ABSCHLUSS ÜBER GOETHES
MORPHOLOGISCHE ANSCHAUUNGEN
Wenn ich am Schlusse der Betrachtung über Goethes
Metamorphosen-Gedanken auf die Anschauungen zurückblicke, die ich mich
auszusprechen gedrungen fühlte, so kann ich mir nicht verhehlen, eine
wie große Zahl hervorragender Vertreter verschiedener Richtungen
der Wissenschaft anderer Ansicht sind. Ihre Stellung zu Goethe steht
mir deutlich vor Augen; und das Urteil, das sie über meinen Versuch,
den Standpunkt unseres großen Denkers und Dichters zu vertreten,
aussprechen werden, dürfte im voraus zu ermessen sein.
In zwei Heerlager geteilt stehen sich die Ansichten über Goethes
Bestrebungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete geenüber.
Die Vertreter des modernen Monismus mit dem Professor Haeckel an der
Spitze erkennen in Goethe den Propheten des Darwinismus, der sich das
Organische ganz in ihrem Sinne von den Gesetzen beherrscht denkt, die
auch in der unorganischen Natur wirksam sind. Was Goethe fehlte, sei
nur die Selektionstheorie gewesen, durch welche erst Darwin die
monistische Weltanschauung begründet und die
Entwicklungstheorie zur wissenschaftlichen Überzeugung erhoben habe.
Diesem Standpunkte steht ein anderer gegenüber, welcher annimmt, die
Typusidee bei Goethe sei weiter nichts als ein allgemeiner Begriff,
eine Idee im Sinne der platonischen Philosophie. Goethe hätte zwar
einzelne Behauptungen getan, die an die Entwicklungstheorie
erinnern, wozu er durch den in seiner Natur gelegenen Pantheismus
gekommen sei; bis zum letzten mechanischen Grunde
fortzuschreiten hätte er aber kein Bedürfnis gefühlt. Von
Entwicklungstheorie im modernen Sinne des Wortes könne daher bei ihm
nicht die Rede sein.
Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung
irgendeines positiven Standpunktes, rein aus Goethes Wesen, aus
dem Ganzen seines Geistes zu erklären, wurde klar, daß weder die
eine noch die andere der erwähnten Richtungen - so
außerordentlich bedeutend auch dasjenige ist, was sie beide zu
einer Beurteilung Goethes geliefert haben - seine Naturanschauung
vollkommen richtig interpretiert hat.
Die erste der charakterisierten Ansichten hat ganz recht, wenn sie
behauptet, Goethe habe dadurch, daß er die Erklärung der
organischen Natur anstrebte, den Dualismus bekämpft, der zwischen
dieser und der unorganischen Welt unübersteigliche Schranken annimmt.
Aber Goethe behauptete die Möglichkeit dieser Erklärung nicht deshalb,
weil er sich die Formen und Erscheinungen der organischen Natur in
einem mechanischen Zusammenhange dachte, sondern weil er einsah,
daß der höhere Zusammenhang, in dem dieselben stehen,
unserer Erkenntnis keineswegs verschlossen ist. Er dachte sich das
Universum zwar in monistischer Weise als unentzweite Einheit - von der
er den Menschen durchaus nicht ausschloß [siehe den Brief
Goethes an F. H. Jacobi vom 23. Nov. 1801; WA 15, 280f.] -, aber
deshalb erkannte er doch an, daß innerhalb dieser Einheit
Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen Gesetze haben. Er
verhielt sich schon seit seiner Jugend ab- lehnend gegenüber
Bestrebungen, welche sich die Einheit als Einförmigkeit
vorstellen und die organische Welt, wie überhaupt das, was
innerhalb der Natur als höhere Natur erscheint, von den in der
unorganischen Welt wirksamen Gesetzen beherrscht denken (siehe
«Geschichte meines botanischen Studiums» in Natw. Schr., 1. Bd., S.
