VON DER KUNST
ZUR WISSENSCHAFT
Wer sich die Aufgabe stellt, die Geistesentwicklung eines Denkers
darzustellen, hat uns die besondere Richtung desselben auf
psychologischem Wege aus den in seiner Biographie gegebenen Tatsachen
zu erklären. Bei einer Darstellung von Goethe, dem Denker, ist
die Aufgabe damit noch nicht erschöpft. Hier wird nicht nur nach einer
Rechtfertigung und Erklärung seiner speziellen wissenschaftlichen
Richtung, sondern und vorzüglich auch darnach gefragt, wie dieser
Genius überhaupt dazu kam, auf wissenschaftlichem Gebiete tätig
zu sein. Goethe hatte durch die falsche Ansicht seiner Zeitgenossen
viel zu leiden, die sich nicht denken konnten, daß dichterisches
Schaffen und wissenschaftliche Forschung sich in einem Geiste
vereinigen lasse. Es handelt sich hier vor allem um Beantwortung der
Frage: Welches sind die Motive, die den großen Dichter zur
Wissenschaft getrieben? Liegt der Übergang von Kunst zur Wissenschaft
rein in seiner subjektiven Neigung, in persönlicher Willkür? Oder war
Goethes künstlerische Richtung eine solche, daß sie ihn
mit Notwendigkeit zur Wissenschaft treiben mußte?
Wäre das erstere der Fall, dann hätte die gleichzeitige Hingabe an
Kunst und Wissenschaft bloß die Bedeutung einer zufälligen
persönlichen Begeisterung für beide Richtungen des menschlichen
Strebens; wir hätten es mit einem Dichter zu tun, der zufällig auch
ein Denker ist, und es hätte wohl sein können, daß bei einem
etwas andern Lebensgange Goethe dieselben Wege in der Dichtung
eingeschlagen, ohne daß er sich um die Wissenschaft auch nur
bekümmert hätte. Beide Seiten dieses Mannes interessierten uns dann
abgesondert als solche, beide hätten vielleicht für sich ein gut Teil
den Fortschritt der Menschheit gefördert. Alles das wäre aber auch der
Fall, wenn die beiden Geistesrichtungen auf zwei Persönlichkeiten
verteilt gewesen wären. Der Dichter Goethe hätte mit dem
Denker Goethe nichts zu tun.
Ist aber das zweite der Fall, dann war Goethes künstlerische Richtung
eine solche, daß sie von innen heraus notwendig dazu drängte,
durch wissenschaftliches Denken ergänzt zu werden. Dann ist es
schlechterdings undenkbar, daß die beiden Richtungen auf zwei
Persönlichkeiten verteilt gewesen wären. Dann interessiert uns jede
der beiden Richtungen nicht nur um ihrer selbst willen, sondern
auch wegen ihrer Beziehung auf die andere. Dann gibt es einen
objektiven Übergang von Kunst zur Wissenschaft, einen Punkt, wo
sich die beiden so berühren, daß Vollendung in dem einen Gebiete
Vollendung in dem andern fordert. Goethe folgte dann nicht einer
persönlichen Neigung, sondern die Kunstrichtung, der er sich ergab,
weckte in ihm Bedürfnisse, denen nur in wissenschaftlicher Betätigung
Befriedigung werden konnte.
Unsere Zeit glaubt das Richtige zu treffen, wenn sie Kunst und
Wissenschaft möglichst weit auseinanderhält. Sie sollen zwei
vollkommen entgegengesetzte Pole in der Kulturentwicklung der
Menschheit sein. Die Wissenschaft soll uns - so denkt man - ein
möglichst objektives Weltbild entwerfen, sie soll uns die Wirklichkeit
im Spiegel zeigen oder mit andern Worten: sie soll mit
Entäußerung aller subjektiven Willkür sich rein an das
Gegebene halten. Für ihre Gesetze ist die objektive Welt
maßgebend, ihr hat sie sich zu unterwerfen. Sie soll den
Maßstab des Wahren und Falschen ganz und gar aus den Objekten
der Erfahrung nehmen.
