WISSEN UND HANDELN IM LICHTE
DER GOETHESCHEN DENKWEISE
Wir haben das Verhältnis von der durch das wissenschaftliche Denken
gewonnenen Ideenwelt und der unmittelbar gegebenen Erfahrung
festgestellt. Wir haben Anfang und Ende eines Prozesses kennen
gelernt: Ideenentblößte Erfahrung und ideenerfüllte
Wirklichkeitsauffassung. Zwischen beiden liegt aber menschliche
Tätigkeit. Der Mensch hat tätig das Ende aus dem Anfang hervorgehen zu
lassen. Die Art, wie er das tut, ist die Methode. Es ist nun
selbstverständlich, daß unsere Auffassung jenes Verhältnisses
von Anfang und Ende der Wissenschaft auch eine eigentümliche Methode
bedingen wird. Wovon werden wir bei Entwicklung derselben auszugehen
haben? Das wissenschaftliche Denken muß sich Schritt für Schritt
als ein Überwinden jener dunklen Wirklichkeitsform ergeben, die wir
als unmittelbar Gegebenes bezeichnet haben, und ein Heraufheben
desselben in die lichte Klarheit der Idee. Die Methode wird also
darinnen bestehen müssen, daß wir bei jeglichem Dinge die Frage
beantworten: Welchen Anteil hat es für die einheitliche Ideenwelt;
welche Stelle nimmt es in dem ideellen Bilde ein, das ich mir von der
Welt mache? Wenn ich das eingesehen habe, wenn ich erkannt habe, wie
ein Ding sich an meine Ideen anschließt, dann ist mein
Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Für das letztere gibt es nur ein
Nichtbefriedigendes: wenn mir ein Ding gegenübertritt, das sich
nirgends an die von mir vertretene Anschauung anschließen will.
Das ideelle Unbehagen muß überwunden werden, das daraus
fließt, daß es irgend etwas gibt, von dem ich mir sagen
müßte: ich sehe, es ist da; wenn ich ihm gegenübertrete, sieht
es mich wie ein Fragezeichen an; aber ich finde nirgends in der
Harmonie meiner Gedanken den Punkt, wo ich es einreihen könnte; die
Fragen, die ich in Ansehung seiner stellen muß, bleiben
unbeantwortet; ich mag mein Gedankensystem drehen und wenden, wie ich
will. Daraus ersehen wir, wessen wir in Ansehung eines jeden Dinges
bedürfen. Wenn ich ihm gegenübertrete, starrt es mich als einzelnes
an. In mir drängt die Gedankenwelt jenem Punkte zu, wo der Begriff des
Dinges liegt. Ich ruhe nicht eher, bis das, was mir zuerst als
einzelnes gegenübergetreten ist, als Glied innerhalb der Gedankenwelt
erscheint. So löst sich das einzelne als solches auf und erscheint in
einem großen Zusammenhange. Jetzt ist es von der andern
Gedankenmasse beleuchtet, jetzt ist es dienendes Glied; und es ist mir
völlig klar, was es innerhalb der großen Harmonie zu bedeuten
hat. Das geht in uns vor, wenn wir einem Gegenstande der Erfahrung
betrachtend gegenübertreten. Aller Fortschritt der Wissenschaft beruht
auf dem Gewahrwerden des Punktes, wo sich irgend eine Erscheinung in
die Harmonie der Gedankenwelt eingliedern läßt. Man darf das
nicht mißverstehen. Es kann nicht so gemeint sein, als wenn jede
Erscheinung durch die hergebrachten Begriffe erklärbar sein müsse; als
ob unsere Ideenwelt abgeschlossen wäre und alles neu zu erfahrende
sich mit irgendeinem Begriffe, den wir schon besitzen, decken
müsse. Jenes Drängen der Gedankenwelt kann auch zu einem Punkte
hingehen, der bisher überhaupt noch von keinem Menschen gedacht worden
ist. Und das ideelle Fortschreiten der Geschichte der Wissenschaft
beruht gerade darauf, daß das Denken neue Ideengebilde an
die Oberfläche wirft. Jedes solche Gedankengebilde hängt mit tausend
Fäden mit allen andern möglichen Gedanken zusammen. Mit diesem
Begriffe in dieser, mit einem andern in einer andern Weise. Und
darinnen besteht die wissenschaftliche Methode, daß wir den
Begriff einer einzelnen Erscheinung in seinem Zusammenhange mit der
übrigen ldeenwelt aufzeigen. Wir nennen diesen Vorgang: Ableiten
(Beweisen) des Begriffes. Alles wissenschaftliche Denken besteht aber
nur darinnen, daß wir die bestehenden Übergänge von Begriff zu
Begriff finden, besteht in dem Hervorgehenlassen eines Begriffes aus
dem andern. Hin- und Herbewegung unseres Denkens von Begriff zu
Begriff, das ist wissenschaftliche Methode. Man wird sagen, das sei ja
die alte Geschichte von der Korrespondenz von Begriffswelt und
Erfahrungswelt. Wir müßten voraussetzen, daß die Welt
außer uns (das Transsubjektive) unserer Begriffswelt
korrespondiere, wenn wir glauben sollen, daß das Hin- und
Hergehen von Begriff zu Begriff zu einem Bilde der Wirklichkeit führe.