61ff.). Diese Ablehnung war es auch, welche ihn später zur Annahme
einer anschauenden Urteilskraft nötigte, durch welche wir die
organische Natur erfassen im Gegensatze zum diskursiven Verstande,
durch den wir die unorganische Natur erkennen. Goethe denkt sich die
Welt als einen Kreis von Kreisen, von denen jeder einzelne sein
eigenes Erklärungsprinzip hat. Die modernen Monisten kennen nur einen
einzigen Kreis, den der unorganischen Naturgesetze.
Die zweite der angeführten Meinungen über Goethe sieht ein, daß
es sich bei ihm um etwas anderes handelt als beim modernen Monismus.
Da aber ihre Vertreter es als ein Postulat der Wissenschaft ansehen,
daß die organische Natur gerade so wie die unorganische erklärt
werde und eine Anschauung wie die Goethes von vornherein
perhorreszieren, so sehen sie es überhaupt als nutzlos an, auf seine
Bestrebungen näher einzugehen.
So konnten Goethes hohe Prinzipien weder da noch dort zur vollen
Geltung kommen. Und gerade diese sind das Hervorragende seiner
Bestrebungen, sind das, was für denjenigen, der sich ihre ganze Tiefe
vergegenwärtigt hat, auch dann an Bedeutung nicht verliert, wenn er
einsieht, daß manches von den Einzelheiten Goethescher
Forschung der Berichtigung bedarf.
Hieraus erwächst nun für denjenigen, der Goethes Anschauungen
darzulegen versucht, die Forderung, über die kritische Beurteilung des
einzelnen, was Goethe in diesem oder jenem Kapitel der
Naturwissenschaft gefunden, hinweg den Blick auf das Zentrale
Goethescher Naturanschauung zu lenken.
Indem ich dieser Forderung zu entsprechen suchte, liegt die
Möglichkeit nahe, gerade von denjenigen mißverstanden zu werden,
bei denen es mir am meisten leid tun würde, von den reinen Empirikern.
Ich meine jene, welche den als tatsächlich nachzuweisenden
Zusammenhängen der Organismen, dem empirisch gebotenen Stoffe nach
allen Seiten nachgehen und die Frage nach den ursprünglichen
Prinzipien der Organik als eine heute noch offene betrachten. Gegen
sie können meine Ausführungen nicht gerichtet sein, denn sie berühren
sie nicht. Im Gegenteile: Ich baue gerade auf sie einen Teil meiner
Hoffnungen, weil sie die Hände nach allen Seiten noch frei haben. Sie
sind es auch, die manches von Goethe Behauptete noch zu berichtigen
haben werden, denn im Tatsächlichen irrte er zuweilen; hier kann
natürlich auch das Genie die Schranken seiner Zeit nicht überwinden.
Im Prinzipiellen kam er aber zu Grundanschauungen, die für die
Wissenschaft vom Organischen dieselbe Bedeutung haben wie Galileis
Grundgesetze für die Mechanik.
Dies zu begründen, machte ich mir zur Aufgabe.
Mögen jene, die meine Worte nicht zu überzeugen vermögen, mindestens
den redlichen Willen sehen, mit dem ich bemüht war, ohne Rücksicht auf
Personen, nur der Sache zugewandt, das angedeutete Problem, Goethes
wissenschaftliche Schriften aus dem Ganzen seiner Natur zu erklären,
zu lösen und eine für mich erhebende Überzeugung auszusprechen.
Hat man in derselben Weise glücklich und erfolgreich begonnen, Goethes
Dichtungen zu erklären, so liegt hierin schon die Forderung, alle
Werke seines Geistes in diese Art der Betrachtung hereinzuziehen. Dies
kann nicht für immer ausbleiben und ich werde nicht der letzte sein
von denen, die sich herzlich freuen werden, wenn es meinem Nachfolger
besser gelingt als mir. Möchten jugendlich strebende Denker und
Forscher, namentlich jene, die mit ihren Ansichten nicht bloß in
die Breite gehen, sondern direkt dem Zentralen unseres
Erkennens ins Auge schauen, meinen Ausführungen einige Aufmerksamkeit
schenken und in Scharen nachfolgen, um vollkommener auszuführen, was
ich darzulegen bestrebt war.
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