Johann Gottlieb Fichte sandte im Juni 1794 die ersten Bogen
seiner «Wissenschaftslehre» an Goethe. Dieser schrieb hierauf am 24.
Juni an den Philosophen: «Was mich betrifft, werde ich Ihnen den
größten Dank schuldig sein, wenn Sie mich endlich mit den
Philosophen versöhnen, die ich nie entbehren und mit denen ich mich
niemals vereinigen konnte.» [WA 10, 167] Was der Dichter hier bei
Fichte, das hatte er früher bei Spinoza gesucht; später suchte er es
bei Schelling und Hegel: eine philosophische Weltansicht, die seiner
Denkweise gemäß wäre. Völlige Befriedigung aber brachte dem
Dichter keine der philosophischen Richtungen, die er kennen lernte.
Das erschwert wesentlich unsere Aufgabe. Wir wollen Goethe von der
philosophischen Seite näherkommen. Hätte er selbst einen
wissenschaftlichen Standpunkt als den seinigen bezeichnet, so könnten
wir uns auf diesen berufen. Das ist aber nicht der Fall. Und so
obliegt uns denn die Aufgabe, aus alledem, was uns von dem Dichter
vorliegt, den philosophischen Kern zu erkennen, der in ihm lag, und
davon ein Bild zu entwerfen. Wir halten für den richtigen Weg, diese
Aufgabe zu lösen, eine auf Grundlage der deutschen idealistischen
Philosophie gewonnene Ideenrichtung. Diese Philosophie suchte ja in
ihrer Weise denselben höchsten menschlichen Bedürfnissen zu
genügen, denen Goethe und Schiller ihr Leben widmeten. Sie ging aus
derselben Zeitströmung hervor. Sie steht daher auch Goethe viel näher
als diejenigen Anschauungen, die heute vielfach die Wissenschaften
beherrschen. Aus jener Philosophie wird sich eine Ansicht bilden
lassen, als deren Konsequenz sich das ergibt, was Goethe dichterisch
gestaltet, was er wissenschaftlich dargelegt hat. Aus unseren heutigen
wissenschaftlichen Richtungen wohl nimmermehr. Wir sind heute sehr
weit von jener Denkweise entfernt, die in Goethes Natur lag.
Es ist ja richtig: Wir haben auf allen Gebieten der Kultur
Fortschritte zu verzeichnen. Daß das aber Fortschritte in die
Tiefe sind, kann kaum behauptet werden. Für den Gehalt eines
Zeitalters sind aber doch nur die Fortschritte in die Tiefe
maßgebend. Unsere Zeit möchte man aber am besten damit
bezeichnen, daß man sagt: Sie weist überhaupt Fortschritte in
die Tiefe als für den Menschen unerreichbar zurück. Wir sind mutlos
auf allen Gebieten geworden, besonders aber auf jenem des Denkens und
des Wollens. Was das Denken betrifft: Man beobachtet endlos, speichert
die Beobachtungen auf und hat nicht den Mut, sie zu einer
wissenschaftlichen Gesamtauffassung der Wirklichkeit zu gestalten. Die
deutsche idealistische Philosophie aber zeiht man der
Unwissenschaftlichkeit, weil sie diesen Mut hatte. Man will heute nur
sinnlich schauen, nicht denken. Man hat alles Vertrauen
in das Denken verloren. Man hält es nicht für ausreichend, in die
Geheimnisse der Welt und des Lebens einzudringen; man verzichtet
überhaupt auf jegliche Lösung der großen Rätselfragen des
Daseins. Das einzige, was man für möglich hält, ist: die Aussagen
der Erfahrung in ein System zu bringen. Dabei vergißt man
nur, daß man sich mit dieser Ansicht einem Standpunkt nähert,
den man längst für überwunden hält. Die Abweisung alles Denkens und
das Pochen auf die sinnliche Erfahrung ist, tiefer erfaßt, doch
nichts als der blinde Offenbarungsglaube der Religionen. Der
letztere beruht doch nur darauf, daß die Kirche fertige
Wahrheiten überliefert, an die man zu glauben hat. Das Denken mag sich
abmühen, in ihren tieferen Sinn einzudringen; benommen aber ist es
ihm, die Wahrheit selbst zu prüfen, aus eigener Kraft in die
Tiefen der Welt zu dringen. Und die Erfahrungswissenschaft: was
fordert sie vom Denken? Daß es lausche, was die Tatsachen
