GOETHES ERKENNTNISTHEORIE
Wir haben schon im vorigen Kapitel angedeutet, daß Goethes
wissenschaftliche Weltanschauung als abgeschlossenes Ganzes, aus einem
Prinzipe entwickelt, nicht vorliegt. Wir haben es nur mit einzelnen
Manifestationen zu tun, aus denen wir sehen, wie sich dieser oder
jener Gedanke im Lichte seiner Denkweise ausnimmt. Es ist dies der
Fall in seinen wissenschaftlichen Werken, in den kurzen
Andeutungen über diesen oder jenen Begriff, wie er sie in den
«Sprüchen in Prosa» gibt, und in den Briefen an seine Freunde. Die
künstlerische Ausgestaltung seiner Weltanschauung endlich, die
uns ja auch die mannigfaltigsten Rückschlüsse auf seine Grundideen
gestattet, liegt uns in seinen Dichtungen vor. Damit aber, daß
wir rückhaltlos zugeben, daß Goethes Grundprinzipien von ihm nie
als zusammenhängendes Ganzes ausgesprochen worden sind, wollen wir
durchaus nicht zugleich die Behauptung gerechtfertigt finden,
daß Goethes Weltanschauung nicht aus einem ideellen Zentrum
entspringt, das sich in eine streng wissenschaftliche Fassung bringen
läßt.
Wir müssen uns vor allem klar darüber sein, um was es sich hierbei
handelt. Was in Goethes Geist als das innere, treibende Prinzip in
allen seinen Schöpfungen wirkte, sie durchdrang und belebte, konnte
sich als solches, in seiner Besonderheit nicht in den
Vordergrund drängen. Eben weil es bei Goethe alles durchdringt,
konnte es nicht als einzelnes zu gleicher Zeit vor sein
Bewußtsein treten. Wäre das letztere der Fall gewesen, dann
hätte es als Abgeschlosse nes, Ruhendes vor seinen Geist treten
müssen, anstatt daß es, wie es wirklich der Fall war, stets ein
Tätiges, Wirkendes war. Dem Ausleger Goethes obliegt es, den
mannigfachen Betätigungen und Offenbarungen dieses Prinzipes,
seinem stetigen Flusse, zu folgen, um es dann in ideellen Umrissen
auch als abgeschlossenes Ganzes zu zeichnen. Wenn es uns gelingt, den
wissenschaftlichen Inhalt dieses Prinzipes klar und bestimmt
auszusprechen und allseitig in wissenschaftlicher Folgerichtigkeit zu
entwickeln, dann werden uns die exoterischen Ausführungen Goethes erst
in ihrer wahren Beleuchtung erscheinen, weil wir sie als in ihrer
Entwicklung, von einem gemeinsamen Zentrum aus, erblicken werden.
In diesem Kapitel soll uns Goethes Erkenntnistheorie beschäftigen. Was
die Aufgabe dieser Wissenschaft anlangt, so ist leider seit Kant eine
Verwirrung eingetreten, die wir hier kurz andeuten müssen, bevor wir
zu dem Verhältnisse Goethes zu derselben übergehen.
Kant glaubte, die Philosophie vor ihm habe sich deshalb auf einem
Irrwege befunden, weil sie die Erkenntnis des Wesens der Dinge
anstrebte, ohne sich zuerst zu fragen, wie eine solche Erkenntnis
möglich sei. Er sah das Grundübel alles Philosophierens vor ihm darin,
daß man über die Natur des zu erkennenden Objektes nachdachte,
bevor man das Erkennen selbst in bezug auf seine Fähigkeit
geprüft hatte. Diese letztere Prüfung machte er daher zum
philosophischen Grundproblem und inaugurierte damit eine neue
Ideenrichtung. Die auf Kant fussende Philosophie hat seitdem
unsägliche wissenschaftliche Kraft auf die Beantwortung dieser Frage
verwendet; und heute mehr als je sucht man in philosophischen Kreisen
der Lösung dieser Aufgabe näherzukommen. Die Erkenntnistheorie aber,
die in der Gegenwart geradezu zur wissenschaftlichen Zeitfrage
geworden ist, soll nichts weiter sein als die ausführliche
Antwort auf die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? Auf Goethe
angewendet, würde dann die Frage heißen: Wie dachte sich
Goethe die Möglichkeit einer Erkenntnis?
Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus, daß die
Beantwortung der gestellten Frage durchaus nicht an die Spitze der
Erkenntnistheorie gestellt werden darf. Wenn ich nach der Möglichkeit
eines Dinges frage, dann muß ich vorher dasselbe erst untersucht
haben. Wie aber, wenn sich der Begriff der Erkenntnis, den Kant und
seine Anhänger haben, und von dem sie fragen, ob er möglich ist oder
nicht, selbst als durchaus unhaltbar erwiese, wenn er vor einer
eindringenden Kritik nicht standhalten könnte? Wenn unser
Erkenntnisprozeß etwas ganz anderes wäre als das von Kant
Definierte? Dann wäre die ganze Arbeit nichtig. Kant hat den
landläufigen Begriff des Erkennens angenommen und nach seiner
Möglichkeit gefragt. Nach diesem Begriffe soll das Erkennen in
einem Abbilden von außer dem Bewußtsein stehenden,
an sich bestehenden Seinsverhältnissen bestehen. Man wird aber
so lange über die Möglichkeit der Erkenntnis nichts ausmachen können,
als man nicht die Frage nach dem Was des Erkennens selbst
beantwortet hat. Damit wird die Frage: Was ist das Erkennen?
zur ersten der Erkenntnistheorie gemacht. In bezug auf Goethe wird
es also unsere Aufgabe sein, zu zeigen, was sich Goethe unter
Erkennen vorstellte.
Die Bildung eines Einzelurteiles, die Feststellung einer Tatsache oder
Tatsachenreihe, die man nach Kant schon Erkenntnis nennen könnte, ist
im Sinne Goethes noch durchaus nicht Erkennen. Er hätte sonst vom Stil
nicht gesagt, daß er auf den tiefsten Grundfesten der
Erkenntnis beruhe und dadurch im Gegensatze zur einfachen
Naturnachahmung steht, bei welcher der Künstler sich an die
Gegenstände der Natur wendet, mit Treue und Fleiß ihre
Gestalten, ihre Farben auf das genaueste nachahmt, sich gewissenhaft
niemals von ihr entfernt. Dieses Entfernen von der
Sinnenwelt in ihrer Unmittelbarkeit ist bezeichnend für
Goethes Ansicht vom wirklichen Erkennen. Das unmittelbar
Gegebene ist die Erfahrung. Im Erkennen schaffen wir
aber ein Bild von dem unmittelbar Gegebenen, das wesentlich
mehr enthält, als was die Sinne, die doch die Vermittler aller
Erfahrung sind, liefern können. Wir müssen, um im Goetheschen Sinne
die Natur zu erkennen, sie nicht in ihrer Tatsächlichkeit
festhalten, sondern sie muß sich im Prozesse des Erkennens
als ein wesentlich Höheres entpuppen, als was sie im ersten
Gegenübertreten erscheint. Die Millsche Schule nimmt an, alles, was
wir mit der Erfahrung tun können, sei ein bloßes
Zusammenfassen einzelner Dinge in Gruppen, die wir dann als
abstrakte Begriffe festhielten. Das ist kein wahres Erkennen.
