses Wesen doch
aber nur in dem Anteile, den ein endliches Wesen von dem Urprinzipe
aller Dinge hat, bestehen kann, so heißt Erkennen ein
Gewahrwerden jenes
Unendlichen in den Dingen.70
Nun nahm
man, wie wir oben ausgeführt haben, vor Goethe bei der unorganischen
Natur wohl an, daß man sie aus sich selbst erklären könne,
daß sie ihre Begründung und ihr Wesen in sich trage, nicht so
aber bei der organischen. Hier konnte man jenes Wesen, welches sich in
dem Objekte offenbart, nicht in dem letzteren selbst erkennen. Man
nahm es daher außerhalb desselben an. Kurz: Man erklärte die
organische Natur nach der ersten Ansicht, die anorganische nach der
zweiten. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Erkenntnis hatte, wie
wir gesehen haben, Spinoza bewiesen. Er war zu sehr Philosoph, als
daß er diese theoretische Forderung auch auf die speziellen
Zweige der Organik hätte ausdehnen können.* Dies blieb nun Goethe
vorbehalten. Nicht nur der obige Ausspruch, sondern noch zahlreiche
andere beweisen uns, daß er sich entschieden zur spinozistischen
Auffassung bekannte. In
«Dichtung und Wahrheit»71:
«Die
Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen,
daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte. » Und in
bezug auf das 1811 erschienene Buch Jacobis: «Von den göttlichen
Dingen und ihrer Offenbarung»
bemerkt Goethe72:
«Wie konnte
mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein,
worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge
Gott. Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angeborenen und geübten
Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu
sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese
Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte, mußte
nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem
Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte,
für ewig entfernen?» Goethe war sich des großen Schrittes, den
er in der Wissenschaft vollführt, vollständig bewußt; er
erkannte, daß er, indem er die Schranken zwischen anorganischer
und organischer Natur brach und Spinozas Denkweise konsequent
durchführte, eine bedeutsame Wendung der Wissenschaft herbeiführe. Wir
finden diese Erkenntnis in dem Aufsatz «Anschauende Urteilskraft»
ausgesprochen. Nachdem er die oben von uns mitgeteilte Kantsche
Begründung der Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, einen
Organismus zu erklären, in der «Kritik der Urteilskraft» gefunden,
spricht er sich dagegen so aus: «Zwar scheint der Verfasser (Kant)
hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im
Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in
eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen, so
dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir
uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen
Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst
unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische
rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße
Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter
verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom
Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.» [Natw. Schr., 1. Bd. S.
116.]
Das Wesentliche eines Vorganges der unorganischen Natur oder anders
gesagt: eines der bloßen Sinnenwelt angehörigen Vorganges
besteht darin, daß er durch einen anderen ebenfalls nur der
Sinnenwelt angehörigen Prozeß bewirkt und determiniert wird.
Nehmen wir nun an, der verursachende Prozeß bestehe aus den
Elementen m, c und r73,
der bewirkte aus m', c' und r'; so
ist immer bei bestimmten m, c, und r, m', c' und r' eben durch jene
bestimmt. Will ich nun den Vorgang begreifen, so muß ich den
Gesamtvorgang, der sich aus der Ursache und Wirkung zusammensetzt, in
einem gemeinsamen Begriffe darstellen. Dieser Begriff ist nun aber
nicht derart, daß er im Vorgange selbst liegen und daß er
den Vorgang bestimmen könnte. Er faßt nun beide Vorgänge in
einen gemeinsamen Ausdruck zusammen. Er bewirkt und bestimmt nicht.
Nur die Objekte der Sinnenwelt bestimmen sich. Die Elemente m, c und r
sind auch für die äußeren Sinne wahrnehmbare Elemente. Der
Begriff erscheint nur da, um dem Geiste als Mittel der Zusammenfassung
zu dienen, er drückt etwas aus, was nicht ideell, nicht
begrifflich, was sinnenfällig wirklich ist. Und jenes etwas, was er
ausdrückt, dies ist sinnenfälliges Objekt. Auf der Möglichkeit, die
Außenwelt durch die Sinne aufzufassen und ihre Wechselwirkung
durch Begriffe auszudrücken, beruht die Erkenntnis der anorganischen
Natur. Die Möglichkeit, auf diese Art Dinge zu erkennen, sah
Kant für die einzige dem Menschen zukommende an. Dieses Denken nannte
er diskursives; was wir erkennen wollen, ist äußere
Anschauung; der Begriff, die zusammenfassende Einheit, bloßes
Mittel. Wollten wir aber die organische Natur erkennen, so
müßten wir das ideelle Moment, das Begriffliche nicht als ein
solches fassen, das ein anderes ausdrückt, bedeutet, von diesem sich
seinen Inhalt borgt, sondern wir müßten das Ideelle als
solches erkennen; es müßte einen eigenen aus sich selbst,
nicht aus der räumlich-zeitlichen Sinnenwelt stammenden Inhalt haben.
Jene Einheit, welche dort unser Geist bloß abstrahiert,
müßte sich auf sich selbst bauen, sie müßte sich aus
sich heraus gestalten, sie müßte ihrem eigenen Wesen
gemäß, nicht nach den Einflüssen anderer Objekte gebildet sein.
Die Erfassung einer solchen aus sich selbst sich gestaltenden, sich
aus eigener Kraft offenbarenden Entität sollte dem Menschen versagt
sein. Was ist nun zu einer solchen Erfassung nötig? Eine Urteilskraft,
welche einem Gedanken auch einen anderen als bloß einen durch
die äußeren Sinne aufgenommenen Stoff verleihen kann, eine
solche, welche nicht bloß Sinnenfälliges erfassen kann, sondern
auch rein Ideelles für sich, abgesondert von der sinnlichen Welt. Man
kann nun einen Begriff, der nicht durch Abstraktion aus der Sinnenwelt
genommen ist, sondern der einen aus ihm und nur aus ihm
fließenden Gehalt hat, einen intuitiven Begriff und die
Erkenntnis desselben eine intuitive nennen. Was daraus folgt, ist
klar: Ein Organismus kann nur im intuitiven Begriffe
erfaßt werden. Daß es dem Menschen gegönnt sei, so zu
erkennen, das zeigt Goethe durch die Tat.*
In der unorganischen Welt herrscht Wechselwirkung der Teile einer
Erscheinungsreihe, gegenseitiges Bedingtsein der Glieder derselben
durcheinander. In der organischen ist dies nicht der Fall. Hier
bestimmt nicht ein Glied eines Wesens das andere, sondern das Ganze
(die Idee) bedingt jedes Einzelne aus sich selbst, seinem eigenen
Wesen gemäß. Dieses sich aus sich selbst Bestimmende kann man
mit Goethe eine Entelechie nennen. Entelechie ist also die sich
aus sich selbst in das Dasein rufende Kraft. Was in die Erscheinung
tritt, hat auch sinnenfälliges Dasein, aber dies ist durch jenes
entelechische Prinzip bestimmt. Daraus entspringt auch der scheinbare
Widerspruch. Der Organismus bestimmt sich aus sich selbst, macht seine
Eigenschaften einem vorausgesetzten Prinzipe gemäß, und doch ist
er sinnlichwirklich. Er ist also auf eine ganz andere Weise zu seiner
sinnlichen Wirklichkeit gekommen als die andern Objekte der
Sinnenwelt; er scheint daher auf nicht natürlichem Wege entstanden zu
sein. Nun ist es aber auch ganz erklärlich, daß der Organismus
in seiner Äußerlichkeit ebenso den Einflüssen der Sinnenwelt
ausgesetzt ist, wie jeder andere Körper. Der vom Dache fallende Stein
kann ebenso ein lebendes Wesen, wie einen unorganischen Körper
treffen. Durch Aufnahme von Nahrung usw. ist der Organismus mit der
Außenwelt im Zusammenhange; alle physischen Verhältnisse der
Außenwelt wirken auf ihn ein. Natürlich kann dies auch nur
insoferne stattfinden, als der Organismus Objekt der Sinnenwelt,
räumlich-zeitliches Objekt ist. Dieses Objekt der Außenwelt nun,
das zum Dasein gekommene entelechische Prinzip, ist die äußere
Erscheinung des Organismus. Da er hier aber nicht nur seinen eigenen
Bildungsgesetzen, sondern auch den Bedingungen der Außenwelt
unterworfen ist, nicht nur so ist, wie er dem Wesen des sich aus sich
selbst bestimmenden entelechischen Prinzipes gemäß sein sollte,
sondern so, wie er von anderem abhängig, beeinflußt ist, so
erscheint er gleichsam sich selbst nie ganz angemessen, nie bloß
seiner eigenen Wesenheit gehorchend. Da tritt nun die menschliche
Vernunft ein und bildet sich in der Idee einen Organismus, der
nicht den Einflüssen der Außenwelt gemäß, sondern nur
jenem Prinzipe entsprechend ist. Jeder zufällige Einfluß, der
mit dem Organischen als solchem nichts zu tun hat, fällt dabei
ganz weg. Diese rein dem Organischen im Organismus entsprechende Idee
ist nun die Idee des Urorganismus, der Typus Goethes. Hieraus
sieht man auch die hohe Berechtigung dieser Typusidee ein. Sie ist
nicht ein bloßer Verstandesbegriff, sie ist dasjenige,
was in jedem Organismus das wahrhaft Organische ist, ohne welches
derselbe nicht Organismus wäre. Sie ist sogar reeller als jeder
einzelne wirkliche Organismus, weil sie sich in jedem
Organismus offenbart. Sie drückt auch das Wesen eines Organismus
voller, reiner aus als jeder einzelne, besondere
Organismus. Sie ist auf wesentlich andere Weise gewonnen als der
Begriff eines unorganischen Vorganges. Jener ist abgezogen,
abstrahiert aus der Wirklichkeit, er ist nicht in letzterer wirksam;
die Idee des Organismus aber ist als Entelechie im Organismus tätig,
wirksam; sie ist in der von unserer Vernunft erfaßten Form nur
die Wesenheit der Entelechie selbst. Sie faßt die Erfahrung
nicht zusammen; sie bewirkt das zu Erfahrende. Goethe drückt
dies mit den Worten aus: «Begriff ist Summe, Idee Resultat
der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen,
Vernunft erfordert.» (Sprüche in Prosa [Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
S. 379]) Damit ist jene Art der Realität, die dem Goetheschen
Urorganismus (Urpflanze oder Urtier) zukommt, erklärt. Diese
Goethesche Methode ist offenbar die einzig mögliche, um in das Wesen
der Organismenwelt einzudringen.