Das ist aber nur eine verfehlte Auffassung des Verhältnisses von
Einzelgebilde und Begriff. Wenn ich einem Gebilde der Erfahrungswelt
gegenübertrete, so weiß ich überhaupt gar nicht, was es
ist. Erst, wenn ich es überwunden, wenn mir sein Begriff aufgeleuchtet
hat, dann weiß ich, was ich vor mir habe. Das will doch
aber nicht sagen, daß jenes Einzelgebilde und der Begriff zwei
verschiedene Dinge sind. Nein, sie sind dasselbe; und was mir
im besonderen gegenübertritt, ist nichts als der Begriff. Der
Grund, warum ich jenes Gebilde als abgesondertes, von der andern
Wirklichkeit getrenntes Stück sehe, ist eben der, daß ich es
seiner Wesenheit nach noch nicht erkenne, daß es mir noch nicht
als das entgegentritt, was es ist. Daraus ergibt sich das
Mittel, unsere wissenschaftliche Methode weiter zu charakterisieren.
Jedes einzelne Wirklichkeitsgebilde repräsentiert innerhalb des
Gedankensystems einen bestimmten Inhalt. Es ist in der Allheit der
Ideenwelt begründet und kann nur im Zusammenhange mit ihr begriffen
werden. So muß notwendig jedes Ding zu einer doppelten
Denkarbeit auffordern. Zuerst ist der Gedanke in scharfen Konturen
festzustellen, der ihm entspricht, und hernach sind alle Fäden
festzustellen, die von diesem Gedanken zur Gesamt-Gedankenwelt führen.
Klarheit im einzelnen und Tiefe im ganzen sind die zwei bedeutendsten
Erfordernisse der Wirklichkeit. Jene ist Sache des Verstandes, diese
Sache der Vernunft. Der Verstand schafft Gedankengebilde für die
einzelnen Dinge der Wirklichkeit. Er entspricht seiner Aufgabe um so
mehr, je genauer er dieselben umgrenzt, je schärfere Konturen er
zieht. Die Vernunft hat dann diese Gebilde in die Harmonie der
gesamten Ideenwelt einzureihen. Das setzt natürlich folgendes voraus:
In dem Inhalte der Gedankengebilde, die der Verstand schafft, ist jene
Einheit schon, lebt schon ein und dasselbe Leben; nur hält der
Verstand alles künstlich auseinander. Die Vernunft hebt, ohne die
Klarheit zu verwischen, nur die Trennung wieder auf. Der Verstand
entfernt uns von der Wirklichkeit, die Vernunft führt uns auf sie
wieder zurück. Graphisch wird sich das so darstellen:
In dem umstehenden Gebilde hängt alles zusammen; es lebt in allen
Teilen dasselbe Prinzip. Der Verstand schafft die Trennung der
einzelnen Gebilde, weil sie uns ja in dem Gegebenen als einzelne
gegenübertreten91,
und die Vernunft erkennt die
Einheitlichkeit.92
Wenn wir folgende
zwei Wahrnehmungen haben: 1. die einfallenden Sonnenstrahlen und 2.
einen erwärmten Stein, so hält der Verstand die beiden Dinge
auseinander, weil sie uns als zwei gegenübertreten; er hält das
eine als Ursache, das andere als Wirkung fest; dann tritt die Vernunft
hinzu, reißt die Scheidewand nieder und erkennt die Einheit
in der Zweiheit. Alle Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache
und Wirkung, Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und
Wirklichkeit, Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche
Wirklichkeit künstlich auseinanderzuhalten; und die Vernunft hat, ohne
den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen, ohne die Klarheit des
Verstandes mystisch zu verdunkeln, in der Vielheit die innere Einheit
aufzusuchen. Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand
entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man eine genaue
Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde Begriffe,
die Vernunftschöpfungen Ideen. Und man sieht, daß der
Weg der Wissenschaft ist: sich durch den Begriff zur Idee zu erheben.