Denn jene abstrakten Begriffe Mills haben keine andere Aufgabe, als
das zusammenzufassen, was sich den Sinnen darbietet mit allen
Qualitäten der unmittelbaren Erfahrung. Ein wahres Erkennen muß
zugeben, daß die unmittelbare Gestalt der sinnenfällig-gegebenen
Welt noch nicht ihre wesentliche ist, sondern daß sich uns diese
erst im Prozesse des Erkennens enthüllt. Das Erkennen muß uns
das liefern, was uns die Sinnenerfahrung vorenthält, was aber doch
wirklich ist. Das Millsche Erkennen ist deshalb kein wahrhaftes
Erkennen, weil es nur ein ausgebildetes sinnliches Erfahren ist.
Es läßt die Dinge so, wie sie Augen und Ohren liefern. Nicht das
Gebiet des Erfahrbaren sollen wir überschreiten und uns in ein
Phantasiegebilde verlieren, wie es die Metaphysiker älterer und
neuerer Zeit liebten, sondern wir sollen von der Gestalt des
Erfahrbaren, wie sie sich uns in dem für die Sinne Gegebenen
darstellt, zu einer solchen fortschreiten, die unsere Vernunft
befriedigt.
Es tritt nun die Frage an uns heran: Wie verhält sich das unmittelbar
Erfahrene zu dem im Prozesse des Erkennens entstandenen Bild der
Erfahrung? Wir wollen diese Frage zuerst ganz selbständig beantworten
und dann zeigen, daß die Antwort, die wir geben, eine Konsequenz
der Goetheschen Weltanschauung ist.
Zunächst stellt sich uns die Welt als eine Mannigfaltigkeit im
Raum und in der Zeit dar. Wir nehmen räumlich und zeitlich gesonderte
Einzelheiten wahr: da diese Farbe, dort jene Gestalt; jetzt diesen
Ton, dann jenes Geräusch usw. Nehmen wir zuerst ein Beispiel aus der
unorganischen Welt und sondern wir ganz genau das, was wir mit den
Sinnen wahrnehmen, ab von dem, was der Erkenntnisprozeß
liefert. Wir sehen einen Stein, der gegen eine Glastafel fliegt,
dieselbe durchbohrt und dann nach einer gewissen Zeit zur Erde
fällt. Wir fragen, was ist hier in unmittelbarer Erfahrung
gegeben? Eine Reihe aufeinanderfolgender Gesichtswahrnehmungen,
ausgehend von den Orten, die der Stein nacheinander eingenommen hat,
eine Reihe von Schallwahrnehmungen beim Zerbrechen der Scheibe, das
Hinwegfliegen der Glasscherben usw. Wenn man sich nicht täuschen will,
so muß man sagen: der unmittelbaren Erfahrung ist
nichts weiter gegeben als dieses zusammenhangslose Aggregat von
Wahrnehmungsakten.
Dieselbe strenge Abgrenzung des unmittelbar Wahrgenommenen (der
sinnlichen Erfahrung) findet man auch bei Volkelt in seiner
ausgezeichneten Schrift «Kants Erkenntnistheorie nach ihren
Grundprinzipien analysiert» [Hamburg 1879], die zu dem Besten
gehört, was die neuere Philosophie hervorgebracht hat. Es ist
aber durchaus nicht einzusehen, warum Volkelt die zusammenhangslosen
Wahrnehmungsbilder als Vorstellungen auffaßt und sich damit
von vornherein den Weg zu einer möglichen objektiven Erkenntnis
abschneidet. Die unmittelbare Erfahrung von vornherein als ein Ganzes
von Vorstellungen auffassen, ist doch entschieden ein Vorurteil. Wenn
ich irgendeinen Gegenstand vor mir habe, so sehe ich an ihm
Gestalt, Farbe, ich nehme eine gewisse Härte an ihm wahr usw. Ob
dieses Aggregat von meinen Sinnen gegebenen Bildern ein außer
mir Liegendes, ob es bloßes Vorstellungsgebilde ist: ich
weiß es von vornherein nicht. So wenig ich von vornherein -
ohne denkende Erwägung - die Erwärmung des Steines als Folge der
erwärmenden Sonnenstrahlen erkenne, so wenig weiß ich, in
welcher Beziehung die mir gegebene Welt zu meinem Vorstellungsvermögen
steht. Volkelt stellt an die Spitze der Erkenntnistheorie den Satz:
«daß wir eine Mannigfaltigkeit so und so beschaffener
Vorstellungen haben». Daß wir eine Mannigfaltigkeit gegeben
haben, ist richtig; aber woher wissen wir, daß diese
Mannigfaltigkeit aus Vorstellungen besteht? Volkelt tut in der
Tat etwas sehr Unstatthaftes, wenn er erst behauptet: wir müssen
festhalten, was uns in unmittelbarer Erfahrung gegeben ist, und dann
die Voraussetzung, die nicht gegeben sein kann, macht, daß die
Erfahrungswelt Vorstellungswelt ist. Wenn wir eine solche
Voraussetzung machen wie es die Volkeltsche ist, dann sind wir
sofort zur oben gekennzeichneten falschen Fragestellung in der
Erkenntnistheorie gezwungen. Sind unsere Wahrnehmungen Vorstellungen,
dann ist unser gesamtes Wissen Vorstellungswissen und es entsteht die
Frage: Wie ist eine Übereinstimmung der Vorstellung mit dem
Gegenstande möglich, den wir vorstellen?
Wo aber hat je eine wirkliche Wissenschaft mit dieser Frage etwas zu
tun? Man betrachte die Mathematik! Sie hat ein Gebilde vor sich, das
durch den Schnitt dreier Geraden entstanden ist: ein Dreieck. Die
drei Winkel «, p, y stehen in einer konstanten Beziehung; sie
machen zusammen einen gestreckten Winkel oder zwei Rechte aus
1800). Das ist ein mathematisches Urteil. Wahrgenommen
sind die Winkel t:, p, y. Auf Grund denkender Erwägung stellt
sich das obige Erkenntnisurteil ein. Es stellt einen Zusammenhang
dreier Wahrnehmungsbilder her. Von einem Reflektieren auf irgendeinen
hinter der Vorstellung des Dreieckes stehenden Gegenstand ist nicht
die Rede. Und so machen es alle Wissenschaften. Sie spinnen Fäden von
Vorstellungsbild zu Vorstellungsbild, schaffen Ordnung in dem, was der
unmittelbaren Wahrnehmung ein Chaos ist; nirgends aber kommt etwas
außer dem Gegebenen in Betracht. Wahrheit ist nicht
Übereinstimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstande, sondern
der Ausdruck eines Verhältnisses zweier wahrgenommener Fakta.