Beim Unorganischen ist es als wesentlich zu betrachten, daß die
Erscheinung in ihrer Mannigfaltigkeit mit der sie erklärenden
Gesetzlichkeit nicht identisch ist, sondern auf letztere, als auf ein
ihr Äußeres, bloß hinweist. Die Anschauung - das
materielle Element der Erkenntnis - die uns durch die äußeren
Sinne gegeben ist, und der Begriff - das formelle - durch den wir die
Anschauung als notwendig erkennen, stehen einander gegenüber als zwei
einander zwar objektiv fordernde Elemente, aber so daß der
Begriff nicht in den einzelnen Gliedern einer Erscheinungsreihe selbst
liegt, sondern in einem Verhältnisse derselben zueinander. Dieses
Verhältnis, welches die Mannigfaltigkeit in ein einheitliches Ganze
zusammenfaßt, ist in den einzelnen Teilen des Gegebenen
begründet, aber als Ganzes (als Einheit) kommt es nicht zur
realen, konkreten Erscheinung. Zur äußeren Existenz - im Objekte
- kommen nur die Glieder dieses Verhältnisses. Die Einheit, der
Begriff kommt als solcher erst in unserem Verstande zur
Erscheinung. Es kommt ihm die Aufgabe zu, das Mannigfaltige der
Erscheinung zusammenzufassen, er verhält sich zu dem letzteren als
Summe. Wir haben es hier mit einer Zweiheit zu tun, mit der
mannigfaltigen Sache, die wir anschauen, und mit der Einheit,
die wir denken. In der organischen Natur stehen die Teile des
Mannigfaltigen eines Wesens nicht in einem solchen äußerlichen
Verhältnisse zueinander. Die Einheit kommt mit der Mannigfaltigkeit
zugleich, als mit ihr identisch in dem Angeschauten zur Realität. Das
Verhältnis der einzelnen Glieder eines Erscheinungsganzen (Organismus)
ist ein reales geworden. Es kommt nicht mehr bloß in unserem
Verstande zur konkreten Erscheinung, sondern im Objekte selbst, in
welch letzterem es die Mannigfaltigkeit aus sich selbst hervorbringt.
Der Begriff hat nicht bloß die Rolle einer Summe, eines
Zusammenfassenden, welches sein Objekt außer sich hat; er
ist mit demselben vollkommen eins geworden. Was wir anschauen,
ist nicht mehr verschieden von dem, wodurch wir das Angeschaute
denken; wir schauen den Begriff als Idee selbst an. Daher nennt Goethe
das Vermögen, wodurch wir die organische Natur begreifen,
anschauende Urteilskraft. Das Erklärende - das Formelle der
Erkenntnis, der Begriff - und das Erklärte -das Materielle, die
Anschauung - sind identisch. Die Idee, durch welche wir das Organische
erfassen, ist somit wesentlich verschieden von dem Begriffe, durch den
wir das Unorganische erklären; sie faßt ein gegebenes
Mannigfaltige nicht bloß - wie eine Summe - zusammen, sondern
setzt ihren eigenen Inhalt aus sich heraus. Sie ist Resultat
des Gegebenen (der Erfahrung), konkrete Erscheinung. Hierin liegt
der Grund, warum wir in der unorganischen Naturwissenschaft von
Gesetzen (Naturgesetzen) sprechen und die Tatsachen durch sie
erklären, in der organischen. Natur dies dagegen durch Typen
tun. Das Gesetz ist mit der Mannigfaltigkeit der
Anschauung, die es beherrscht, nicht ein und dasselbe, es steht über
ihr; im Typus aber ist Ideelles und Reales zur Einheit geworden, das
Mannigfaltige kann nur als ausgehend von einem Punkte des mit ihm
identischen Ganzen erklärt werden.
In der Erkenntnis dieses Verhältnisses zwischen der Wissenschaft des
Unorganischen und jener des Organischen liegt das Bedeutsame
Goethescher Forschung. Man irrt daher, wenn man heute vielfach die
letztere für eine Vorausnahme jenes Monismus erklärt, welcher eine das
Organische wie das Unorganische umfassende einheitliche
Naturanschauung dadurch begründen will, daß er das erstere auf
dieselben Gesetze - die mechanisch-physikalischen Kategorien und
Naturgesetze - zurückzuführen bestrebt ist, von denen das letztere
bedingt wird. Wie Goethe sich eine monistische Anschauung denkt, haben
wir gesehen. Die Art, wie er das Organische erklärt, ist wesentlich
verschieden von der, wie er beim Unorganischen vorgeht. Er will die
mechanische Erklärungsweise streng abgelehnt wissen bei dem, was
höherer Art ist (siehe «Sprüche in Prosa» [Natw. Schr., 4. Bd., 2.
Abt., S. 413]). Er tadelt an Kieser und Link, daß sie die
organischen Erscheinungen auf unorganische Wirkungsweisen zurückführen
wollen. (Ebenda 1. Bd., S. 198 u. 206.)
Die Veranlassung zu der angedeuteten irrtümlichen Ansicht über Goethe
hat das Verhältnis gegeben, in das er sich zu Kant in bezug auf die
Möglichkeit einer Erkenntnis der organischen Natur gesetzt hat. Wenn
aber Kant behauptet, daß unser Verstand die organische Natur
nicht zu erklären vermag, so meint er damit gewiß nicht,
daß sie auf mechanischer Gesetzlichkeit beruhe, und er sie nur
als eine Folge mechanisch-physikalischer Kategorien nicht fassen kann.
Der Grund von diesem Unvermögen liegt nach Kant vielmehr gerade darin,
daß unser Verstand bloß Mechanisch-Physikalisches erklären
könne und das Wesen des Organismus nicht dieser Natur ist. Wäre
es dieses, so könnte der Verstand vermöge der ihm zu Gebote stehenden
Kategorien es sehr wohl begreifen. Goethe denkt nun nicht etwa daran,
die organische Welt trotz Kant als Mechanismus zu erklären;
sondern er behauptet, daß uns das Vermögen keineswegs abgehe,
die höhere Art der Naturwirksamkeit, welche das Wesen des Organischen
begründet, zu erkennen.