Und hier ist der Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive
und das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen. Es ist
ersichtlich, daß die Trennung nur subjektiven Bestand hat, nur
durch unsern Verstand geschaffen ist. Es kann mich nicht hindern,
daß ich ein und dieselbe objektive Einheit in Gedankengebilde
zerlege, die von denen meines Mitmenschen verschieden sind; das
hindert nicht, daß meine Vernunft in der Verbindung wieder zu
derselben objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen
sind. Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich
dargestellt [Figur 1]. Ich trenne es verstandesgemäß so, wie
Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3. Wir fassen
es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde. Damit
wird es uns erklärlich, wie die Menschen so verschiedene Begriffe, so
verschiedene Anschauungen von der Wirklichkeit haben können, trotzdem
diese doch nur eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in
der Verschiedenheit unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet
sich für uns ein Licht über die Entwicklung verschiedener
wissenschaftlicher Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen
philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig,
ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen. Wir
wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber der Vielheit
menschlicher Anschauungen einzunehmen haben. Wir werden nicht
ausschließlich fragen: Was ist wahr, was ist falsch? Wir werden
immer untersuchen, in welcher Art die Verstandeswelt eines Denkers aus
der Weltharmonie hervorgeht; wir werden zu begreifen suchen und nicht
aburteilen und sogleich als Irrtum ansehen, was mit der eigenen
Auffassung nicht übereinstimmt. Zu diesem Quell der Verschiedenheit
unserer wissenschaftlichen Standpunkte tritt dadurch ein neuer,
daß jeder einzelne Mensch ein anderes Erfahrungsfeld hat. Es
tritt ja jedem aus der gesamten Wirklichkeit gleichsam ein Ausschnitt
gegenüber. Diesen bearbeitet sein Verstand, und der ist ihm der
Vermittler auf dem Wege zur Idee. Wenn wir also auch alle dieselbe
Idee wahrnehmen, so ist das doch immer auf andern Gebieten der Fall.
Es kann also nur das Endresultat, zu dem wir kommen,
dasselbe sein; die Wege hingegen können verschieden
sein. Es kommt überhaupt gar nicht darauf an, daß die
einzelnen Urteile und Begriffe, aus denen sich unser Wissen
zusammensetzt, übereinstimmen, sondern nur darauf, daß sie uns
zuletzt dahin führen, daß wir in dem Fahrwasser der Idee
schwimmen. Und in diesem Fahrwasser müssen sich zuletzt alle
Menschen treffen, wenn sie energisches Denken über ihren
Sonderstandpunkt hinausführt. Es kann ja möglich sein, daß uns
eine beschränkte Erfahrung oder ein unproduktiver Geist zu einer
einseitigen, unvollständigen Ansicht führt; aber selbst die
geringste Summe dessen, was wir erfahren, muß uns zuletzt zur
Idee führen; denn zur letzteren erheben wir uns nicht durch eine mehr
oder weniger große Erfahrung, sondern allein durch unsere
Fähigkeiten als menschliche Persönlichkeit. Eine beschränkte Erfahrung
kann nur zur Folge haben, daß wir die Idee in einseitiger Weise
aussprechen, daß wir über geringe Mittel verfügen, das
Licht, das in uns leuchtet, zum Ausdruck zu bringen; sie kann uns aber
nicht überhaupt hindern, jenes Licht in uns aufgehen zu lassen. Ob
unsere wissenschaftliche oder überhaupt Weltansicht auch
vollständig sei, das ist neben der nach ihrer geistigen Tiefe eine
ganz andere Frage. Wenn man nun an Goethe wieder herantritt, so wird
man viele seiner Darlegungen, mit unseren Ausführungen in diesem
Kapitel zusammengehalten, als einfache Konsequenzen der letzteren
erkennen. Dieses Verhältnis halten wir für das einzig richtige
zwischen Autor und Ausleger. Wenn Goethe sagt: «Kenne ich mein
Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's
Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist
doch immer dieselbige» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2.