Wir kommen auf unser Beispiel von dem geworfenen Stein zurück. Wir
verbinden die Gesichtswahrnehmungen, die von den einzelnen Orten, an
denen sich der Stein befindet, ausgehen. Diese Verbindung gibt
eine krumme Linie (Wurflinie); wir erhalten das Gesetz des schiefen
Wurfes; wenn wir ferner die materielle Beschaffenheit des Glases in
Betracht ziehen, dann den fliegenden Stein als Ursache, das
Zerbrechen der Scheibe als Wirkung auffassen usw., so haben wir
das Gegebene mit Begriffen so durchtränkt, daß es uns
verständlich wird. Diese ganze Arbeit, welche die Mannigfaltigkeit der
Wahrnehmung in eine begriffliche Einheit zusammenfaßt,
vollzieht sich innerhalb unseres Bewußtseins. Der ideelle
Zusammenhang der Wahrnehmungsbilder ist nicht durch die Sinne
gegeben, sondern von unserem Geiste schlechterdings selbständig
erfaßt. Für ein mit bloßem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen
begabtes Wesen wäre diese ganze Arbeit einfach nicht da. Es würde für
dasselbe die Außenwelt einfach jenes zusammenhangslose
Wahrnehmungschaos bleiben, das wir als das uns zunächst (unmittelbar)
Gegenübertretende charakterisiert haben.
So ist also der Ort, wo die Wahrnehmungsbilder in ihrem ideellen
Zusammenhange erscheinen, wo den ersteren der letztere als deren
begriffliches Gegenbild entgegengehalten wird, das
menschliche Bewußtsein. Wenn nun auch dieser begriffliche
(gesetzliche) Zusammenhang seiner substantiellen Beschaffenheit
nach im Bewußtsein produziert ist, so folgt daraus noch durchaus
nicht, daß er auch seiner Bedeutung nach nur subjektiv ist. Er
entspringt vielmehr ebensosehr seinem Inhalte nach aus der
Objektivität, wie er seiner begrifflichen Form nach aus dem
Bewußtsein entspringt. Er ist die notwendige objektive
Ergänzung des Wahrnehmungsbildes. Gerade deswegen, weil das
Wahrnehmungsbild ein unvollständiges, in sich unvollendetes ist,
sind wir gezwungen, demselben als sinnlicher Erfahrung die
notwendige Ergänzung hinzuzufügen. Wäre das unmittelbar Gegebene
sich selbst so weit genug, daß uns nicht an jedem Punkte
desselben ein Problem erwüchse, wir brauchten nimmermehr über
dasselbe hinauszugehen. Aber die Wahrnehmungsbilder folgen
durchaus nicht so aufeinander und auseinander, daß
wir sie selbst als gegenseitige Folgen voneinander ansehen
können; sie folgen vielmehr aus etwas anderem, was der sinnlichen
Auffassung verschlossen ist. Es tritt ihnen das begriffliche Auffassen
gegenüber und erfaßt auch jenen Teil der Wirklichkeit, der den
Sinnen verschlossen bleibt. Das Erkennen wäre schlechterdings ein
nutzloser Prozeß, wenn in der Sinnenerfahrung uns ein
Vollendetes überliefert würde. Jedes Zusammenfassen, Ordnen,
Gruppieren der sinnenfälligen Tatsachen hätte keinerlei
objektiven Wert. Das Erkennen hat nur einen Sinn, wenn wir die den
Sinnen gegebene Gestalt nicht als eine vollendete gelten lassen, wenn
sie uns eine Halbheit ist, die noch Höheres in sich birgt, was aber
nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. Da tritt der Geist ein. Er
nimmt jenes Höhere wahr. Deshalb darf das Denken auch nicht so
gefaßt werden, als wenn es zu dem Inhalte der Wirklichkeit
etwas hinzubrächte. Es ist nicht mehr und nicht weniger Organ des
Wahrnehmens wie Auge und Ohr. So wie jenes Farben, dieses Töne, so
nimmt das Denken Ideen wahr. Der Idealismus ist deshalb mit dem
Prinzipe des empirischen Forschens ganz gut vereinbar. Die Idee ist
nicht Inhalt des subjektiven Denkens, sondern Forschungsresultat.
Die Wirklichkeit tritt uns, indem wir uns ihr mit offenen Sinnen
entgegenstellen, gegenüber. Sie tritt uns in einer Gestalt gegenüber,
die wir nicht als ihre wahre ansehen können; die letztere
erreichen wir erst, wenn wir unser Denken in Fluß bringen.
Erkennen heißt: zu der halben Wirklichkeit der
Sinnenerfahrung die Wahrnehmung des Denkens hinzufügen, auf daß
ihr Bild vollständig werde.
Es kommt alles darauf an, wie man sich das Verhältnis von Idee und
sinnenfälliger Wirklichkeit denkt. Unter der letzteren will ich hier
die Gesamtheit der durch die Sinne dem Menschen vermittelten
Anschauungen verstehen. Da ist die am weitesten verbreitete Ansicht
die, daß der Begriff bloß ein dem Bewußtsein
angehöriges Mittel sei, durch das es sich der Daten der Wirklichkeit
bemächtigt. Das Wesen der Wirklichkeit liegt im Ansich der Dinge
selbst, so daß, wenn wir wirklich imstande wären, auf den
Urgrund der Dinge zu kommen, wir uns doch nur des begrifflichen
Abbildes desselben und keineswegs seiner selbst bemächtigen könnten.
Da sind also zwei ganz getrennte Welten vorausgesetzt. Die
objektive Außenwelt, die ihr Wesen, die Gründe ihres Daseins in
sich trägt und die subjektiv-ideale Innenwelt, die ein begriffliches
Abbild der Außenwelt sein soll. Die letztere ist für das
Objektive ganz gleichgültig, sie wird von ihm nicht gefordert,
sie ist nur für den erkennenden Menschen da. Die Kongruenz dieser
beiden Welten würde das erkenntnistheoretische Ideal dieser
Grundansicht sein. Ich rechne zur letzteren nicht nur die
naturwissenschaftliche Richtung unserer Zeit, sondern auch die
Philosophie Kants, Schopenhauers und der Neukantianer und nicht
weniger die letzte Phase der Philosophie Schellings. Alle diese
Richtungen stimmen darin überein, daß sie die Essenz der Welt in
einem Transsubjektiven suchen und von ihrem Standpunkte aus
zugeben müssen, daß die subjektiv-ideale Welt, die ihnen
deshalb auch bloße Vorstellungswelt ist, nichts für die
Wirklichkeit selbst, sondern einzig und allein etwas für das
menschliche Bewußtsein bedeutet.