Ganz anders soll es bei den Schöpfungen der Kunst sein. Ihnen wird von
der selbstschöpferischen Kraft des menschlichen Geistes das Gesetz
gegeben. Für die Wissenschaft wäre jedes Einmischen der menschlichen
Subjektivität Verfälschung der Wirklichkeit, Überschreitung der
Erfahrung; die Kunst dagegen wächst auf dem Felde genialischer
Subjektivität. Ihre Schöpfungen sind Gebilde menschlicher
Einbildungskraft, nicht Spiegelbilder der Außenwelt. Außer
uns, im objektiven Sein liegt der Ursprung wissenschaftlicher Gesetze;
in uns, in unserer Individualität der der ästhetischen. Daher haben
die letzteren nicht den geringsten Erkenntniswert, sie erzeugen
Illusionen ohne den geringsten Wirklichkeitsfaktor.
Wer die Sache so faßt, wird nie Klarheit darüber gewinnen,
welches Verhältnis Goethesche Dichtung zu Goethescher Wissenschaft
hat. Dadurch wird aber beides mißverstanden. Die welthistorische
Bedeutung Goethes liegt ja gerade darinnen, daß seine Kunst
unmittelbar aus dem Urquell des Seins fließt, daß
sie nichts Illusorisches, nichts Subjektives an sich trägt, sondern
als die Künderin jener Gesetzlichkeit erscheint, die der Dichter in
den Tiefen des Naturwirkens dem Weltgeiste abgelauscht hat. Auf dieser
Stufe wird die Kunst die Interpretin der Weltgeheimnisse, wie es die
Wissenschaft in anderem Sinne ist.
So hat Goethe auch stets die Kunst aufgefaßt. Sie war ihm die
eine Offenbarung des Urgesetzes der Welt, die Wissenschaft war
ihm die andere. Für ihn entsprangen Kunst und Wissenschaft aus
einer Quelle. Während der Forscher untertaucht in die Tiefen
der Wirklichkeit, um die treibenden Kräfte derselben in Form von
Gedanken auszusprechen, sucht der Künstler dieselben treibenden
Gewalten seinem Stoffe einzubilden.
«Ich denke, Wissenschaft könnte man die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet; Wissenschaft wäre Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus, deshalb man sie auch praktische Wissenschaft nennen könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das Theorem, Kunst das Problem.»87
Was die Wissenschaft als
Idee (Theorem) ausspricht, das soll die Kunst dem Stoffe einprägen,
das soll ihr Problem werden. «In den Werken des Menschen wie in denen
der Natur sind die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert»,
sagt Goethe.88
Überall sucht er nicht nur das, was den Sinnen in
der Außenwelt gegeben ist, sondern die Tendenz, durch die es
geworden.
Diese wissenschaftlich aufzufassen, künstlerisch zu gestalten,
das ist seine Sendung. Bei ihren eigenen Bildungen gerät die Natur
«auf Spezifikationen wie in eine Sackgasse»; man muß auf das
zurückgehen, was hätte werden sollen, wenn die Tendenz sich hätte
ungehindert entfalten können, so wie der Mathematiker nie dieses oder
jenes Dreieck, sondern immer jene Gesetzmäßigkeit im Auge hat,
die jedem möglichen Dreiecke zugrunde liegt. Nicht was die
Natur geschaffen, sondern nach welchem Prinzipe sie es geschaffen,
darauf kommt es an. Dann ist dieses Prinzip so auszugestalten, wie es
seiner eigenen Natur gemäß ist, nicht wie es in dem von tausend
Zufälligkeiten abhängigen einzelnen Gebilde der Natur geschehen ist.
Der Künstler hat «aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne
zu entwickeln».
Goethe und Schiller nehmen die Kunst in ihrer vollen Tiefe. Das Schöne
ist «eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen
Erscheinung ewig wären verborgen geblieben». Ein Blick in des Dichters
«Italienische Reise» genügt, um zu erkennen, daß das nicht etwa
eine Phrase, sondern tiefinnerliche Überzeugung ist. Wenn er sagt:
«Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von
Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen
hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt
zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott», so geht daraus hervor,
daß ihm Natur und Kunst gleichen Ursprunges sind. Bezüglich der
Kunst der Griechen sagt er in dieser Richtung folgendes: «Ich habe die
Vermutung, daß sie nach den Gesetzen verfuhren, nach welchen die
Natur selbst verfährt und denen ich auf der Spur bin.» Und von
Shakespeare: «Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist; er durchdringt
die Welt wie jener, beiden ist nichts verborgen; aber wenn des
Weltgeistes Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu
bewahren, so ist der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu
verschwätzen.»