Abt., S. 349), so ist das nur mit Voraussetzung dessen, was wir hier
entwickelt haben, zu verstehen.
2. Dogmatische und immanente Methode
Ein wissenschaftliches Urteil kommt dadurch zustande, daß wir
entweder zwei Begriffe oder eine Wahrnehmung und einen Begriff
verbinden. Von der ersteren Art ist das Urteil: Keine Wirkung ohne
Ursache; von der letzteren: Die Tulpe ist eine Pflanze. Das tägliche
Leben erkennt dann auch noch Urteile, wo Wahrnehmung mit Wahrnehmung
verbunden wird, z. B.: Die Rose ist rot. Wenn wir ein Urteil
vollziehen, so geschieht dies aus diesem oder jenem Grunde. Nun kann
es über diesen Grund zwei verschiedene Ansichten geben. Die eine nimmt
an, daß die sachlichen (objektiven) Gründe, warum das
Urteil, das wir vollziehen, wahr ist, jenseits dessen liegen,
was uns in den in das Urteil eingehenden Begriffen oder Wahrnehmungen
gegeben ist. Der Grund, warum ein Urteil wahr ist, fällt nach
dieser Ansicht nicht zusammen mit den subjektiven Gründen, aus denen
wir dieses Urteil fällen. Unsere logischen Gründe haben
nach dieser Ansicht mit den objektiven nichts zu tun. Es kann
sein, daß diese Ansicht irgendeinen Weg vorschlägt, um zu den
objektiven Gründen unserer Einsicht zu kommen; die Mittel, die unser
erkennendes Denken hat, reichen dazu nicht aus. Für das
Erkennen liegt die meine Behauptungen bedingende objektive Wesenheit
in einer mir unbekannten Welt; die Behauptung mit ihren formellen
Gründen (Widerspruchslosigkeit, Stützung durch verschiedene Axiome
usw.) allein in der meinigen. Eine Wissenschaft, die auf dieser
Anschauung beruht, ist eine dogmatische. Eine solche
dogmatische Wissenschaft ist sowohl die theologisierende Philosophie,
die sich auf den Offenbarungsglauben stützt, als auch die moderne
Erfahrungswissenschaft; denn es gibt nicht nur ein Dogma der
Offenbarung, es gibt auch ein Dogma der Erfahrung. Das
Dogma der Offenbarung überliefert dem Menschen Wahrheiten über Dinge,
die seinem Gesichtskreise völlig entzogen sind. Er kennt die Welt
nicht, über die ihm die fertigen Behauptungen zu glauben
vorgeschrieben wird. Er kann an die Gründe der letzteren nicht
herankommen. Er kann daher nie eine Einsicht gewinnen, warum
sie wahr sind. Er kann kein Wissen, nur einen Glauben
gewinnen. Dagegen sind aber auch die Behauptungen jener
Erfahrungswissenschaft bloße Dogmen, die da glaubt, daß
man bei der bloßen, reinen Erfahrung stehen bleiben soll und nur
deren Veränderungen beobachten, beschreiben und systematisch
zusammenstellen soll, ohne sich zu den in der bloßen
unmittelbaren Erfahrung noch nicht gegebenen Bedingungen zu
erheben. Wir gewinnen ja die Wahrheit auch in diesem Falle nicht durch
die Einsicht in die Sache, sondern sie wird uns von außen
aufgedrängt. Ich sehe, was vorgeht und da ist, und registriere es;
warum das so ist, das liegt im Objekte. Ich sehe nur die Folge, nicht
den Grund. Das Dogma der Offenbarung beherrschte ehedem die
Wissenschaft, heute tut es das Dogma der Erfahrung. Ehedem galt
es als Vermessenheit, über die Gründe der geoffenbarten
Wahrheiten nachzudenken; heute gilt es als Unmöglichkeit, anderes zu
wissen, als was die Tatsachen aussprechen. Das «Warum sie so
und nicht anders sprechen» gilt als unerfahrbar und deshalb
unerreichbar.
Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß die Annahme eines
Grundes, warum ein Urteil wahr ist, neben dem, warum wir es als
wahr anerkennen, ein Unding ist. Wenn wir bis zu dem Punkte
vordringen, wo uns die Wesenheit einer Sache als Idee aufgeht, so
erblicken wir in der letzteren etwas völlig in sich Abgeschlossenes,
etwas sich selbst Stützendes und Tragendes, das gar keine Erklärung
von außen mehr fordert, so daß wir dabei stehenbleiben
können. Wir sehen an der Idee - wenn wir nur die Fähigkeit dazu haben
-, daß sie alles, was sie konstituiert, in sich selber hat,
daß wir mit ihr alles haben, wonach gefragt werden kann. Der
gesamte Seinsgrund ist in der Idee aufgegangen, hat sich in sie
ergossen, rückhaltlos, so daß wir ihn nirgends als in ihr zu
suchen haben. In der Idee haben wir nicht ein Bild von dem, was
wir zu den Dingen suchen; wir haben dieses Gesuchte selbst. Indem die
Teile unserer Ideenwelt in den Urteilen zusammenfließen, ist es
der eigene Inhalt derselben, der das bewirkt, nicht Gründe, die
außerhalb liegen. In unserem Denken sind die sachlichen und
nicht bloß die formellen Gründe für unsere Behauptungen
unmittelbar gegenwärtig.
Damit ist die Ansicht abgewiesen, welche eine außerideelle
absolute Realität annimmt, von denen alle Dinge einschließlich
des Denkens selbst, getragen werden. Für diese Weltansicht kann der
Grund zu dem Bestehenden überhaupt nicht in dem uns Erreichbaren
gefunden werden. Er ist der uns vorliegenden Welt nicht eingeboren, er
ist außerhalb ihrer vorhanden; ein Wesen für sich, das neben ihr
besteht. Diese Ansicht kann man Realismus nennen. Sie tritt in
zwei Formen auf. Sie nimmt entweder eine Vielzahl von realen Wesen an,
die der Welt zum Grunde liegen (Leibniz, Herbart), oder ein
einheitliches Reales (Schopenhauer). Ein solches Seiendes
kann nie als mit der Idee identisch erkannt werden; es ist schon
als wesensverschieden von ihr vorausgesetzt. Wer sich des klaren
Sinnes der Frage nach dem Wesen der Erscheinungen bewußt wird,
kann ein Anhänger dieses Realismus nicht sein. Was hat es denn für
einen Sinn, nach dem Wesen der Welt zu fragen? Es hat
gar keinen andern Sinn, als daß, wenn ich einem Dinge
gegenübertrete, sich in mir eine Stimme geltend macht, die mir sagt,
daß das Ding letzten Endes noch etwas ganz anderes ist, als was
ich sinnfällig wahrnehme. Das, was es noch ist, arbeitet schon in mir,
drängt in mir zur Erscheinung, während ich das Ding außer mir
erblicke. Nur weil die in mir arbeitende Ideenwelt mich drängt, die
mich umgebende Welt aus ihr zu erklären, fordere ich eine solche
Erklärung. Für ein Wesen, in dem sich keine Ideen emporarbeiten, ist
der Drang, die Dinge noch weiter zu erklären, nicht da; sie
sind an der sinnfälligen Erscheinung vollbefriedigt. Die Forderung
nach Erklärung der Welt geht hervor aus dem Bedürfnisse des Denkens,
den für letzteres erreichbaren Inhalt mit der erscheinenden
Wirklichkeit in eins zu verschmelzen, alles begrifflich zu
durchdringen; das was wir sehen, hören usw., zu einem solchen
zu machen, das wir verstehen. Wer diese Sätze ihrer vollen
Tragweite nach in Erwägung zieht, kann unmöglich ein Anhänger des oben
charakterisierten Realismus sein. Die Welt durch ein Reales, das nicht
Idee ist, erklären zu wollen, ist ein solcher Widerspruch, daß
man gar nicht begreift, wie es überhaupt möglich ist, daß er
Anhänger gewinnen konnte. Das uns wahrnehmbare Wirkliche durch irgend
etwas zu erklären, was sich innerhalb des Denkens gar nicht geltend
macht, ja was grundsätzlich verschieden von dem Gedanklichen sein
soll, können wir weder das Bedürfnis haben, noch ist ein solches
Beginnen möglich. Erstens: Woher sollen wir das Bedürfnis haben, die
Welt durch etwas zu erklären, das sich uns nirgends aufdrängt, das
sich uns verbirgt? Und nehmen wir an, es trete uns entgegen, dann
entsteht wieder die Frage: in welcher Form und wo? Im Denken kann es