sagen, und diese Aussagen auslege, ordne usw. Selbständig in den Kern
der Welt einzudringen, versagt auch sie dem Denken. Dort fordert die
Theologie blinde Unterwerfung des Denkens unter die Aussprüche der
Kirche, hier die Wissenschaft blinde Unterwerfung unter die Aussprüche
der Sinnenbeobachtung. Da wie dort gilt das selbständige, in die
Tiefen dringende Denken nichts. Die Erfahrungswissenschaft
vergißt nur eins. Tausende und aber Tausende schauten eine
sinnenfällige Tatsache und gingen an ihr vorüber, ohne etwas
Auffälliges an ihr zu merken. Dann kam einer, der sie anblickte und
ein wichtiges Gesetz an ihr gewahr wurde. Woher kommt das? Doch nur
davon, weil der Entdecker anders zu schauen verstand als seine
Vorgänger. Er sah die Tatsache mit andern Augen an als seine
Mitmenschen. Er hatte bei dem Schauen einen bestimmten Gedanken,
wie man die Tatsache mit andern in Zusammenhang bringen müsse,
was für sie bedeutsam sei, was nicht. Und so legte er sich denkend
die Sache zurecht und er sah mehr als die andern. Er sah mit
den Augen des Geistes. Alle wissenschaftlichen Entdeckungen
beruhen darauf, daß der Beobachter in der durch den richtigen
Gedanken geregelten Weise zu beobachten versteht. Das Denken
muß die Beobachtung naturgemäß leiten. Das kann es
nicht, wenn der Forscher den Glauben an das Denken verloren hat, wenn
er nicht weiß, was er von dessen Tragweite zu halten hat. Die
Erfahrungswissenschaft irrt ratlos in der Welt der Erscheinungen
umher; die Sinnenwelt wird ihr eine verwirrende Mannigfaltigkeit, weil
sie nicht die Energie im Denken hat, in das Zentrum zu dringen.
Man spricht heute von Erkenntnisgrenzen, weil man nicht weiß, wo
das Ziel des Denkens liegt. Man hat keine klare Ansicht, was
man erreichen will und zweifelt daran, daß man es
erreichen wird. Wenn heute irgend jemand käme und uns mit Fingern auf
die Lösung des Welträtsels zeigte, wir hätten nichts davon, weil wir
nicht wüßten, was wir von der Lösung zu halten haben.
Und mit dem Wollen und Handeln ist es ja geradeso. Man weiß sich
keine bestimmten Lebensaufgaben zu stellen, denen man gewachsen wäre.
Man träumt sich in unbestimmte, unklare Ideale hinein und klagt dann,
wenn man das nicht erreicht, wovon man kaum eine dunkle, viel weniger
eine klare Vorstellung hat. Man frage einen der Pessimisten unserer
Zeit, was er denn eigentlich will, und was er zu erreichen
verzweifelt? Er weiß es nicht. Problematische Naturen sind sie
alle, die keiner Lage gewachsen sind, und denen doch keine genügt. Man
mißverstehe mich nicht. Ich will dem flachen Optimismus keine
Lobrede halten, der, mit den trivialen Genüssen des Lebens zufrieden,
nach nichts Höherem verlangt und deshalb nie etwas entbehrt. Ich will
nicht den Stab brechen über Individuen, die die tiefe Tragik
schmerzlich empfinden, die darinnen liegt, daß wir von
Verhältnissen abhängig sind, die lähmend auf all unser Tun wirken, und
die zu ändern, wir uns vergebens bestreben. Vergessen wir aber nur
nicht, daß der Schmerz der Einschlag des Glückes ist. Man denke
an die Mutter: wie wird ihr die Freude an dem Gedeihen ihrer Kinder
versüßt, wenn sie es mit Sorgen, Leiden und Mühen dereinst
errungen hat. Jeder besser denkende Mensch müßte ja ein Glück,
das ihm irgendeine äußere Macht böte, zurückweisen, weil er doch
nicht als Glück empfinden kann, was ihm als unverdientes Geschenk
verabreicht wird. Wäre irgendein Schöpfer mit dem Gedanken an die
Erschaffung des Menschen gegangen, daß er seinem Ebenbilde
zugleich das Glück mit als Erbstück gäbe, so hätte er besser getan,
ihn ungeschaffen zu lassen. Es erhöht die Würde des Menschen,
daß grausam immer zerstört wird, was er schafft; denn er
muß immer aufs neue bilden und schaffen; und im Tun liegt unser