Indem wir das vorhin Gesagte erwägen, tritt uns sogleich ein
wesentlicher Unterschied zwischen anorganischer und organischer Natur
entgegen. Weil dort jeder beliebige Prozeß einen anderen
bewirken kann, dieser wieder einen anderen usf., so erscheint die
Reihe der Vorgänge nirgends als eine geschlossene. Alles ist in steter
Wechselwirkung, ohne daß sich eine gewisse Gruppe von Objekten
der Einwirkung anderer gegenüber abzuschließen vermöchte. Die
anorganischen Wirkungsreihen haben nirgends Anfang und Ende; das
folgende steht mit dem vorhergehenden nur in einem zufälligen
Zusammenhange. Fällt ein Stein zur Erde, so hängt es von der
zufälligen Form des Objektes, auf welches er fällt, ab, welche Wirkung
er ausübt. Anders nun ist die Sache in einem Organismus. Hier ist die
Einheit das erste. Die auf sich gebaute Entelechie enthält eine Anzahl
sinnlicher Gestaltungsformen, von denen eine die erste, eine andere
die letzte sein muß; bei denen nur immer in ganz bestimmter
Weise die eine auf die andere folgen kann, Die ideelle Einheit setzt
aus sich heraus eine Reihe sinnenfälliger Organe in zeitlicher
Aufeinanderfolge und in räumlichem Nebeneinandersein und
schließt sich in ganz bestimmter Weise von der übrigen Natur ab.
Sie setzt ihre Zustände aus sich heraus. Daher sind sie auch nur in
der Weise zu begreifen, daß man das aus einer ideellen Einheit
hervorgehende Gestalten aufeinanderfolgender Zustände verfolgt, d.
h. ein organisches Wesen ist nur in seinem Werden, in seiner
Entwicklung zu verstehen. Der unorganische Körper ist
abgeschlossen, starr, nur von außen zu erregen, innen
unbeweglich. Der Organismus ist die Unruhe in sich selbst, vom Innern
heraus stets sich umbildend, verwandelnd, Metamorphosen bildend.
Darauf beziehen sich folgende Aussprüche Goethes: «Die Vernunft ist
auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene
bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? -Sie erfreut
sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten, damit er es
nutzen könne» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S.
373) und «Die Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft; die
entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot.» [Ebenda
S.373]
Der Organismus tritt uns in der Natur in zwei Hauptformen entgegen:
als Pflanze und als Tier; in beiden auf verschiedene Weise. Die
Pflanze unterscheidet sich vom Tiere durch den Mangel eines realen
Innenlebens. Beim Tiere tritt das letztere als Empfindung,
willkürliche Bewegung usw. auf. Die Pflanze hat ein solches seelisches
Prinzip nicht. Sie geht noch ganz in ihrer Äußerlichkeit, in der
Gestalt auf. Indem jenes entelechische Prinzip gleichsam von
einem Punkte aus das Leben bestimmt, tritt es uns in der Pflanze in
der Weise entgegen, daß alle einzelnen Organe nach demselben
Gestaltungsprinzipe gebildet sind. Die Entelechie erscheint hier als
Gestaltungskraft der einzelnen Organe. Letztere sind alle nach einem
und demselben Bildungstypus gebaut, sie erscheinen als Modifikationen
eines Grundorganes, als Wiederholung desselben auf
verschiedenen Entwicklungsstufen. Das, was die Pflanze zur Pflanze
macht, eine gewisse formbildende Kraft, ist in jedem Organe auf
gleiche Weise wirksam. Jedes Organ erscheint so als identisch
mit allen anderen und auch mit der ganzen Pflanze. Goethe drückt
dies so aus:
«Es ist mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf.»74
Die Pflanze erscheint so gleichsam aus
lauter einzelnen Pflanzen zusammengesetzt, als ein komplizierteres
Individuum, das wieder aus einfacheren besteht. Die Bildung der
Pflanze schreitet also von Stufe zu Stufe vor und bildet Organe; jedes
Organ ist mit jedem andern identisch, d. h. dem Bildungsprinzipe nach
gleich, der Erscheinung nach verschieden. Die innere Einheit dehnt
sich bei der Pflanze gleichsam in die Breite, sie lebt sich in der
Mannigfaltigkeit aus, verliert sich in derselben, so daß sie
nicht, wie wir dies später am Tiere sehen werden, ein mit einer
gewissen Selbständigkeit ausgestattetes konkretes Dasein gewinnt,
welches als Lebenszentrum der Mannigfaltigkeit der Organe
gegenübertritt und sie als Vermittler mit der Außenwelt
gebraucht.
Es entsteht nun die Frage: Wodurch wird jene Verschiedenheit in der
Erscheinung der dem inneren Prinzipe nach identischen Pflanzenorgane
herbeigeführt? Wie ist es den Bildungsgesetzen, die alle nach einem
Gestaltungsprinzipe wirken, möglich, das eine Mal ein Laubblatt,
das andere Mal ein Kelchblatt hervorzubringen? Die Verschiedenheit
kann bei dem ganz in der Äußerlichkeit liegenden Leben der
Pflanze auch nur auf äußerlichen, d. h. räumlichen Momenten
beruhen. Als solche sieht Goethe nun eine abwechselnde Ausdehnung und
Zusammenziehung an. Indem das entelechische, aus einem Punkte wirkende
Prinzip des Pflanzenlebens ins Dasein tritt, manifestiert es sich als
räumlich, die Bildungskräfte wirken im Raume. Sie erzeugen Organe von
bestimmter räumlicher Form. Nun konzentrieren sich diese Kräfte
entweder, sie streben gleichsam in einen einzigen Punkt zusammen; und
dies ist das Stadium der Zusammenziehung, oder sie breiten sich aus,
entfalten sich, sie trachten sich gewissermaßen voneinander zu
entfernen: dies ist das Stadium der Ausdehnung. Im ganzen Leben der
Pflanze wechseln drei Ausdehnungen mit drei Zusammenziehungen. Alles,
was in die dem Wesen nach identischen Bildungskräfte der Pflanze
Verschiedenes hineinkommt, rührt von dieser wechselnden Ausdehnung und
Zusammenziehung her. Zuerst ruht die ganze Pflanze der Möglichkeit
nach auf einen Punkt zusammengezogen im Samen (a).
Daraus tritt sie nun hervor und entfaltet sich, dehnt sich aus
in der Blattbildung (c). Die Bildungskräfte stoßen sich
immer mehr ab, daher erscheinen die unteren Blätter noch roh, kompakt
(cc'); je weiter aufwärts, desto gerippter, gezackter werden sie. Was
sich vorher noch aneinanderdrängte, tritt jetzt auseinander (Blatt d
und e). Was früher in aufeinanderfolgenden Zwischenräumen (zz') stand,
das tritt in der Keichbildung (f) wieder
an einem Punkte des Stengels auf (w). Die letztere bildet die zweite
Zusammenziehung. In der Blumenkrone tritt neuerdings eine Entfaltung,
Ausbreitung ein. Die Blumenblätter (g) sind im Vergleiche zu
den Kelchblättern feiner, zarter; was nur von einer geringeren
Intensität auf einem Punkte, also von einer größeren Extension
der Bildungskräfte herrühren kann. In den Geschlechtsorganen
[Staubgefäßen (h) und Stempel (i)] tritt die nächste
Zusammenziehung ein, worauf in der Fruchtbildung (k) eine neue
Ausdehnung stattfindet. In dem aus der Frucht hervorgehenden Samen (a)
erscheint wieder das ganze Wesen der Pflanze auf einen
Punkt zusammengedrängt.75
Die ganze Pflanze stellt nur eine Entfaltung, eine Realisation des in
der Knospe oder im Samen der Möglichkeit nach Ruhendem dar. Knospe und
Same brauchen nur die geeigneten äußeren Einflüsse, um zu
vollkommenen Pflanzenbildungen zu werden. Der Unterschied zwischen
Knospe und Same ist nur dieser, daß der letztere unmittelbar die
Erde zum Boden seiner Entfaltung hat, während die erstere im
allgemeinen eine Pflanzenbildung auf einer Pflanze selbst darstellt.