Ich habe bereits angedeutet, daß diese Ansicht zu der Konsequenz
einer vollkommenen Kongruenz von Begriff (Idee) und Anschauung führt.
Was sich in der letzteren vorfindet, müßte in ihrem
begrifflichen Gegenbilde wieder enthalten sein, nur in ideeller Form.
Hinsichtlich des Inhaltes müßten sich die beiden Welten
vollständig decken. Die Verhältnisse der räumlich-zeitlichen
Wirklichkeit müßten sich genau in der Idee wiederholen; nur
daß statt der wahrgenommenen Ausdehnung, Gestalt, Farbe usw. die
entsprechende Vorstellung vorhanden sein müßte. Wenn ich z. B.
ein Dreieck sehe, so müßte ich seine Umrisse, die Größe,
Richtung seiner Seiten usw. im Gedanken verfolgen und mir eine
begriffliche Photographie verfertigen. Bei einem zweiten Dreiecke
müßte ich genau dasselbe machen und so bei jedem
Gegenstande der äußeren und inneren Sinnenwelt. Es würde
sich so jedes Ding seinem Orte, seinen Eigenschaften nach genau in
meinem idealen Weltbilde wiederfinden.
Wir müssen uns nun fragen: Entspricht diese Konsequenz den
Tatsachen? Ganz und gar nicht. Mein Begriff des Dreieckes ist ein
einziger, der alle einzelnen, angeschau ten Dreiecke
umfaßt; und ich mag ihn noch so oft vorstellen, er bleibt
immer derselbe. Meine verschiedenen Vorstellungen des Dreieckes
sind alle miteinander identisch. Ich habe überhaupt nur einen
Begriff des Dreieckes.
In der Wirklichkeit stellt sich jedes Ding dar als ein besonderes,
vollbestimmtes «Dieses», dem ebenso vollbestimmte, mit realer
Wirklichkeit gesättigte «Jene» gegenüberstehen. Dieser
Mannigfaltigkeit tritt der Begriff als strenge Einheit gegenüber. In
ihm gibt es keine Besonderung, keine Teile, er vervielfältigt
sich nicht, ist, unendlich oft vorgestellt, immer derselbe.
Es fragt sich nun: Was ist denn eigentlich der Träger dieser Identität
des Begriffes? Seine Erscheinungsform als Vorstellung kann es in der
Tat nicht sein, denn darin hatte Berkeley wohl vollkommen recht,
daß er behauptet, die eine Vorstellung des Baumes von jetzt habe
mit der desselben Baumes in einer Minute darauf, wenn ich
zwischen beiden die Augen geschlossen halte, absolut nichts zu tun;
ebensowenig die verschiedenen Vorstellungen eines
Gegenstandes bei mehreren Individuen miteinander. Es kann die
Identität also nur im Inhalte der Vorstellung, in deren Was
liegen. Das Bedeutungsvolle, der Gehalt muß mir die
Identität verbürgen.
Damit fällt aber auch jene Ansicht, die dem Begriffe oder der Idee
allen selbständigen Inhalt abspricht. Dieselbe glaubt nämlich,
die begriffliche Einheit sei als solche überhaupt ohne allen Inhalt;
sie entstehe lediglich dadurch, daß gewisse Bestimmungen in
den Erfahrungsobjekten hinweggelassen werden, das Gemeinsame
hingegen herausgehoben und unserem Intellekte einverleibt werde behufs
einer bequemen Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit der
objektiven Wirklichkeit nach dem Prinzipe, durch möglichst wenige
allgemeine Einheiten - also nach dem Prinzipe des kleinsten
Kraftmaßes - die gesamte Erfahrung mit dem Geiste zu
umfassen. Neben der modernen Naturphilosophie steht Schopenhauer auf
diesem Standpunkte. In seiner schroffsten und deshalb
einseitigsten Konsequenz aber wird er vertreten in dem Schriftchen von
Richard Avenarius: «Die Philosophie als Denken der Welt gemäß
dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer
Kritik der reinen Erfahrung» [Leipzig 1876].
Diese Ansicht beruht aber lediglich auf einer vollständigen
Verkennung nicht nur des Gehaltes des Begriffes, sondern auch der
Anschauung.
Um hier Klarheit zu schaffen, ist es notwendig, auf den Grund
zurückzugehen, der die Anschauung als ein Besonderes dem Begriffe
als einem Allgemeinen gegenüberstellt.
Man wird sich fragen müssen: Worinnen liegt denn eigentlich das
Charakteristikon des Besonderen? Ist dasselbe begrifflich zu
bestimmen? Können wir sagen: Diese begriffliche Einheit
muß in diese oder jene anschaulichen, besonderen
Mannigfaltigkeiten zerfallen? Nein, ist die ganz bestimmte Antwort.
Der Begriff selbst kennt die Besonderheit gar nicht. Sie
muß also in Elementen liegen, die dem Begriffe als solchem gar
nicht zugänglich sind. Nachdem wir aber ein Zwischenglied zwischen
Anschauung und Begriff nicht kennen - wollte man nicht etwa Kants
phantastisch-mystische Schemen anführen, die aber heute doch nur
für Tändelei gelten können -, so müssen diese Elemente der Anschauung
selbst angehören. Der Grund der Besonderung kann nicht aus dem
Begriffe abgeleitet, sondern muß innerhalb der Anschauung selbst
gesucht werden. Das, was die Besonderheit eines Objektes ausmacht,
läßt sich nicht begreifen, sondern nur anschauen.
Darin liegt der Grund, warum jede Philosophie scheitern muß,
die aus dem Begriffe selbst die ganze anschauliche Wirklichkeit
ihrer Besonderheit nach ableiten (deduzieren) will. Da liegt auch
der klassische Irrtum Fichtes, der die ganze Welt aus dem
Bewußtsein ableiten wollte.
Wer diese Unmöglichkeit aber der Idealphilosophie als einen Mangel
vorwirft und sie damit abfertigen will, der handelt in der Tat um
nichts vernünftiger als der Philosoph [W. T.] Krug, ein
Nachfolger Kants, der von der Identitätsphilosophie forderte, sie
solle ihm seine Schreibfeder deduzieren.
Was die Anschauung wirklich wesentlich von der Idee unterscheidet, ist
eben dieses Element, das nicht in Begriffe gebracht werden kann und
das eben erfahren werden muß. Dadurch stehen sich Begriff und
Anschauung zwar als wesensgleiche, jedoch verschiedene Seiten der Welt
gegenüber. Und da die letztere den ersteren fordert, wie wir
dargelegt haben, beweist sie, daß sie ihre Essenz nicht in
ihrer Besonderheit, sondern in der begrifflichen Allgemeinheit hat.