Glück, in dem, was wir selbst vollbringen. Mit dem geschenkten Glück
ist es wie mit der geoffenbarten Wahrheit. Es ist allein des Menschen
würdig, daß er selbst die Wahrheit suche, daß ihn weder
Erfahrung noch Offenbarung leite. Wenn das einmal durchgreifend
erkannt sein wird, dann haben die Offenbarungsreligionen
abgewirtschaftet. Der Mensch wird dann gar nicht mehr wollen,
daß sich Gott ihm offenbare oder Segen spende. Er wird durch
eigenes Denken erkennen, durch eigene Kraft sein Glück begründen
wollen. Ob irgendeine höhere Macht unsere Geschicke zum Guten oder
Bösen lenkt, das geht uns nichts an; wir haben uns selbst die Bahn
vorzuzeichnen, die wir zu wandeln haben. Die erhabenste Gottesidee
bleibt doch immer die, welche annimmt, daß Gott sich nach
Schöpfung des Menschen ganz von der Welt zurückgezogen und den
letzteren ganz sich selbst überlassen habe.
Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende
Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch
Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige
Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die
Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt
es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt,
tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven
Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der
Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.
Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem
Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.
Diese Ansicht ist in der Lage, zwei Dinge zu vereinigen, die man heute
für völlig unvereinbar hält: empirische Methode und Idealismus als
wissenschaftliche Weltansicht. Man glaubt, die Anerkennung der
ersteren habe die Abweisung des letzteren im Gefolge. Das ist durchaus
nicht richtig. Wenn man freilich die Sinne für die einzigen
Auffassungsorgane einer objektiven Wirklichkeit hält, so muß man
zu dieser Ansicht kommen. Denn die Sinne liefern bloß solche
Zusammenhänge der Dinge, die sich auf mechanische Gesetze zurückführen
lassen. Und damit wäre die mechanische Weltansicht als die einzig
wahre Gestalt einer solchen gegeben. Dabei begeht man den Fehler,
daß man die andern ebenso objektiven Bestandteile der
Wirklichkeit, die sich auf mechanische Gesetze nicht
zurückführen lassen, einfach übersieht. Das objektiv
Gegebene deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich
Gegebenen, wie die mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere
ist nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben sind die
Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind, freilich einer
höheren, deren Organ das Denken ist. Auch die Ideen sind für eine
induktive Methode erreichbar.
Die heutige Erfahrungswissenschaft befolgt die ganz richtige Methode:
am Gegebenen festzuhalten; aber sie fügt die unstatthafte Behauptung
hinzu, daß diese Methode nur SinnenfälligTatsächliches liefern
kann. Statt bei dem, wie wir zu unseren Ansichten kommen,
stehenzubleiben, bestimmt sie von vornherein das Was derselben.
Die einzig befriedigende Wirklichkeitsauffassung ist empirische
Methode mit idealistischem Forschungsresultate. Das ist Idealismus,
aber kein solcher, der einer nebelhaften, geträumten Einheit der
Dinge nachgeht, sondern ein solcher, der den konkreten Ideengehalt
der Wirklichkeit ebenso erfahrungsgemäß sucht wie die heutige
hyperexakte Forschung den Tatsachengehalt.
Indem wir mit diesen Ansichten an Goethe herantreten, glauben wir in
sein Wesen einzudringen. Wir halten an dem Idealismus fest, legen aber
bei der Entwicklung desselben nicht die dialektische Methode Hegels,
sondern einen geläuterten, höheren Empirismus zugrunde.