Der Same stellt ein Pflanzenindividuum höherer Art dar, oder, wenn man
will, einen ganzen Kreis von Pflanzengebilden. Die Pflanze beginnt
gleichsam mit jeder Knospenbildung ein neues Stadium ihres Lebens, sie
regeneriert sich, sie konzentriert ihre Kräfte, um sie von neuem
wieder zu entfalten. Die Knospenbildung ist also zugleich eine
Unterbrechung der Vegetation. Das Pflanzenleben kann sich zur Knospe
zusammenziehen, wenn die Bedingungen eigentlichen realen Lebens
mangeln, um sich bei Eintritt derselben neuerdings zu entfalten. Die
Unterbrechung der Vegetation im Winter beruht darauf.
Goethe sagt darüber76:
«Es ist gar interessant, zu bemerken, wie eine
lebhaft fortgesetzte und durch starke Kälte nicht unterbrochene
Vegetation wirkt; hier gibt's keine Knospen, und man lernt erst
begreifen, was eine Knospe sei.» Was also bei uns in der Knospe
verborgen ruht, ist dort offen am Tage; es ist also wahres
Pflanzenleben, was in der letzteren liegt; nur fehlen die Bedingungen
seiner Entfaltung.
Man hat sich nun ganz besonders gegen den Begriff abwechselnder
Ausdehnung und Zusammenziehung bei Goethe gewendet, Alle Angriffe
darauf aber gehen von einem Mißverständnisse aus. Man glaubt,
daß diese Begriffe nur dann Gültigkeit haben könnten, wenn sich
eine physikalische Ursache für sie finden ließe, wenn man eine
Wirkungsweise der in der Pflanze wirkenden Gesetze nachweisen könnte,
aus welcher ein solches Ausdehnen und Zusammenziehen folge. Dies zeigt
nur, daß man die Sache auf die Spitze statt auf die Basis
stellt. Es ist nichts vorauszusetzen, was die Ausdehnung oder
Zusammenziehung bewirkt; im Gegenteile: alles andere ist Folge der
ersteren, sie bewirken eine fortschreitende Metamorphose von Stufe zu
Stufe. Man kann sich eben den Begriff nicht in seiner selbsteigenen,
in seiner intuitiven Form vorstellen; man verlangt, daß er das
Resultat eines äußeren Vorganges darstellen soll. Man kann sich
Ausdehnung und Zusammenziehung nur als bewirkt, nicht als bewirkend
denken. Goethe sieht Ausdehnung und Zusammenziehung nicht so
an, als ob sie aus der Natur der an der Pflanze vor sich gehenden
unorganischen Prozesse folgen würden, sondern er betrachtet sie als
die Art, wie sich jenes innere entelechische Prinzip gestaltet. Er
konnte sie also nicht als Summe, als Zusammenfassung sinnenfälliger
Vorgänge ansehen und aus solchen deduzieren, sondern er mußte
sie als eine Folge des Innern einheitlichen Prinzips selbst ableiten.
Das Pflanzenleben wird unterhalten durch den Stoffwechsel. In bezug
auf diesen tritt eine wesentliche Verschiedenheit zwischen jenen
Organen ein, welche näher der Wurzel sind, d. h. dem Organe, das die
Nahrungsaufnahme aus der Erde besorgt, und jenen, welche den bereits
durch andere Organe hindurchgegangenen Nahrungsstoff bekommen. Erstere
erscheinen unmittelbar von ihrer äußeren anorganischen Umgebung
abhängig, diese dagegen von den ihnen vorhergehenden organischen
Teilen. Jedes folgende Organ erhält daher eine gleichsam für sich,
durch das vorhergehende zubereitete Nahrung. Die Natur schreitet vom
Samen zur Frucht in einer Stufenfolge fort, so daß das
Nachfolgende als Resultat des Vorangehenden erscheint. Und dieses
Fortschreiten nennt Goethe ein Fortschreiten auf einer geistigen
Leiter. Nichts weiter als das von uns Angedeutete liegt in seinen
Worten, «daß ein oberer Knoten, indem- er aus dem vorhergehenden
entsteht und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, solche feiner und
filtrierter erhalten, auch von der inzwischen geschehenen Einwirkung
der Blätter genießen, sich selbst feiner ausbilden und seinen
Blättern und Augen feinere Säfte zubringen müsse». Alle diese Dinge
werden verständlich, wenn man ihnen den von Goethe gemeinten Sinn
beilegt.
Die hier dargelegten Ideen sind die im Wesen der Urpflanze gelegenen
Elemente und zwar in der bloß dieser selbst angemessenen Weise,
nicht so, wie sie in einer bestimmten Pflanze zur Erscheinung kommen,
wo sie nicht mehr ursprünglich, sondern den äußeren
Verhältnissen angemessen sind.
Beim Tierleben tritt nun freilich etwas anderes ein. Das Leben
verliert sich hier nicht in der Äußerlichkeit, sondern es
separiert sich, sondert sich von der Körperlichkeit ab und gebraucht
die körperliche Erscheinung nur noch als sein Werkzeug. Es
äußert sich nicht mehr als bloßes Vermögen, einen
Organismus von innen heraus zu gestalten, sondern es äußert sich
in einem Organismus als etwas, was noch außer dem Organismus,
als dessen beherrschende Macht, da ist. Das Tier erscheint als eine in
sich beschlossene Welt, ein Mikrokosmos in viel höherem Sinne als die
Pflanze. Es hat ein Zentrum dem jedes Organ dient.
«So ist jeglicher Mund geschickt die Speise zu fassen,
Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und zahnlos Oder
mächtig der Kiefer gezähnt; in jeglichem Falle
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung. Auch
bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem
Bedürfnis.»77
Bei der Pflanze ist in jedem Organ die ganze Pflanze, aber das
Lebensprinzip existiert nirgends als ein bestimmtes Zentrum, die
Identität der Organe liegt in der Gestaltung nach denselben Gesetzen.
Beim Tiere erscheint jedes Organ als aus jenem Zentrum kommend, das
Zentrum bildet seinem Wesen gemäß alle Organe. Die Gestalt des
Tieres ist also die Grundlage für sein äußerliches Dasein. Sie
ist aber von innen bestimmt. Die Lebensweise muß sich also nach
jenen inneren Gestaltungsprinzipien richten. Andrerseits ist die
innere Bildung in sich unumschränkt, frei; sie, kann sich den
äußeren Einflüssen innerhalb gewisser Grenzen fügen; doch ist
diese Bildung eine durch die innere Natur des Typus und nicht durch
mechanische Einwirkungen von außen bestimmte. Die Anpassung kann
also nicht so weit gehen, daß sie den Organismus nur als ein
Produkt der Außenwelt erscheinen ließe. Seine Bildung ist
eine in Grenzen eingeschränkte.
«Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie;
Denn nur also beschränkt war je das
Vollkommene möglich.»78
Wäre jedes tierische Wesen nur den im Urtier liegenden Prinzipien
gemäß, so wären sie alle gleich. Nun aber gliedert sich der
tierische Organismus in eine Menge von Organsystemen, die jedes bis zu
einem bestimmten Grad der Ausbildung kommen können. Dieses begründet
nun eine verschiedenartige Entwicklung. Der Idee nach gleichberechtigt
mit allen andern, kann sich doch ein System besonders in den
Vordergrund drängen, kann den im tierischen Organismus liegenden
Vorrat von Bildungskräften auf sich verwenden und ihn den anderen
Organen entziehen. Das Tier erscheint so nach der Richtung jenes
Organsystems hin besonders ausgebildet. Ein anderes Tier erscheint
nach einer anderen Richtung gebildet. Hierin liegt die Möglichkeit der
Differenzierung des Urorganismus bei seinem Übergange in die
Erscheinung in Gattungen und Arten.
Die wirklichen (tatsächlichen) Ursachen der Differenzierung sind damit
aber noch nicht gegeben. Hier treten in ihre Rechte: die Anpassung,
welcher zufolge der Organismus den ihn umgebenden äußeren
Verhältnissen gemäß gestaltet, und der Kampf ums Dasein,
der darauf hinarbeitet, daß nur die den obwaltenden
Umständen am besten angepaßten Wesen sich erhalten. Anpassung
und Kampf ums Dasein könnten aber am Organismus gar nichts bewirken,
wenn das den Organismus konstituierende Prinzip nicht ein solches
wäre, das bei stets aufrecht erhaltener innerer Einheit die
mannigfaltigsten Formen annehmen kann. Der Zusammenhang der
äußeren Bildungskräfte mit diesem Prinzipe ist keineswegs so
aufzufassen, als wenn die ersteren auf die letzteren etwa in der Art
bestimmend einwirkten, wie ein unorganisches Wesen auf ein anderes.
