ÜBER DIE ANORDNUNG
DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN
SCHRIFTEN GOETHES
Bei der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die
ich zu besorgen hatte, leitete mich der Gedanke: das Studium der
Einzelheiten derselben durch die Darlegung der großartigen
Ideenwelt zu beleben, die ihnen zugrunde liegt. Es ist meine
Überzeugung, daß jede einzelne Behauptung Goethes einen völlig
neuen und zwar den richtigen Sinn erhält, wenn man an sie mit
dem vollen Verständnis für seine tiefe und umfassende Weltanschauung
herantritt. Es ist ja nicht zu leugnen: Manche der Aufstellungen
Goethes in naturwissenschaftlicher Beziehung erscheint ganz
bedeutungslos, wenn man sie vom Standpunkte der mittlerweile so
fortgeschrittenen Wissenschaft ansieht. Das kommt aber gar nicht
weiter in Betracht. Es handelt sich darum: was sie innerhalb der
Weltansicht Goethes zu bedeuten hat. Auf der geistigen Höhe, auf
der der Dichter steht, ist auch das wissenschaftliche Bedürfnis ein
gesteigertes. Ohne wissenschaftliches Bedürfnis gibt es aber keine
Wissenschaft. Was für Fragen stellte Goethe an die Natur? Das
ist das Wichtige. Ob und wie er sie beantwortet hat, das kommt erst in
zweiter Linie in Betracht. Haben wir heute zulänglichere Mittel, eine
reichere Erfahrung: nun wohl, dann wird es uns gelingen,
ausreichendere Lösungen der von ihm gestellten Probleme zu finden.
Daß wir aber nicht mehr vermögen als eben dies: die von ihm
vorgezeichneten Bahnen mit unseren größeren Mitteln zu wandeln,
das sollen meine Darstellungen zeigen. Was wir von ihm lernen sollen,
ist also vor allem das, wie man an die Natur Fragen zu stellen
hat.
Man übersieht die Hauptsache, wenn man Goethe nichts anderes
zugesteht, als daß er manche Beobachtung aufzuweisen habe, die
von der späteren Forschung wieder gefunden, heute einen wichtigen
Bestandteil unserer Weltanschauung bildet. Bei ihm kommt es gar nicht
auf das überlieferte Ergebnis an, sondern auf die Art, wie er dazu
gelangt. Treffend sagt er selbst: «Es ist mit Meinungen, die man wagt,
wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt; sie können geschlagen
werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.»
[«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 362.] Er kam zu
einer durchaus naturgemäßen Methode. Er suchte diese Methode mit
jenen Hilfsmitteln, die ihm zu Gebote standen, in die Wissenschaft
einzuführen. Es mag nun sein, daß die hierdurch gewonnenen
Einzelergebnisse durch die fortschreitende Wissenschaft umgewandelt
worden sind; aber der wissenschaftliche Prozeß, der damit
eingeleitet wurde, ist ein dauernder Gewinn der Wissenschaft.
Diese Gesichtspunkte konnten nicht ohne Einfluß auf die
Anordnung des herauszugebenden Stoffes bleiben. Man kann mit einigem
Schein von Recht fragen, warum ich, da ich schon einmal von der bisher
üblichen Einteilung der Schriften abgegangen bin, nicht gleich jenen
Weg betreten habe, der sich vor allem zu empfehlen scheint: die
allgemein-naturwissenschaftlichen Schriften im 1. Bande, die
organischen, mineralogischen und meteorologischen im 2. und die
physikalischen Schriften im 3. Bande zu bringen. Es enthielte dann der
1. Band die allgemeinen Gesichtspunkte, die folgenden die besonderen
Ausführungen der Grundgedanken. So verlockend das nun auch ist: es
hätte mir nie einfallen können, diese Anordnung zu treffen. Ich hätte
damit - um auf das Gleichnis Goethes noch einmal zurückzukommen -
nicht erreichen können, was ich wollte: an den Steinen, die voran
im Brette gewagt, den Plan des Spieles erkenntlich zu machen.
Nichts lag Goethe ferner, als in bewußter Weise von allgemeinen
Begriffen auszugehen. Er geht immer von konkreten Tatsachen
aus, vergleicht sie, ordnet sie. Darüber geht ihm die
Ideengrundlage derselben auf. Es ist ein großer Irrtum, zu
behaupten, nicht die Ideen seien das treibende Prinzip in Goethes
Schaffen, weil er über die Idee des Faust jene sattsam bekannte
Bemerkung gemacht. In der Betrachtung der Dinge bleibt ihm nach
Abstreifung alles Zufälligen, Unwesentlichen etwas zurück, das Idee
in seinem Sinne ist. Die Methode, der sich Goethe bedient,
bleibt selbst da noch die auf reine Erfahrung gebaute, wo er sich zur
Idee erhebt. Denn nirgends läßt er eine subjektive Zutat
in seine Forschung einfließen. Er befreit nur die Erscheinungen
von dem Zufälligen, um zu ihrer tieferen Grundlage vorzudringen. Sein
Subjekt hat keine andere Aufgabe, als das Objekt so zurechtzulegen,
daß es sein Innerstes verrät. «Das Wahre ist gottähnlich; es
erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen
erraten.» [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 378.]
Es kommt darauf an, diese Manifestationen in solchen Zusammenhang zu
bringen, daß das «Wahre» erscheint. In der Tatsache, der wir
beobachtend gegenübertreten, steckt schon das Wahre, die Idee;
wir müssen nur die Hülle entfernen, die es uns verbirgt. In der
Entfernung dieser Hülle besteht die wahre wissenschaftliche Methode.
Goethe schlug diesen Weg ein. Und wir müssen ihm auf demselben folgen,
wenn wir ganz in ihn eindringen wollen. Mit anderen Worten: Wir müssen
mit Goethes Studien über die organische Natur beginnen, weil er mit
ihnen begann. Hier enthüllte sich ihm zuerst ein reicher Gehalt
von Ideen, die wir dann als Bestandteile in seinen allgemeinen und
methodischen Aufsätzen wiederfinden. Wollen wir die letzteren
verstehen, müssen wir uns mit jenem Gehalte bereits erfüllt haben. Die
Aufsätze über Methode sind dem bloße Gedankengewebe, der
nicht den Weg nachzugehen bemüht ist, den Goethe gegangen. Was dann
die Studien über physikalische Erscheinungen betrifft, so entstanden
sie bei Goethe erst als die Konsequenz seiner Naturanschauung.
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