doch nicht sein. Und selbst wieder in der äußeren oder inneren
Wahrnehmung? Was soll es denn dann für einen Sinn haben, die
Sinneswelt durch qualitativ Gleichstehendes zu erklären. Bliebe nur
noch ein Drittes: die Annahme, wir hätten ein Vermögen, das
außergedankliche und realste Wesen auf anderem Wege als durch
Denken und Wahrnehmung zu erreichen. Wer diese Annahme macht, ist in
den Mystizismus verfallen. Wir haben uns mit ihm nicht zu befassen;
denn uns geht nur das Verhältnis von Denken und Sein, von Idee
und Wirklichkeit an. Für den Mystizismus muß ein
Mystiker eine Erkenntnistheorie schreiben. Der Standpunkt des späteren
Schelling, wonach wir mit Hilfe unserer Vernunft nur das Was
des Weltinhaltes entwickeln, nicht aber das Daß
erreichen können, erscheint uns als das größte Unding. Denn
für uns ist das Daß die Voraussetzung des Was, und
wir wüßten nicht, wie wir zu dem Was eines Dinges kommen
sollten, dessen Daß nicht vorher schon sichergestellt
wäre. Das Daß wohnt doch dem Inhalt meiner Vernunft schon
inne, indem ich sein Was ergreife. Diese Annahme Schellings,
daß wir einen positiven Weltinhalt haben können, ohne die
Überzeugung, daß er existiere, und daß wir dieses
Daß erst durch höhere Erfahrung gewinnen müssen,
erscheint uns vor einem sich selbst verstehenden Denken so
unbegreiflich, daß wir annehmen müssen, Schelling habe in seiner
späteren Zeit den Standpunkt seiner Jugend, der auf Goethe einen so
mächtigen Eindruck machte, selbst nicht mehr verstanden.
Es geht nicht an, höhere Daseinsformen anzunehmen als die, welche der
Ideenwelt zukommen. Nur weil der Mensch oft nicht imstande ist, zu
begreifen, daß das Sein der Idee ein weit höheres, volleres ist
als das der wahrgenommenen Wirklichkeit, sucht er noch eine weitere
Realität. Er hält das Ideen-Sein für ein Chimärenhaftes, der
Durchtränkung mit dem Realen Entbehrendes und ist damit nicht
zufrieden. Er kann eben die Idee in ihrer Positivität nicht erfassen,
er hat sie nur als Abstraktes; er ahnt ihre Fülle, ihre innere
Vollendetheit und Gediegenheit nicht. Wir müssen aber an die Bildung
die Anforderung stellen, daß sie sich hinaufarbeite bis zu jenem
höheren Standpunkt, wo auch ein Sein, das nicht mit Augen
gesehen, nicht mit Händen gegriffen, sondern mit der Vernunft
erfaßt werden muß, als Reales angesehen wird. Wir
haben also eigentlich einen Idealismus begründet, der
Realismus zugleich ist. Unser Gedankengang ist: das Denken
drängt nach Erklärung der Wirklichkeit aus der Idee. Es verbirgt
dieses Drängen in die Frage: Was ist das Wesen der Wirklichkeit?
Nach dem Inhalt dieses Wesens selbst fragen wir erst am Ende der
Wissenschaft, wir machen es nicht wie der Realismus, der ein Reales
voraussetzt, um daraus dann die Wirklichkeit abzuleiten. Wir
unterscheiden uns von dem Realismus durch das volle Bewußtsein
davon, daß wir ein Mittel, die Welt zu erklären, nur in der
Idee haben. Auch der Realismus hat nur dieses Mittel,
aber er weiß es nicht. Er leitet die Welt aus Ideen ab, aber er
glaubt, er leite sie aus einer anderen Realität her. Leibnizens
Monadenwelt ist nichts als eine Ideenwelt; aber Leibniz glaubt in ihr
eine höhere Realität als eine ideelle zu besitzen. Alle Realisten
machen den gleichen Fehler: sie sinnen Wesen aus und werden nicht
gewahr, daß sie aus der Idee nicht herauskommen. Wir haben
diesen Realismus abgewiesen, weil er sich über die Ideenwesenheit
seines Weltgrundes täuscht; wir haben aber auch jenen falschen
Idealismus abzuweisen, der da glaubt, weil wir über die Idee nicht
hinauskommen, kommen wir über unser Bewußtsein nicht hinaus, und
es seien alle uns gegebenen Vorstellungen und alle Welt nur
subjektiver Schein, nur ein Traum, den unser Bewußtsein träumt
(Fichte). Diese Idealisten begreifen wieder nicht, daß, obzwar
wir über die Idee nicht hinauskommen, wir doch in der Idee das
Objektive haben, das in sich selbst und nicht im Subjekt Gegründete.