Ein solcher liegt auch der Philosophie Eduard v. Hartmanns zugrunde.
Eduard v. Hartmann sucht in der Natur die ideengemäße Einheit,
wie sie sich positiv für ein inhaltvolles Denken ergibt. Er
weist die bloß mechanische Naturauffassung und den am
Äußerlichen haftenden Hyper-Darwinismus zurück. Er ist in der
Wissenschaft Begründer eines konkreten Monismus. In der Geschichte und
Ästhetik sucht er die konkrete Idee. Das alles nach
empirisch-induktiver Methode.
Hartmanns Philosophie ist von meiner nur durch die Pessimismus-Frage
und durch die metaphysische Zuspitzung des Systems nach dem
«Unbewußten» verschieden. Was den letzteren Punkt betrifft,
wolle man weiter unten nachsehen. In bezug auf den Pessimismus aber
sei folgendes bemerkt: Was Hartmann als Gründe für den
Pessimismus anführt, d. h. für die Ansicht, daß uns nichts in
der Welt voll befriedigen kann, daß stets die Unlust die Lust
überwiegt, das möchte ich geradezu als das Glück der Menschheit
bezeichnen. Was er vorbringt, sind für mich nur Beweise dafür,
daß es vergebens ist, eine Glückseligkeit zu erstreben. Wir
müssen eben ein solches Bestreben ganz aufgeben und unsere Bestimmung
rein darinnen suchen, selbstlos jene idealen Aufgaben zu erfüllen, die
uns unsere Vernunft vorzeichnet. Was heißt das anders, als
daß wir nur im Schaffen, in rastloser Tätigkeit unser
Glück suchen sollen?
Nur der Tätige und zwar der selbstlos Tätige, der mit seiner Tätigkeit
keinen Lohn anstrebt, erfüllt seine Bestimmung. Es ist töricht, für
seine Tätigkeit belohnt sein zu wollen; es gibt keinen wahren Lohn.
Hier sollte Hartmann weiterbauen. Er sollte zeigen, was denn unter
solchen Voraussetzungen die einzige Triebfeder aller unserer
Handlungen sein kann. Es kann, wenn die Aussicht auf ein erstrebtes
Ziel wegfällt, nur die selbstlose Hingabe an das Objekt sein, dem man
seine Tätigkeit widmet, es kann nur die Liebe sein. Nur eine
Handlung aus Liebe kann eine sittliche sein. Die Idee muß
in der Wissenschaft, die Liebe im Handeln unser Leitstern sein.
Und damit sind wir wieder bei Goethe angelangt. «Dem tätigen Menschen
kommt es darauf an, daß er das Rechte tue, ob das Rechte
geschehe, soll ihn nicht kümmern.» «Unser ganzes Kunststück besteht
darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.»
(«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 464 u. 441.)
Ich bin zu meiner Weltansicht nicht allein durch das Studium Goethes
oder etwa gar des Hegelianismus gekommen. Ich ging von der
mechanisch-naturalistischen Weltauffassung aus, erkannte aber,
daß bei intensivem Denken dabei nicht stehengeblieben werden
kann. Ich fand, streng nach naturwissenschaftlicher Methode
verfahrend, in dem objektiven Idealismus die einzig befriedigende
Weltansicht. Die Art, wie ein sich selbst verstehendes,
widerspruchsloses Denken zu dieser Weltansicht gelangt, zeigt meine
Erkenntnistheorie.86
Ich fand dann, daß
dieser objektive Idealismus seinem Grundzuge nach die Goethesche
Weltansicht durchtränkt. So geht denn dann freilich der Ausbau meiner
Ansichten seit Jahren parallel mit dem Studium Goethes; und ich habe
nie einen prinzipiellen Gegensatz zwischen meinen
Grundansichten und der Goetheschen wissenschaftlichen Tätigkeit
gefunden. Wenn es mir wenigstens teilweise gelungen ist: erstens
meinen Standpunkt so zu entwickeln, daß er auch in andern
lebendig wird, und zweitens die Überzeugung herbeizuführen, daß
dieser Standpunkt wirklich der Goethesche ist, dann betrachte ich
meine Aufgabe als erfüllt.
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