Die äußeren Verhältnisse sind zwar die Veranlassung,
daß sich der Typus in einer bestimmten Form ausbildet;
diese Form selbst aber ist nicht aus den äußeren Bedingungen,
sondern aus dem inneren Prinzipe herzuleiten. Man wird bei dieser
Erklärung die ersteren immer aufzusuchen haben, die Gestalt selbst
aber hat man nicht als ihre Folge zu betrachten. Das Ableiten
von Gestaltungsformen eines Organismus aus der umgebenden
Außenwelt durch bloße Kausalität würde Goethe geradeso
verworfen haben, wie er es mit dem teleologischen Prinzip getan hat,
wonach die Form eines Organes auf einen äußeren Zweck, dem es zu
dienen hätte, zurückgeführt wurde.
Bei denjenigen Organsystemen des Tieres, bei denen es mehr auf die
Äußerlichkeit des Baues ankommt, z. B. bei den Knochen, da tritt
auch jenes bei den Pflanzen beobachtete Gesetz wieder hervor, wie bei
der Bildung der Schädelknochen. Die Gabe Goethes, die innere
Gesetzmäßigkeit in rein äußerlichen Formen zu erkennen,
tritt hier ganz besonders hervor.
Der Unterschied, der mit diesen Anschauungen Goethes zwischen Pflanze
und Tier festgestellt wird, könnte belanglos erscheinen angesichts
dessen, daß die neuere Wissenschaft Gründe zu berechtigten
Zweifeln an einer festen Grenze zwischen Pflanze und Tier hat. Der
Unmöglichkeit der Aufstellung einer solchen Grenze war sich aber
Goethe schon bewußt (siehe Natw. Schr., 1. Bd., S. 11). Dennoch
gibt es bestimmte Definitionen von Pflanze und Tier. Das hängt mit
seiner ganzen Naturanschauung zusammen. Er nimmt in der Erscheinung
überhaupt kein Konstantes, Festes an; denn in letzterer
schwankt alles in steter Bewegung. Das im Begriffe festzuhaltende
Wesen einer Sache ist aber nicht schwankenden Formen zu
entnehmen, sondern gewissen mittleren Stufen, auf denen es sich
beobachten läßt (siehe a. a. 0., S. 8). Es ist für Goethes
Anschauung ganz natürlich, daß man bestimmte Definitionen
aufstellt und diese trotzdem in der Erfahrung von gewissen
Übergangsgebilden nicht festgehalten werden. Ja er sieht gerade darin
das bewegliche Leben der Natur.
Mit diesen Ideen hat Goethe die theoretische Grundlage für die
organische Wissenschaft begründet. Er hat das Wesen des Organismus
gefunden. Man kann dieses leicht verkennen, wenn man verlangt,
daß der Typus, jenes sich aus sich heraus gestaltete Prinzip
(Entelechie), selbst durch etwas anderes erklärt werden solle. Aber
dies ist eine unbegründete Forderung, weil der Typus, in intuitiver
Form festgehalten, sich selbst erklärt. Für jeden, der jenes
«Sich--nach-sich-selbst-Formen» des entelechischen Prinzipes
erfaßt hat, bildet dieses die Lösung des Lebensrätsels. Eine
andere Lösung ist unmöglich, weil jene das Wesen der Sache selbst ist.
Wenn der Darwinismus einen Urorganismus voraussetzen muß, so
kann man von Goethe sagen, daß er das Wesen jenes
Urorganismus entdeckt hat.79
Goethe ist es, welcher mit dem bloßen
Nebeneinanderreihen der Gattungen und Arten brach und eine
Regeneration der organischen Wissenschaft dem Wesen des Organismus
gemäß vornahm. Während die Vor-Goethesche Systematik ebenso
viele verschiedene Begriffe (Ideen) brauchte, als äußerlich
verschiedene Gattungen existieren, zwischen denen sich keine
Vermittlung fand, erklärte Goethe, daß der Idee nach alle
Organismen gleich, nur der Erscheinung nach verschieden sind; und er
erklärte, warum sie es sind. Damit war die philosophische Grundlage
für ein wissenschaftliches System der Organismen geschaffen. Es
handelte sich nur noch um die Ausführung desselben. Es müßte
gezeigt werden, wie alle realen Organismen nur Offenbarungen einer
Idee seien und wie sie sich in einem bestimmten Falle
offenbaren.
Die große Tat, welche damit in der Wissenschaft getan war, wurde
auch mannigfach von tiefer gebildeten Gelehrten anerkannt. Der jüngere
d'Alton80
schreibt am 6. Juli 1827 an Goethe: «Ich würde es
für die schönste Belohnung erachten, wenn Euer Exzellenz, dem die
Naturwissenschaft nicht allein eine völlige Umgestaltung in
großartigen Überblicken und neuen Ansichten der Botanik,
sondern selbst vielfache treffliche Bereicherungen in dem Gebiete der
Knochenlehre verdankt, in vorliegenden Blättern ein beifallswertes
Bestreben erkennten.»
Nees von Esenbeck81
am 24. Juni 1820:
«In ihrer Schrift, die Sie einen <Versuch, die Metamorphose der
Pflanzen zu erklären>, nannten, hat zuerst die Pflanze unter uns
über sich selbst geredet und in dieser schönen Vermenschlichung auch
mich, als ich noch jung war, bestrickt.»
Endlich Voigt82
am 6. Juni 1831: «Mit lebhafter Teilnahme und untertänigem Dank habe ich
die kleine Schrift über die Metamorphose empfangen, welche mich als so
frühen Teilnehmer an dieser Lehre nun auch auf das verbindlichste
historisch einverleibt. Es ist sonderbar, man ist gegen die
animalische Metamorphose - ich meine nicht die alte der Insekten,
sondern die von der Wirbelsäule ausgehende - billiger gewesen, als
gegen die vegetabilische. Abgesehen von den Plagiaten und
Mißbräuchen, möchte die stille Anerkennung darin ihren Grund
haben, daß man bei ihr weniger zu riskieren glaubte. Denn
beim Skelett bleiben die isolierten Knochen ewig dieselben, in der
Botanik aber droht die Metamorphose die ganze Terminologie und
folglich die Bestimmung der Spezies umzuwerfen, und da fürchten
sich denn die Schwachen, weil sie nicht wissen, wohin so etwas führen
könne.» Hier ist volles Verständnis der Goetheschen Ideen vorhanden.
Es ist das Bewußtsein da, daß eine neue Art der Anschauung
des Individuellen Platz greifen müsse; und aus dieser neuen Anschauung
sollte erst die neue Systematik, die Betrachtung des Besonderen
hervorgehen. Der auf sich selbst gebaute Typus enthält die
Möglichkeit, bei seinem Eintreten in die Erscheinung unendlich
mannigfaltige Formen anzunehmen; und diese Formen sind der Gegenstand
unserer sinnlichen Anschauung, sie sind die im Raume und in der Zeit
lebenden Gattungen und Arten der Organismen. Indem unser Geist jene
allgemeine Idee, den Typus erfaßt, hat er das ganze
Organismenreich in seiner Einheit begriffen. Wenn er nun die
Gestaltung des Typus in jeder besonderen Erscheinungsform anschaut,
wird ihm die letztere begreiflich; sie erscheint ihm als eine der
Stufen, der Metamorphosen, in denen sich der Typus verwirklicht. Und
diese verschiedenen Stufen aufzuzeigen, sollte das Wesen der durch
Goethe zu begründenden Systematik sein. Sowohl im Tier - wie im
Pflanzenreiche herrscht eine aufsteigende Entwicklungsreihe; die
Organismen gliedern sich in vollkommene und unvollkommene. Wie ist
dieses möglich? Die ideelle Form, der Typus der Organismen hat eben
das Charakteristische, daß er aus räumlich zeitlichen Elementen
besteht. Es erschien deshalb auch Goethe als eine
sinnlich-übersinnliche Form. Er enthält räumlichzeitliche
Formen als ideelle Anschauung (intuitiv). Wenn er nun in die
Erscheinung tritt, kann die wahrhaft (nicht mehr intuitiv) sinnliche
Form jener ideellen völlig entsprechen oder nicht; es kann der Typus
zu seiner vollkommenen Ausbildung kommen oder nicht. Die niederen
Organismen sind eben dadurch die niederen, daß ihre
Erscheinungsform nicht völlig dem organischen Typus entspricht. Je
mehr äußere Erscheinung und organischer Typus in einem
bestimmten Wesen sich decken, desto vollkommener ist dasselbe. Dies
ist der objektive Grund einer aufsteigenden Entwicklungsreihe. Die
Aufzeigung dieses Verhältnisses. bei jeder Organismenform ist die
Aufgabe einer systematischen Darstellung. Bei Aufstellung des Typus,
der Urorganismen, kann aber hierauf keine Rücksicht genommen werden;
es kann sich dabei nur darum handeln, eine Form zu finden, welche den
vollkommensten Ausdruck des Typus darstellt. Eine solche soll Goethes
Urpflanze bieten.
Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, daß er bei Aufstellung
seines Typus auf die Welt der Kryptogamen keine Rücksicht genommen
habe. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß dieses nur
in völlig bewußter Weise geschehen kann, da er sich mit dem
Studium dieser Pflanzen auch beschäftigt hat. Es hat aber seinen
objektiven Grund. Die Kryptogamen sind eben jene Pflanzen, in denen
die Urpflanze nur höchst einseitig zum Ausdrucke kommt; sie stellen
die Pflanzenidee in einer einseitigen sinnenfälligen Form dar. Sie
können an der aufgestellten Idee beurteilt werden; diese selbst aber
kommt in den Phanerogamen erst zu ihrem völligen Ausbruche.
Was aber hier zu sagen ist, ist dieses, daß Goethe diese
Ausführung seiner Grundgedanken nie vollbracht hat, daß er das
Reich des Besonderen zu wenig betreten hat. Daher bleiben alle seine
Arbeiten fragmentarisch. Seine Absicht, auch hier Licht zu schaffen,
zeigen uns seine Worte in der «Italienischen Reise» (27. September
1786), daß es ihm mit Hilfe seiner Ideen möglich sein werde,
«Geschlechter und Arten wahrhaft zu bestimmen, welches, wie mich
dünkt, bisher sehr willkürlich geschieht». Dieses Vorhaben hat er
nicht ausgeführt, den Zusammenhang seiner allgemeinen Gedanken mit der
Welt des Besonderen, mit der Wirklichkeit der einzelnen Formen nicht
besonders dargelegt. Dies sah er selbst als einen Mangel seiner
Fragmente an; er schreibt am 28. Juni 1828 darauf bezüglich an [F.J.]
Soret von de Candolle: «Auch wird mir immer klarer, wie er die
Intentionen ansieht, in denen ich mich fortbewege und die in meinem
kurzen Aufsatze über die Metamorphose zwar deutlich genug
ausgesprochen sind, deren Bezug aber auf die Erfahrungsbotanik, wie
ich längst weiß, nicht deutlich genug hervorgeht.» [WA 44,
161] Dies ist wohl auch der Grund, warum Goethes Anschauungen so
mißverstanden wurden; denn sie wurden es nur deshalb, weil sie
überhaupt nicht verstanden wurden.
In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung für die
durch Darwin und Haeckel gefundene Tatsache, daß die
Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Repetition der
Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für mehr als eine unerklärte
Tatsache kann das, was Haeckel hier bietet, doch nicht genommen
werden. Es ist die Tatsache*, daß jedes Individuum alle jene
Entwicklungsstadien in abgekürzter Form durchmacht, welche uns
zugleich die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist.
Haeckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem Gesetze der
Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes als ein
abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache. Die Erklärung
dafür ist, daß jene Formen sowie jedes Individuum die
Erscheinungsformen eines und desselben Urbildes sind, welches in
aufeinanderfolgenden Zeitperioden die der Möglichkeit nach in ihm
liegenden Gestaltungskräfte zur Entfaltung bringt. Jedes höhere
Individuum ist eben dadurch vollkommener, daß es durch die
günstigen Einflüsse seiner Umgebung nicht gehindert wird, sich seiner
inneren Natur nach völlig frei zu entfalten. Muß das Individuum
dagegen durch verschiedene Einwirkungen gezwungen auf einer
niedrigeren Stufe stehenbleiben, so kommen nur einige von seinen
inneren Kräften zur Erscheinung, und es ist dann bei ihm das ein
Ganzes, was bei jenem vollkommeneren Individuum nur ein Teil eines
Ganzen ist. Und auf diese Weise erscheint der höhere Organismus in
seiner Entwicklung aus den niedrigeren zusammengesetzt oder auch die
niedrigeren erscheinen in ihrer Entwicklung als Teile des höheren. Wir
müssen daher in der Entwicklung eines höheren Tieres die Entwicklung
aller niedrigeren wieder erblicken (biogenetisches Gesetz). Sowie der
Physiker nicht damit zufrieden ist, bloß die Tatsachen
auszusprechen und zu beschreiben, sondern nach den Gesetzen
derselben forscht, d. h. nach den Begriffen der Erscheinungen, so
kann es auch demjenigen, der in die Natur der organischen Wesen
eindringen will, nicht genügen, wenn er bloß die Tatsachen der
Verwandtschaft, Vererbung, Kampf ums Dasein usw. anführt, sondern er
will die diesen Dingen zugrunde liegenden Ideen erkennen. Dieses
Streben finden wir bei Goethe. Was dem Physiker die drei Keplerschen
Gesetze, das sind dem Organiker die Goetheschen Typusgedanken. Ohne
sie ist uns die Welt ein bloßes Labyrinth von Tatsachen. Dies
wurde oft mißverstanden. Man behauptet, der Begriff der
Metamorphose im Sinne Goethes wäre ein bloßes Bild, das
sich im Grunde nur in unserem Verstande durch Abstraktion vollzogen
hat. Es wäre Goethe unklar gewesen, daß der Begriff von
Verwandlung der Blätter in Blütenorgane nur dann einen Sinn habe, wenn
letztere, z. B. die Staubgefäße, einmal wirkliche Blätter waren.
Allein dies stellt Goethes Anschauungen auf den Kopf. Es wird ein
sinnenfälliges Organ zum prinzipiell ersten gemacht und das andere auf
sinnenfällige Weise daraus abgeleitet. So hat es Goethe nie gemeint.
Bei ihm ist dasjenige, welches der Zeit nach das erste ist, durchaus
nicht auch der Idee, dem Prinzipe nach das erste. Nicht weil die
Staubgefäße einmal wahre Blätter waren, sind sie letzteren heute
verwandt; nein, sondern weil sie ideell, ihrem inneren Wesen nach
verwandt sind, erschienen sie einmal als wahre Blätter. Die sinnliche
Verwandlung ist nur Folge der ideellen Verwandtschaft und nicht
umgekehrt. Heute ist der empirische Tatbestand der Identität aller
Seitenorgane der Pflanze bestimmt, aber warum nennt man diese
identisch? Nach Schleiden, weil sich dieselben an der Achse
alle so entwickeln, daß sie als seitliche Hervorragungen
hinausgeschoben werden, in der Weise, daß die seitliche
Zellenbildung nur an dem ursprünglichen Körper bleibt und an der
zuerst gebildeten Spitze sich keine neuen Zellen bilden. Dies ist eine
rein äußerliche Verwandtschaft, und man betrachtet als die Folge
davon die Idee der Identität. Anders ist die Sache wieder bei Goethe.