Diese Allgemeinheit muß aber der Erscheinung nach im Subjekte
erst aufgefunden werden; denn sie kann zwar vom Subjekte an dem
Objekte, nicht aber aus dem letzteren gewonnen werden.
Der Begriff kann seinen Inhalt nicht aus der Erfahrung entlehnen, denn
er nimmt gerade das Charakteristische der Erfahrung, die Besonderheit,
nicht in sich auf. Alles, was die letztere konstruiert, ist ihm fremd.
Er muß sich also selbst seinen Inhalt geben.
Man sagt gewöhnlich, das Erfahrungsobjekt sei individuell, sei
lebendige Anschauung, der Begriff dagegen abstrakt, gegen die
inhaltsvolle Anschauung arm, dürftig, leer. Aber worin wird hier der
Reichtum der Bestimmungen gesucht? In der Zahl derselben, die
eben bei der Unendlichkeit des Raumes unendlich groß sein
kann. Darum ist aber der Begriff nicht weniger vollbestimmt. Die Zahl
von dort ist bei ihm durch Qualitäten ersetzt. So wie aber im Begriffe
sich die Zahl nicht findet, so fehlt der Anschauung das
Dynamisch-Qualitative der Charaktere. Der Begriff ist ebenso
individuell, ebenso inhaltsvoll wie die Anschauung. Der Unterschied
ist nur der, daß bei Erfassung des Inhalts der Anschauung
nichts notwendig ist als offene Sinne, rein passives Verhalten der
Außenwelt gegenüber, während der ideelle Kern der Welt im
Geiste durch dessen eigenes spontanes Verhalten entstehen muß,
wenn er überhaupt zum Vorschein kommen soll. Es ist eine ganz
belanglose und müßige Redensart zu sagen: der Begriff sei der
Feind der lebendigen Anschauung. Er ist ihr Wesen, das eigentlich
treibende und wirkende Prinzip in ihr, fügt zu ihrem Inhalte den
seinen hinzu, ohne den ersteren aufzuheben - denn er geht ihn als
solcher nichts an - und er sollte der Feind der Anschauung sein! Feind
ist er ihr nur, wenn eine sich selbst mißverstehende
Philosophie den ganzen, reichen Inhalt der Sinnenwelt aus der
Idee herausspinnen will. Denn sie liefert dann, statt der lebendigen
Natur, ein leeres Phrasenschema.
Nur auf die von uns angedeutete Weise kommt man zu einer
befriedigenden Erklärung dessen, was eigentlich Erfahrungswissen
ist. Die Notwendigkeit, zur begrifflichen Erkenntnis fortzuschreiten,
wäre schlechterdings nicht ein zusehen, wenn der Begriff nichts
Neues zur sinnenfälligen Anschauung hinzubrächte. Das reine
Erfahrungswissen dürfte keinen Schritt über die Millionen Einzelheiten
hinausmachen, die uns in der Anschauung vorliegen. Das reine
Erfahrungswissen muß konsequenterweise seinen eigenen Inhalt
negieren. Denn wozu im Begriffe noch einmal schaffen, was in der
Anschauung ja ohnehin vorhanden ist? Der konsequente Positivismus
müßte nach diesen Erwägungen einfach jede wissenschaftliche
Arbeit einstellen und sich auf die bloßen Zufälligkeiten
verlassen. Indem er das nicht tut, führt er tatsächlich aus, was er
theoretisch verneint. Überhaupt gibt sowohl der Materialismus wie
der Realismus implicite zu, was wir behaupten. Deren Vorgehen hat
nur eine Berechtigung von unserem Standpunkte aus, während es
mit ihren eigenen theoretischen Grundanschauungen im
schreiendsten Widerspruche steht.
Von unserem Standpunkte aus erklärt sich die Notwendigkeit
wissenschaftlicher Erkenntnis und die Überschreitung der
Erfahrung ganz widerspruchslos. Als das zuerst und unmittelbar
Gegebene tritt uns die Sinnenwelt gegenüber; sie sieht uns wie
ein ungeheures Rätsel an, weil wir das Treibende, Wirkende derselben
in ihr selbst nimmermehr finden können. Da tritt die Vernunft hinzu
und hält mit der idealen Welt der Sinnenwelt die prinzipielle
Wesenheit gegenüber, die die Lösung des Rätsels bildet. So
objektiv die Sinnenwelt, so objektiv sind diese Prinzipien. Daß
sie für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft zur
Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig. Gäbe es keine
denkenden Wesen, so kämen diese Prinzipien zwar niemals zur
Erscheinung; sie wären deshalb aber nicht minder die Essenz der
Erscheinungswelt.
Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lockes, Kants, des
späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts, der Neukantianer und
der modernen Naturforscher eine wahrhaft immanente gegenübergestellt.
Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein Fremden,
Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem, was für die Vernunft
zur Erscheinung kommt. Die transzendente Weltansicht betrachtet
die begriffliche Erkenntnis als Bild der Welt, die immanente als
die höchste Erscheinungsform derselben. Jene kann daher nur eine
formale Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage
gründet: Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein?
Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage: Was
ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen
Differenz von Denken und Sein aus, diese geht vorurteilslos auf das
allein Gewisse, das Denken, los und weiß, daß sie
außer dem Denken kein Sein finden kann.
Fassen wir die an der Hand erkenntnistheoretischer Erwägungen
gewonnenen Resultate zusammen, so ergibt sich folgendes: Wir haben von
der völlig bestimmungslosen, unmittelbaren Form der Wirklichkeit
auszugehen, von dem, was den Sinnen gegeben ist, bevor wir unser
Denken in Fluß bringen, von dem nur Gesehenen,
nur Gehörten usw. Es kommt darauf an, daß wir uns
bewußt sind, was uns die Sinne liefern und was das Denken. Die
Sinne sagen uns nicht, daß die Dinge in irgendeinem
Verhältnisse zueinander stehen, wie etwa, daß dieses
Ursache, jenes Wirkung ist. Für die Sinne sind alle Dinge
gleich wesentlich für den Weltenbau. Das gedankenlose
Betrachten weiß nicht, daß das Samenkorn auf einer
höheren Stufe der Vollkommenheit steht als das Staubkorn auf der
Straße. Für die Sinne sind beide gleichbedeutende Wesen, wenn
sie äußerlich gleich aussehen. Napoleon ist auf dieser Stufe der
Betrachtung nicht welthistorisch wichtiger als Hinz oder Kunz im
abgelegenen Gebirgsdorfe. Bis hierher ist die Erkenntnistheorie von
heute vorgedrungen. Daß sie aber diese Wahrheiten keineswegs
erschöpfend durchdacht hat, das zeigt der Umstand, daß fast alle
Erkenntnistheoretiker den Fehler machen, diesem vorläufig unbestimmten
und bestimmungslosen Gebilde, dem wir auf der ersten Stufe unseres
Wahrnehmens gegenübertreten, sogleich das Prädikat beizulegen,
daß es Vorstellung sei. Das heißt doch gegen die
eigene, eben gewonnene Einsicht in der gröbsten Weise verstoßen.