Hier ist auch an den Ausspruch von der «frohen Lebensepoche» zu
erinnern, die der Dichter Kants «Kritik der Urteilskraft» schuldig
geworden ist, und die er ja doch eigentlich nur dem Umstande dankte,
daß er hier «Kunst- und Naturerzeugnisse eins behandelt sah wie
das andere, daß sich ästhetische und teleologische Urteilskraft
wechselweise erleuchteten.» «Mich freute», sagt der Dichter,
«daß Dichtkunst und vergleichende Naturkunde so nah miteinander
verwandt seien, indem beide sich derselben Urteilskraft unterwerfen.»
In dem Aufsatz: «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches
Wort» [Natw. Schr., 2. Bd., S. 31ff.] stellt Goethe ganz in derselben
Absicht seinem gegenständlichen Denken sein gegenständliches
Dichten gegenüber.
So erscheint Goethe die Kunst ebenso objektiv wie die Wissenschaft.
Nur die Form beider ist verschieden. Beide erscheinen als der
Ausfluß eines Wesens, als notwendige Stufen einer
Entwicklung. Jede Ansicht, die der Kunst oder dem Schönen eine
isolierte Stellung außerhalb des Gesamtbildes
menschlicher Entwicklung anweist, widerstrebt ihm. So sagt er:
«Im Ästhetischen tut man nicht wohl, zu sagen: die Idee des Schönen; dadurch vereinzelt man das Schöne, das doch einzeln nicht gedacht werden kann»89
oder:
«Der Stil ruht auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.»90
Die Kunst beruht also auf dem
Erkennen. Das letztere hat die Aufgabe, die Ordnung, nach der die
Welt gefügt ist, im Gedanken nachzuschaffen; die Kunst die, im
einzelnen die Idee dieser Ordnung des Weltganzen auszubilden. Alles,
was dem Künstler an Weltgesetzlichkeit erreichbar ist, das legt er in
sein Werk. Dies erscheint somit als eine Welt im kleinen. Hierin liegt
der Grund dafür, warum sich die Goethesche Kunstrichtung durch
Wissenschaft ergänzen muß. Sie ist schon als Kunst ein Erkennen.
Goethe wollte eben weder Wissenschaft noch Kunst; er wollte die
Idee. Und diese spricht er aus oder stellt er dar, nach der Seite,
nach der sie sich ihm gerade darbietet. Goethe suchte sich mit dem
Weltgeiste zu verbünden und uns dessen Walten zu offenbaren; er tat es
durch das Medium der Kunst oder der Wissenschaft, je nach Erfordernis.
Nicht einseitiges Kunst- oder wissenschaftliches Streben lag in
Goethe, sondern der rastlose Drang, «alle Wirkenskraft und Samen» zu
schauen.
Dabei ist Goethe doch kein philosophischer Dichter, denn seine
Dichtungen nehmen nicht den Umweg durch den Gedanken zur
sinnenfälligen Gestaltung; sondern sie strömen unmittelbar aus der
Quelle alles Werdens, wie seine Forschungen nicht mit dichterischer
Phantasie durchtränkt sind, sondern unmittelbar auf dem Gewahrwerden
der Ideen beruhen. Ohne daß Goethe ein philosophischer Dichter
ist, erscheint seine Grundrichtung für den philosophischen Betrachter
als eine philosophische.
Damit nimmt die Frage, ob Goethes wissenschaftliche Arbeiten
philosophischen Wert haben oder nicht, eine durchaus neue Gestalt an.
Es handelt sich darum, von dem, was vorliegt, zurück auf die
Prinzipien zu schließen. Was müssen wir voraussetzen, daß
uns Goethes wissenschaftliche Aufstellungen als Folge dieser
Voraussetzungen erscheinen? Wir müssen aussprechen, was Goethe
unausgesprochen gelassen hat, was aber allein seine Anschauungen
verständlich macht.
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