Sie bedenken nicht, daß, wenn wir auch nicht aus der
Einheitlichkeit des Denkens hinauskommen, wir mit dem vernünftigen
Denken mitten in die volle Objektivität hineinkommen. Die Realisten
begreifen nicht, daß das Objektive Idee ist, die Idealisten
nicht, daß die Idee objektiv ist.
Wir haben uns noch mit den Empiristen des Sinnenfälligen zu
beschäftigen, die jedes Erklären des Wirklichen durch die Idee als
eine unstatthafte philosophische Deduktion ansehen und das
Stehenbleiben beim Sinnlich-Faßbaren fordern. Gegen diesen
Standpunkt können wir einfach das sagen, daß seine
Forderung doch nur eine methodische, nur eine formelle
sein kann. Wir sollen beim Gegebenen stehen bleiben, heißt
doch nur: wir sollen uns das aneignen, was uns gegenübertritt. Über
das Was desselben kann dieser Standpunkt am
allerwenigsten etwas ausmachen; denn dieses Was muß ihm
eben von dem Gegebenen selbst kommen. Wie man mit der Forderung der
reinen Erfahrung zugleich fordern kann, nicht über die Sinnenwelt
hinauszugehen, da doch die Idee ebenso die Forderung des Gegebenseins
erfüllen kann, ist uns völlig unbegreiflich. Das positivistische
Erfahrungsprinzip muß die Frage ganz offen lassen, was
gegeben ist, und vereinigt sich somit ganz gut mit einem
idealistischen Forschungsresultat. Dann aber ist diese Forderung
ebenfalls mit der unseren zusammenfallend. Und wir vereinigen in
unserer Ansicht alle Standpunkte, insofern sie Berechtigung
haben. Unser Standpunkt ist Idealismus, weil er in der Idee den
Weltgrund sieht; er ist Realismus, weil er die Idee als das Reale
anspricht; und er ist Positivismus oder Empirismus, weil er zu dem
Inhalt der Idee nicht durch apriorische Konstruktion, sondern zu ihm
als einem Gegebenen kommen will. Wir haben eine empirische Methode,
die in das Reale dringt und sich im idealistischen Forschungsresultat
zuletzt befriedigt. Ein Schließen von einem Gegebenen als einem
Bekannten auf ein zugrunde liegendes Nicht-Gegebenes, Bedingendes
kennen wir nicht. Einen Schluß, wo irgendein Glied des Schlusses
nicht gegeben ist, weisen wir ab. Das Schließen ist nur ein
Übergehen von gegebenen Elementen zu anderen ebenso gegebenen. Wir
verbinden im Schlusse a mit b durch c; aber alles das muß
gegeben sein. Wenn Volkelt sagt, unser Denken drängt uns dazu,
zu dem Gegebenen eine Voraussetzung zu machen und es zu überschreiten,
so sagen wir: in unserem Denken drängt uns schon das, was wir zu dem
unmittelbar Gegebenen hinzufügen wollen. Wir müssen daher jede
Metaphysik abweisen. Die Metaphysik will ja das Gegebene durch ein
Nicht-Gegebenes, Erschlossenes erklären (Wolff, Herbart). Wir
sehen in dem Schließen nur eine formelle Tätigkeit, die zu
nichts Neuem führt, die nur Übergänge zwischen Positiv-Vorliegendem
herbeiführt.*
3. System der Wissenschaft
Welche Gestalt hat die fertige Wissenschaft im Lichte der Goetheschen
Denkweise? Vor allem müssen wir festhalten, daß der gesamte
Inhalt der Wissenschaft ein Gegebenes ist; teils gegeben als
Sinnenwelt von außen, teils als Ideenwelt von innen. Alle unsere
wissenschaftliche Tätigkeit wird also darinnen bestehen, die Form, in
der uns dieser Gesamtinhalt des Gegebenen gegenübertritt, zu
überwinden und zu einer uns befriedigenden zu machen. Dies ist
notwendig, weil die innerliche Einheitlichkeit des Gegebenen in der
ersten Form des Auftretens, wo uns nur die äußere Oberfläche
erscheint, verborgen bleibt. Nun stellt sich diese methodische
Tätigkeit, die einen solchen Zusammenhang herstellt, verschieden