So wenig wir, wenn wir bei der unmittelbaren Sinnesauffassung
stehen bleiben, wissen, daß der fallende Stein die Ursache
der Vertiefung an dem Orte ist, wo er aufgefallen, so wenig wissen
wir, daß er Vorstellung ist. So wie wir zu jenem erst
durch mannigfache Erwägungen gelangen können, so könnten wir auch
zu der Erkenntnis, daß die uns gegebene Welt bloße
Vorstellung sei, auch wenn sie richtig wäre, nur durch Nachdenken
kommen. Ob das, was sie mir vermitteln, ein reales Wesen, ob es
bloß Vorstellung ist, darüber geben mir die Sinne keinen
Aufschluß. Die Sinnenwelt stellt sich uns gegenüber wie aus der
Pistole geschossen. Wir müssen, wenn wir sie In ihrer Reinheit haben
wollen, uns enthalten, ihr irgendein charakterisierendes Prädikat
beizulegen. Wir können nur das eine sagen: Sie tritt uns gegenüber,
sie ist uns gegeben. Damit ist über sie selbst eben noch gar nichts
ausgemacht. Nur wenn wir so verfahren, versperren wir uns nicht den
Weg zu einer unbefangenen Beurteilung dieses Gegebenen. Wenn wir ihm
von vornherein ein Charakteristikon beilegen, so hört diese
Unbefangenheit auf. Wenn wir z. B. sagen: das Gegebene sei
Vorstellung, so kann die ganze folgende Untersuchung nur unter dieser
Voraussetzung geführt werden. Wir lieferten auf diese Weise keine
voraussetzungslose Erkenntnistheorie, sondern wir
beantworteten die Frage: was ist Erkennen? unter der
Voraussetzung, daß das den Sinnen Gegebene Vorstellung ist.
Das ist der Grundfehler der Erkenntnistheorie Volkelts. Er stellt am
Beginne derselben in aller Strenge die Forderung auf, daß die
Erkenntnistheorie voraussetzungslos sein müsse. Er stellt aber
an die Spitze den Satz: daß wir eine Mannigfaltigkeit von
Vorstellungen haben. So ist seine Erkenntnistheorie nur
die Beantwortung der Frage: wie ist Erkennen möglich unter der
Voraussetzung, daß das Gegebene eine Mannigfaltigkeit von
Vorstellungen ist? Für uns wird sich die Sache ganz anders stellen.
Wir nehmen das Gegebene, wie es ist: als Mannigfaltigkeit von -
irgend etwas, das sich uns selbst enthüllen wird, wenn wir uns von ihm
fortdrängen lassen. So haben wir Aussicht, zu einer objektiven
Erkenntnis zu gelangen, weil wir das Objekt selbst sprechen
lassen. Wir können hoffen, daß uns dieses Gebilde, dem wir
gegenüberstehen, alles enthüllt, wessen wir bedürfen, wenn wir den
freien Zutritt seiner Kundgebungen zu unserem Urteilsvermögen
nicht durch ein hemmendes Vorurteil unmöglich machen. Denn selbst
dann, wenn uns die Wirklichkeit ewig rätselhaft bleiben sollte, hätte
eine solche Wahrheit nur Wert, wenn sie an der Hand der Dinge gewonnen
wäre. Völlig bedeutungslos aber wäre die Behauptung: unser
Bewußtsein sei so und so beschaffen, deshalb können wir über die
Dinge der Welt nicht ins klare kommen. Ob unsere geistigen Kräfte
ausreichen, das Wesen der Dinge zu erfassen, müssen wir an diesen
selbst erproben. Ich kann die vollkommensten Geisteskräfte haben;
wenn die Dinge keinen Aufschluß über sich geben, so helfen
mir meine Anlagen nichts. Und umgekehrt, ich mag wissen, daß
meine Kräfte gering sind; ob sie nicht dennoch hinreichen die
Dinge zu erkennen, weiß ich deshalb noch nicht.
Was wir weiter eingesehen haben, ist dieses: Das unmittelbar
Gegebene läßt uns in der charakterisierten Form unbefriedigt. Es
tritt uns wie eine Forderung, wie ein zu lösendes Rätsel gegenüber. Es
sagt uns: Ich bin da; aber so wie ich dir da entgegentrete, bin ich
nicht in meiner wahren Gestalt. Indem wir diese Stimme von
außen vernehmen, indem wir uns bewußt werden,
daß wir einer Halbheit, einem Wesen gegenüberstehen, das
uns seine bessere Seite verbirgt, kündigt sich in unserem Innern die
Tätigkeit jenes Organes an, durch das wir über die andere Seite
des Wirklichen Aufschluß erlangen, durch das wir die Halbheit zu
einer Ganzheit zu ergänzen imstande sind. Wir werden uns bewußt,
daß wir das, was wir nicht sehen, hören usw., durch das Denken
ergänzen müssen. Das Denken ist berufen, das Rätsel zu lösen, das uns
die Anschauung aufgibt.
Klarheit über dieses Verhältnis wird uns erst, wenn wir untersuchen,
warum wir von der anschaulichen Wirklichkeit unbefriedigt,
von der gedachten dagegen befriedigt sind. Die anschauliche
Wirklichkeit tritt uns als Fertiges gegenüber. Es ist eben da; wir
haben nichts dazu beigetragen, daß es so ist. Wir fühlen
uns daher einem fremden Wesen gegenüber, das wir nicht produziert
haben, ja bei dessen Produktion wir nicht einmal gegenwärtig waren.
Wir stehen vor einem Gewordenen. Erfassen aber können wir nur das, von
dem wir wissen, wie es so geworden, wie es zustande gekommen ist; wenn
wir wissen, wo die Fäden sind, an denen das hängt, was vor uns
erscheint. Bei unserem Denken ist das anders. Ein Gedankengebilde
tritt mir nicht gegenüber, ohne daß ich selbst an seinem
Zustandekommen mitwirke; es kommt nur so in das Feld meines
Wahrnehmens, daß ich es selbst aus dem dunklen Abgrund der
Wahrnehmungslosigkeit heraufhebe. Der Gedanke tritt in mir nicht als
fertiges Gebilde auf, wie die Sinneswahrnehmung, sondern ich bin
mir bewußt, daß, wenn ich ihn in einer abgeschlossenen
Form festhalte, ich ihn selbst auf diese Form gebracht habe. Was mir
vorliegt erscheint mir nicht als erstes, sondern als
letztes, als der Abschluß eines Prozesses, der mit mir so
verwachsen ist, daß ich immer innerhalb seiner gestanden habe.