Die Seitenorgane sind bei ihm ihrer Idee, ihrem inneren Wesen nach
identisch; daher erscheinen sie auch nach außen als
identische Bildungen. Die sinnenfällige Verwandtschaft ist bei ihm
eine Folge der inneren, ideellen. Die Goethesche Auffassung
unterscheidet sich von der materialistischen durch die
Fragestellungen; beide widersprechen einander nicht, sie ergänzen
einander. Goethes Ideen bilden zu jener die Grundlage. Nicht nur eine
dichterische Prophezeiung späterer Entdekkungen sind Goethes Ideen,
sondern selbständige theoretische Entdeckungen, die noch lange nicht
genug gewürdigt sind, an denen die Naturwissenschaft noch lange
zehren wird. Wenn die empirischen Tatsachen, die er benützte, längst
durch genauere Detailforschungen überholt, teilweise sogar widerlegt
sein werden; die aufgestellten Ideen sind ein für allemal grundlegend
für die Organik, denn sie sind von jenen empirischen Tatsachen
unabhängig. Wie jeder neu aufgefundene Planet nach Keplers Gesetzen um
seinen Fixstern kreisen muß, so muß jeder Vorgang in der
organischen Natur nach Goethes Ideen geschehen. Lange vor Kepler und
Kopernikus sah man die Vorgänge am gestirnten Himmel. Diese fanden
erst die Gesetze. Lange vor Goethe beobachtete man das organische
Naturreich, Goethe fand dessen Gesetze. Goethe ist der Kopernikus
und Kepler der organischen Welt.
Man kann sich das Wesen der Goetheschen Theorie auch auf folgende
Weise klar machen. Neben der gewöhnlichen empirischen Mechanik, welche
nur die Tatsachen sammelt, gibt es noch eine rationale Mechanik,
welche aus der inneren Natur der mechanischen Grundprinzipien die
aprioristischen Gesetze als notwendige deduziert. Sowie die erstere
zur letzteren, so verhalten sich Darwins, Haeckels usw. Theorien zur
rationalen Organik Goethes. Diese Seite seiner Theorie war Goethe vom
Anfange an nicht sogleich klar. Später freilich spricht er sie schon
ganz entschieden aus. Wenn er am 21. Januar 1832 an Heinr. Wilh. Ferd.
Wackenroder schreibt: «Fahren Sie fort, mit allem, was Sie
interessiert, mich bekannt zu machen; es schließt sich
irgendwo an meine Betrachtungen an» [WA 49,211], so will er damit
nur sagen, daß er die Grundprinzipien der organischen
Wissenschaft gefunden habe, aus denen sich alles übrige müsse ableiten
lassen. In früherer Zeit aber wirkte das alles unbewußt in
seinem Geiste und er behandelte die
Tatsachen darnach.83
Gegenständlich wurde es ihm erst durch jenes erste wissenschaftliche
Gespräch mit Schiller, welches wir unten
mitteilen.84
Schiller erkannte sogleich die ideelle Natur von Goethes Urpflanze und
behauptete, einer solchen könne keine Wirklichkeit angemessen sein.
Das regte Goethe an, über das Verhältnis dessen, was er Typus nannte,
zur empirischen Wirklichkeit nachzudenken. Er traf hier auf ein
Problem, welches zu den bedeutsamsten des menschlichen Forschens
überhaupt gehört: das Problem des Zusammenhangs von Idee und
Wirklichkeit, von Denken und Erfahrung. Das wurde ihm immer
klarer: die einzelnen empirischen Objekte entsprechen keines seinem
Typus vollkommen; kein Wesen der Natur war mit ihm identisch. Der
Inhalt des Typusbegriffes kann also nicht aus der Sinnenwelt
als solcher stammen, obwohl er an derselben gewonnen wird. Er
muß also in dem Typus selbst liegen; die Idee des Urwesens
konnte nur eine solche sein, welche vermöge einer in ihr selbst
liegenden Notwendigkeit einen Inhalt aus sich entwickelt, der dann in
anderer Form - In Form der Anschauung - in der Erscheinungswelt
auftritt. Es ist in dieser Hinsicht interessant, zu sehen, wie Goethe
selbst empirischen Naturforschern gegenüber für die Rechte der
Erfahrung und die strenge Auseinanderhaltung von Idee und Objekt
eintritt. Sömmerring übersendet ihm im Jahre 1786 ein Buch, in dem er
(Sömmerring) den Versuch macht, den Sitz der Seele zu entdecken.
Goethe findet in einem Briefe, den er am 28. August 1796 an Sömmerring
richtet, daß dieser zu viel Metaphysik mit seinen Anschauungen
verwoben habe; eine Idee über Gegenstände der Erfahrung habe
keine Berechtigung, wenn sie über diese hinausginge, wenn sie nicht im
Wesen der Objekte selbst begründet ist. Bei Objekten der Erfahrung sei
die Idee ein Organ, das als notwendigen Zusammenhang zu fassen, was
sonst im blinden Neben- und Nacheinander bloß wahrgenommen
würde. Daraus aber, daß die Idee nichts Neues zu dem Objekte
hinzubringen darf, folgt, daß das letztere selbst, seinem
eigenen Wesen nach ein Ideelles ist, daß überhaupt die
empirische Realität zwei Seiten haben muß: die eine, wonach sie
Besonderes, Individuelles, die andere, wonach sie Ideell-Allgemeines
ist.
Der Umgang mit den zeitgenössischen Philosophen sowie die Lektüre der
Werke derselben führte Goethe manchen Gesichtspunkt in dieser Hinsicht
zu. Schellings Werk «Von der Weltseele» und dessen « [Erster] Entwurf
eines Systems der Naturphilosophie» ([Goethes] Annalen zu 1798-1799)
sowie Steffens «Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft»
wirkten befruchtend auf ihn ein. Auch mit Hegel wurde manches
durchgesprochen. Diese Anregungen führten endlich dahin, daß
Kant, mit dem sich Goethe schon einmal, durch Schiller angeregt,
beschäftigt hatte, wieder vorgenommen wurde. 1817 (siehe Annalen)
betrachtete er geschichtlich dessen Einfluß auf seine Ideen über
Natur und natürliche Dinge. Diesem auf das Zentrale der Wissenschaft
gehenden Nachdenken verdanken wir die Aufsätze:
Glückliches Ereignis,
Anschauende Urteilskraft,
Bedenken und Ergebung,
Bildungstrieb,
Das Unternehmen wird entschuldigt,
Die Absicht eingeleitet,
Der Inhalt bevorwortet,
Geschichte meines botanischen Studiums,
Entstehen des Aufsatzes über Metamorphose der
Pflanzen.
Alle diese Aufsätze sprechen den oben schon angedeuteten Gedanken aus,
daß jedes Objekt zwei Seiten hat: die eine unmittelbare seines
Erscheinens (Erscheinungsform), die zweite, welche sein Wesen
enthält. So gelangt Goethe zu der allein befriedigenden
Naturanschauung, welche die eine wahrhaft objektive Methode begründet.
Wenn eine Theorie die Idee als etwas dem Objekte selbst Fremdes,
bloß Subjektives betrachtet, so kann sie nicht behaupten,
wahrhaft objektiv zu sein, wenn sie sich nur überhaupt der Idee
bedient. Goethe aber kann behaupten, nichts zu den Objekten
hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selbst läge.
Auch ins Einzelne, Tatsächliche hin verfolgte Goethe jene
Wissenszweige, auf welche seine Ideen Bezug hatten. Im Jahre 1795
(siehe K. A. Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen usw. I.
Bd., Leipzig 1838, S. 49) hörte er bei Loder Bänderlehre; er verlor
überhaupt in dieser Zeit die Anatomie und Physiologie nicht aus den
Augen, was um so wichtiger erscheint, als er gerade damals seine
Vorträge über Osteologie niederschrieb. 1796 wurden Versuche gemacht,
Pflanzen im Finstern und unter farbigen Gläsern zu ziehen. Später
wurde auch die Metamorphose der Insekten verfolgt.
Eine weitere Anregung kam von dem Philologen [F. A.] Wolf, der Goethe
auf seinen Namensvetter Wolff aufmerksam machte [WA 27, 209 f.],
welcher in seiner «Theoria generationis» schon im Jahre 1759 Ideen
ausgesprochen hatte, die denen Goethes über die Metamorphose der
Pflanzen ähnlich waren. Goethe wurde dadurch veranlaßt, sich mit
Wolff eingehender zu beschäftigen, welches im Jahre 1807 geschah
(siehe Annalen zu 1807 und Natw. Schr., 1. Bd., S. 5); er fand indes
später, daß Wolff bei all seinem Scharfsinn gerade die
Hauptsachen noch nicht klar waren. Den Typus als ein Unsinnliches,
seinen Inhalt bloß aus innerer Notwendigkeit Entwickelndes,
kannte er noch nicht. Er betrachtete die Pflanze noch als einen
äußerlichen, mechanischen Zusammenhang von Einzelheiten.