Das aber ist es, was ich bei einem Dinge, das in den Horizont meines
Wahrnehmens tritt, verlangen muß, um es zu begreifen. Es
darf mir nichts dunkel bleiben; es darf nichts als Abgeschlossenes
erscheinen; ich muß es selbst verfolgen bis zu jener Stufe, wo
es ein Fertiges geworden ist. Deshalb drängt uns die unmittelbare Form
der Wirklichkeit, die wir gewöhnlich Erfahrung nennen, zu einer
wissenschaftlichen Bearbeitung. Wenn wir unser Denken in
Fluß bringen, dann gehen wir auf die uns zuerst verborgen
gebliebenen Bedingungen des Gegebenen zurück; wir arbeiten uns vom
Produkt zur Produktion empor, wir gelangen dazu, daß uns die
Sinneswahrnehmung auf dieselbe Weise durchsichtig wird wie der
Gedanke. Unser Erkenntnisbedürfnis wird so befriedigt. Wir können
also erst dann mit einem Dinge wissenschaftlich
abschließen, wenn wir das unmittelbar Wahr genommene mit
dem Denken ganz (restlos) durchdrungen haben. Ein Prozeß der
Welt erscheint nur dann als von uns ganz durchdrungen, wenn er unsere
eigene Tätigkeit ist. Ein Gedanke erscheint als der Abschluß
eines Prozesses, innerhalb dessen wir stehen. Das Denken ist aber der
einzige Prozeß, bei dem wir uns ganz innerhalb stellen
können, in dem wir aufgehen können. Daher muß der
wissenschaftlichen Betrachtung die erfahrene Wirklichkeit auf
dieselbe Weise als aus der Gedankenentwicklung hervorgehend
erscheinen, wie ein reiner Gedanke selbst. Das Wesen eines Dinges
erforschen heißt, im Zentrum der Gedankenwelt einsetzen und
aus diesem heraus arbeiten, bis uns ein solches Gedankengebilde vor
die Seele tritt, das uns mit dem erfahrenen Dinge identisch erscheint.
Wenn wir von dem Wesen eines Dinges oder der Welt überhaupt sprechen,
so können wir also gar nichts anderes meinen, als das Begreifen der
Wirklichkeit als Gedanke, als Idee. In der Idee
erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere herleiten
müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen das Absolute,
das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das
nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen:
die Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als
Idee erscheint, wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend
erkannt. Was oberflächliche Betrachtung bar alles Anteils an der
Idee glaubt, leitet tieferes Denken aus ihr ab. Keine andere Form des
Daseins kann uns befriedigen, als die aus der Idee hergeleitete.
Nichts darf abseits stehen bleiben, alles muß ein Teil des
großen Ganzen werden, das die Idee umspannt. Sie aber fordert
kein Hinausgehen über sich selbst. Sie ist die auf sich gebaute, in
sich selbst festbegrün dete Wesenheit. Das liegt nicht etwa
darinnen, daß wir sie in unserem Bewußtsein unmittelbar
gegenwärtig haben. Das liegt an ihr selbst. Wenn sie ihr Wesen nicht
selbst ausspräche, dann würde sie uns eben auch so erscheinen wie die
übrige Wirklichkeit: aufklärungsbedürftig. Das scheint denn doch dem
zu widersprechen, was wir oben sagten: die Idee erschiene deshalb in
einer uns befriedigenden Form, weil wir bei ihrem Zustandekommen tätig
mitwirken. Das rührt aber nicht von der Organisation unseres
Bewußtseins her. Wäre die Idee nicht eine auf sich selbst
gebaute Wesenheit, so könnten wir ein solches Bewußtsein
gar nicht haben. Wenn etwas das Zentrum, aus dem es entspringt, nicht
in sich, sondern außer sich hat, so kann ich, wenn
es mir gegenübertritt, mich mit ihm nicht befriedigt erklären, ich
muß über dasselbe hinausgehen, eben zu jenem Zentrum. Nur wenn
ich auf etwas stoße, das nicht über sich hinausweist, dann
erlange ich das Bewußtsein: jetzt stehst du innerhalb des
Zentrums; hier kannst du stehen bleiben. Mein Bewußtsein,
daß ich innerhalb eines Dinges stehe, ist nur die Folge von der
objektiven Beschaffenheit dieses Dinges, daß es sein
Prinzip mit sich bringe. Wir gelangen, indem wir uns der Idee
bemächtigen, in den Kern der Welt. Was wir hier erfassen, ist
dasjenige, aus dem alles hervorgeht. Wir werden mit diesem Prinzipe
eine Einheit; deshalb erscheint uns die Idee, die das Objektivste
ist, zugleich als das Subjektivste.
Die sinnenfällige Wirklichkeit ist uns ja gerade deshalb so
rätselhaft, weil wir ihr Zentrum nicht in ihr selbst finden. Sie
hört es auf zu sein, wenn wir erkennen, daß sie mit der
Gedankenwelt, die in uns zur Erscheinung kommt, dasselbe
Zentrum hat.
Dieses Zentrum kann nur ein einheitliches sein. Es muß ja
so sein, daß alles übrige darauf hinweist, als auf seinen
Erklärungsgrund. Gäbe es mehrere centra der Welt - mehrere
principia, aus denen die Welt zu erkennen wäre - und wiese ein Gebiet
der Wirklichkeit auf dieses, ein anderes auf jenes
Weltprinzip hin, dann wären wir, sobald wir uns in einem
Wirklichkeitsgebiet befänden, nur auf das eine Zentrum hingewiesen. Es
fiele uns gar nicht ein, noch nach einem andern zu fragen. Nichts
wüßte das eine Gebiet von dem andern. Sie wären füreinander
einfach nicht da. Es hat deshalb gar keinen Sinn, von mehr als einer
Welt zu sprechen. Die Idee ist daher an allen Orten der Welt,
in allen Bewußtseinen eine und dieselbe. Daß
es verschiedene Bewußtseine gibt und jedes die Idee
vorstellt, ändert nichts an der Sache. Der Ideengehalt der Welt ist
auf sich selbst gebaut, in sich vollkommen. Wir erzeugen ihn nicht,
wir suchen ihn nur zu erfassen. Das Denken erzeugt ihn nicht, sondern
nimmt ihn wahr. Es ist nicht Produzent, sondern Organ der Auffassung.
So wie verschiedene Augen einen und denselben Gegenstand sehen, so
denken verschiedene Bewußtseine einen und denselben
Gedankeninhalt. Die mannigfaltigen Bewußtseine denken ein
und dasselbe; sie nähern sich dem Einen nur von verschiedenen
Seiten. Deshalb erscheint es ihnen mannigfaltig modifiziert.
Diese Modifikation ist aber keine Verschiedenheit der Objekte, sondern
nur ein Auffassen unter andern Gesichtswinkeln. Die
Verschiedenheit der menschlichen Ansichten ist ebenso erklärlich
wie die Verschiedenheit, die eine Landschaft für zwei an verschiedenen
Orten befindliche Beobachter aufweist. Wenn man nur überhaupt
imstande ist, bis zur Ideenwelt vorzudringen, so kann man sicher
sein, daß man zuletzt eine mit allen Menschen gemeinsame
Ideenwelt hat. Es kann sich dann höchstens noch darum handeln,
daß wir diese Welt auf recht einseitige Weise erfassen,
daß wir auf einem Standpunkte stehen, wo sie uns gerade im
ungünstigsten Lichte erscheint usw.
Der vollständigen von allem Gedankeninhalt entblößten
Sinnenwelt stehen wir wohl niemals gegenüber. Höchstens im ersten
Kindesalter, wo vom Denken noch keine Spur da ist, kommen wir der
reinen Sinnesauffassung nahe. Im gewöhnlichen Leben haben wir es mit
einer Erfahrung zu tun, die halb und halb von dem Denken durchtränkt
ist, die schon mehr oder weniger aus dem Dunkel des Anschauens
zur lichten Klarheit des geistigen Erfassens gehoben erscheint.
Die Wissenschaften arbeiten darauf hinaus, diese Dunkelheit
völlig zu überwinden und nichts in der Erfahrung zu lassen, was nicht
von dem Gedanken durchsetzt würde. Was hat nun gegenüber den übrigen
Wissenschaften die Erkenntnistheorie für eine Aufgabe erfüllt? Sie hat
uns aufgeklärt über Zweck und Aufgabe aller Wissenschaft. Sie hat uns
gezeigt, welche Bedeutung der Inhalt der einzelnen Wissenschaften hat.
Unsere Erkenntnistheorie ist die Wissenschaft von der
Bestimmung aller andern Wissenschaften. Sie hat uns aufgeklärt
darüber, daß das in den einzelnen Wissenschaften Gewonnene
der objektive Grund des Weltendaseins ist. Die Wissenschaften
gelangen zu einer Reihe von Begriffen; über die eigentliche Aufgabe
dieser Begriffe belehrt uns die Erkenntnistheorie. Mit diesem
charakteristischen Ergebnis weicht unsere im Sinne der Goetheschen
Denkweise gehaltene Erkenntnistheorie von allen andern
Erkenntnistheorien der Gegenwart ab. Sie will nicht bloß
einen formalen Zusammenhang zwischen Denken und Sein
feststellen; sie will das erkenntnistheoretische Problem nicht
bloß logisch lösen, sie will zu einem positiven Resultat kommen.
Sie zeigt, was der Inhalt unseres Denkens ist; und sie
findet, daß dieses Was zugleich der objektive
Weltinhalt ist. So wird uns die Erkenntnistheorie zur
bedeutungsvollsten Wissenschaft für den Menschen. Sie klärt den
Menschen über sich selbst auf, sie zeigt ihm seine Stellung in der
Welt; sie ist damit ein Quell der Befriedigung für ihn. Sie
sagt ihm erst, wozu er berufen ist. Im Besitze ihrer Wahrheiten
fühlt sich der Mensch gehoben; sein wissenschaftliches Forschen
gewinnt eine neue Beleuchtung. Nun erst weiß er, daß er
mit dem Kern des Weltendaseins unmittelbarste verknüpft ist, daß
er diesen Kern, der allen übrigen Wesen verborgen bleibt,
enthüllt, daß in ihm der Weltgeist zur Erscheinung kommt,
daß dieser ihm innewohnt. Er sieht in sich selbst den Vollender
des Weltprozesses, er sieht, daß er berufen ist, das zu
vollenden, was die andern Kräfte der Welt nicht vermögen, daß er
der Schöpfung die Krone aufzusetzen hat. Lehrt die Religion, daß
Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, so lehrt
uns unsere Erkenntnistheorie, daß Gott die Schöpfung
überhaupt nur bis zu einem gewissen Punkte geführt hat. Da hat er den
Menschen entstehen lassen und dieser stellt sich, indem er sich selbst
erkennt und um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken, zu vollenden,
was die Urkraft begonnen hat. Der Mensch vertieft sich in die
Welt und erkennt, was sich auf dem Boden, der gelegt ist, weiter bauen
läßt, er ersieht die Andeutung, die der Urgeist gemacht hat und
führt das Angedeutete aus.
So ist die Erkenntnistheorie zugleich die Lehre von der
Bedeutung und Bestimmung des Menschen; und sie löst diese Aufgabe
(von der «Bestimmung des Menschen») in viel bestimmterer Weise als
dies Fichte am Wendepunkte des 18. und 19. Jahrhunderts getan hat. Man
gelangt durch die Gedankengestaltung dieses starken Geistes durchaus
nicht zu jener vollen Befriedigung, die uns durch eine echte
Erkenntnistheorie werden muß.
Wir haben allem einzelnen Dasein gegenüber die Aufgabe, es zu
bearbeiten, so daß es als von der Idee ausfließend
erscheint, daß es als einzelnes ganz verflüchtigt und aufgeht in
der Idee, in deren Element wir uns versetzt fühlen.
Unser Geist hat die Aufgabe, sich so auszubilden, daß er
imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art zu
durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint. Wir müssen
uns als fortwährende Arbeiter erweisen in dem Sinne, daß wir
jedes Erfahrungsobjekt umgestalten, so daß es als Teil unseres
ideellen Weltbildes auftritt. Damit sind wir da angekommen, wo die
Goethesche Weltbetrachtungsweise einsetzt. Wir müssen das Gesagte
so anwenden, daß wir uns vorstellen, das von uns dargestellte
Verhältnis von Idee und Wirklichkeit sei im Goetheschen Forschen Tat;
Goethe geht den Dingen so zu Leibe, wie wir es gerechtfertigt
haben. Er sieht ja selbst sein inneres Wirken als eine lebendige
Heuristik an, die, eine unbekannte geahnete Regel (die Idee)
anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in der
Außenwelt einzuführen trachtet («Sprüche in Prosa», Natw.
Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 374). Wenn Goethe fordert, daß der
Mensch seine Organe belehren soll («Sprüche in Prosa», ebenda S. 350),
so hat das auch nur den Sinn, daß der Mensch sich nicht einfach
dem hingibt, was ihm seine Sinne überliefern, sondern er gibt seinen
Sinnen die Richtung, daß sie ihm die Dinge im rechten Lichte
zeigen.
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