Der Verkehr mit zahlreichen befreundeten Naturforschern sowie die
Freude darüber, daß er bei vielen verwandten Geistern
Anerkennung und Nachahmung seines Strebens gefunden hatte, brachten
Goethe im Jahre 1807 auf den Gedanken, die bis dahin zurückgehaltenen
Fragmente seiner naturwissenschaftlichen Studien herauszugeben. Von
dem Vorhaben, ein größeres naturwissenschaftliches Werk zu
schreiben, kam er allmählich ab. Es kam aber zur Herausgabe der
einzelnen Aufsätze im Jahre 1807 noch nicht. Das Interesse an der
Farbenlehre drängte die Morphologie wieder für einige Zeit in den
Hintergrund. Das erste Heft derselben erschien erst im Jahre 1817. Bis
1824 erschienen dann zwei Bände, der erste in vier, der zweite in zwei
Heften. Neben den Aufsätzen über Goethes eigene Ansichten finden wir
hier Besprechungen bedeutenderer literarischer Erscheinungen aus dem
Gebiete der Morphologie und auch Abhandlungen anderer Gelehrter, de-
ren Ausführungen sich aber stets ergänzend zu Goethes Naturerklärung
verhalten.
Zu einer intensiveren Beschäftigung fand sich Goethe in bezug auf die
Naturwissenschaft noch zweimal aufgefordert. In beiden Fällen waren es
bedeutende literarische Erscheinungen auf dem Gebiete dieser
Wissenschaft, die mit seinen eigenen Bestrebungen innigst
zusammenhingen. Das erste Mal ward durch die Arbeiten des Botanikers
Martius über die Spiraltendenz die Anregung gegeben, das zweite Mal
durch einen naturwissenschaftlichen Streit in der französischen
Akademie der Wissenschaften.
Martius setzte die Pflanzenform in ihrer Entwicklung aus einer Spiral-
und einer Vertikaltendenz zusammen. Die Vertikaltendenz bewirkt das
Wachsen in der Richtung der Wurzel und des Stengels; die Spiraltendenz
die Ausbreitung in den Blättern, Blüten usw. Goethe sah in diesem
Gedanken nur eine mehr auf das Räumliche (vertikal, spiral) Rücksicht
nehmende Ausbildung seiner bereits in der Schrift über die
Metamorphose 1790 niedergelegten Ideen. Bezüglich des Beweises dieser
Behauptung verweisen wir auf die Anmerkungen zu Goethes Aufsatz «Über die
Spiraltendenz der Vegetation»85,
aus denen hervorgeht,
daß Goethe in demselben nichts wesentlich Neues gegenüber seinen
früheren Ideen vorbringt. Wir möchten dieses besonders an jene
richten, welche behaupten, daß hier sogar ein Rückschritt
Goethes von früheren klaren Anschauungen bis zu den «tiefsten Tiefen
der Mystik» wahrzunehmen sei.
Noch im höchsten Alter (1830-32) verfaßte Goethe zwei Aufsätze
über den Streit der beiden französischen turforscher Cuvier und
Geoffroy Saint-Hilaire. In diesen Aufsätzen finden wir noch einmal in
schlagender Kürze die Prinzipien von Goethes Naturanschauung
zusammengestellt.
Cuvier war ganz im Sinne der älteren Naturforscher Empiriker. Für jede
Tierart suchte er einen ihr entsprechenden, besonderen Begriff. So
viele einzelne Tierarten die Natur darbietet, so viele einzelne Typen
glaubte er in den gedanklichen Aufbau seines Systems der organischen
Natur aufnehmen zu müssen. Die einzelnen Typen standen bei ihm aber
ganz unvermittelt nebeneinander. Was er nicht berücksichtigte, ist
folgendes. Mit dem Besonderen als solchem, wie es uns unmittelbar in
der Erscheinung gegenübertritt, ist unser Erkenntnisbedürfnis nicht
befriedigt. Da wir aber einem Wesen der Sinnenwelt mit keiner anderen
Absicht gegenübertreten, als eben dieses Wesen zu erkennen, so ist
nicht anzunehmen, daß der Grund, warum wir uns mit dem
Besonderen als solchem nicht befriedigt erklären, in unserem
Erkenntnisvermögen liege. Er muß vielmehr im Objekte selbst
liegen. Das Wesen des Besonderen selbst ist in dieser seiner
Besonderheit eben durchaus noch nicht erschöpft; es drängt, um
verstanden zu werden, zu einem solchen hin, welches kein Besonderes,
sondern ein Allgemeines ist. Dieses Ideell-Allgemeine ist das
eigentliche Wesen - die Essenz - eines jeden besonderen Daseins. Das
letztere hat in der Besonderheit nur eine Seite seines Daseins,
während die zweite das Allgemeine - der Typus - ist (siehe Goethes
«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 374). So ist es
zu verstehen, wenn von dem Besonderen als einer Form des Allgemeinen
gesprochen wird. Da das eigentliche Wesen, die Inhaltlichkeit des
Besonderen somit das Ideell-Allgemeine ist, so ist es unmöglich,
daß das letztere aus dem Besonderen hergeleitet, von ihm
abstrahiert werde. Es muß, da es nirgends seinen Inhalt
entlehnen kann, sich diesen Inhalt selbst geben. Das
Typisch-Allgemeine ist mithin ein solches, bei dem Inhalt und Form
identisch sind. Deswegen kann es aber auch nur als ein Ganzes
erfaßt werden, unabhängig vom Einzelnen. Die Wissenschaft hat
die Aufgabe, an jedem Besonderen zu zeigen, wie dasselbe, seinem Wesen
nach, sich dem Ideell-Allgemeinen unterordnet. Dadurch treten die
besonderen Arten des Daseins in das Stadium gegenseitiger
Bestimmtheit und Abhängigkeit. Was sonst nur als räumlichzeitliches
Neben- und Nacheinander wahrgenommen werden kann, wird im
notwendigen Zusammenhange gesehen. Cuvier wollte aber von
letzterer Anschauung nichts wissen. Sie war hingegen diejenige
Geoffroy Saint-Hilaires. So stellt sich in Wirklichkeit jene Seite
dar, von welcher aus Goethe für jenen Streit Interesse hatte. Die
Sache wurde vielfach dadurch entstellt, daß man durch die Brille
modernster Anschauungen die Tatsachen in einem ganz anderen Lichte
erblickte, als in dem sie erscheinen, wenn man ohne Voreingenommenheit
an sie herantritt. Geoffroy berief sich nicht nur auf seine eigenen
Forschungen, sondern auch auf mehrere deutsche Gesinnungsgenossen und
nennt unter diesen auch Goethe.
Das Interesse, welches Goethe an dieser Sache hatte, war ein
außerordentliches. Er war hocherfreut, in Geoffroy Saint-Hilaire
einen Genossen zu finden: «Jetzt ist Geoffroy Saint-Hilaire
entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle bedeutenden Schüler und
Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz
unglaublichem Wert und ich juble mit Recht über den endlichen Sieg
einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die vorzüglich auch
die meinige ist», sagt er am 2. August 1830 zu Eckermann. Es ist
überhaupt eine eigentümliche Erscheinung, daß Goethes
Forschungen in Deutschland nur bei den Philosophen, weniger aber bei
den Naturforschern, in Frankreich hingegen bei letzteren bedeutenderen
Anklang fanden. De Candolle schenkte der Goetheschen
Metamorphosenlehre die größte Aufmerksamkeit, behandelte
überhaupt die Botanik in einer Weise, welche den Goetheschen
Anschauungen nicht ferne stand. Auch war Goethes «Metamorphose»
bereits durch [F. de] Gingins-Lassaraz ins Französische übersetzt.
Unter solchen Verhältnissen konnte Goethe wohl hoffen, daß eine
unter seiner Mitwirkung besorgte Übersetzung seiner botanischen
Schriften ins Französische nicht auf unfruchtbaren Boden fallen werde.
Eine solche lieferte denn auch 1831 unter Goethes fortwährender
Beihilfe Friedrich Jakob Soret. Sie enthielt jenen ersten «Versuch»
von 1790 (vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 17ff.); die Geschichte des
botanischen Studiums Goethes (ebenda S. 61ff.) und die Wirkung seiner
Lehre auf die Zeitgenossen (ebenda S. 194ff.), sowie einiges über de
Candolle, französisch mit gegenüberstehendem deutschen Text.
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