heraus, je nach den Erscheinungsgebieten, die wir bearbeiten. Der
erste Fall ist folgender: Wir haben eine Mannigfaltigkeit von
sinnenfällig gegebenen Elementen. Diese stehen miteinander in
Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung wird uns klar, wenn wir uns
ideell in die Sache vertiefen. Dann erscheint uns irgendeines der
Elemente durch die andern mehr oder weniger und in dieser oder jener
Weise bestimmt. Die Daseinsverhältnisse des einen werden uns durch die
des andern begreiflich. Wir leiten die eine Erscheinung aus der andern
ab. Die Erscheinung des erwärmten Steines leiten wir als Wirkung von
den erwärmenden Sonnenstrahlen, als der Ursache, ab. Was wir an dem
einen Dinge wahrnehmen, haben wir da erklärt, wenn wir es aus einem
andern wahrnehmbaren ableiten. Wir sehen, in welcher Weise auf diesem
Gebiete das ideelle Gesetz auftritt. Es umspannt die Dinge der
Sinnenwelt, steht über ihnen. Es bestimmt die gesetzmäßige
Wirkungsweise des einen Dinges, indem sie sie durch ein anderes
bedingt sein läßt. Wir haben hier die Aufgabe, die Reihe der
Erscheinungen so zusammenzustellen, daß eine aus der andern mit
Notwendigkeit hervorgeht, daß sie alle ein Ganzes, durch und
durch Gesetzmäßiges ausmachen. Das Gebiet, das in dieser Weise
zu erklären ist, ist die unorganische Natur. Nun treten uns in
der Erfahrung die einzelnen Erscheinungen keineswegs so gegenüber,
daß das Nächste im Raum und in der Zeit auch das Nächste dem
innern Wesen nach ist. Wir müssen erst von dem räumlich und zeitlich
Nächsten zu dem begrifflich Nächsten übergehen. Wir müssen zu einer
Erscheinung die dem Wesen nach sich unmittelbar an sie
anschließenden suchen. Wir müssen trachten, eine sich selbst
ergänzende, sich tragende, sich gegenseitig stützende Reihe von
Tatsachen zusammenzustellen. Daraus gewinnen wir eine Gruppe von
aufeinander wirkenden sinnenfälligen Elementen der Wirklichkeit; und
das Phänomen, das sich vor uns abwickelt, folgt unmittelbar aus den in
Betracht kommenden Faktoren in durchsichtiger, klarer Weise. Ein
solches Phänomen nennen wir mit Goethe Urphänomen oder Grundtatsache.
Dieses Urphänomen ist identisch mit dem objektiven Naturgesetz.
Die hier besprochene Zusammenstellung kann entweder bloß in
Gedanken geschehen, wie wenn ich die drei bei einem waagrecht
geworfenen Stein in Betracht kommenden bedingenden Faktoren denke: 1.
die Stoßkraft, 2. die Anziehungskraft der Erde und 3. den
Luftwiderstand, und dann die Bahn des fliegenden Steines aus diesen
Faktoren ableite, oder aber: ich kann die einzelnen Faktoren wirklich
zusammenbringen und dann das aus ihrer Wechselwirkung folgende
Phänomen abwarten. Das ist beim Versuche der Fall. Während uns
ein Phänomen der Außenwelt unklar ist, weil wir nur das Bedingte
(die Erscheinung), nicht die Bedingung kennen, ist uns das Phänomen,
das der Versuch liefert, klar, denn wir haben die bedingenden Faktoren
selbst zusammengestellt. Das ist der Weg der Naturforschung,
daß sie von der Erfahrung ausgehe, um zu sehen, was wirklich
ist; zu der Beobachtung fortschreite, um zu sehen, warum dieses
wirklich ist, und sich dann zum Versuche steigere, um zu sehen, was
wirklich sein kann. -
Leider scheint gerade jener Aufsatz Goethes verloren gegangen zu sein,
der diesen Ansichten am besten zur Stütze dienen könnte. Er ist eine
Fortsetzung des Aufsatzes: «Der Versuch als Vermittler von Subjekt und
Objekt» gewesen. Wir wollen, von dem letzteren ausgehend, den
möglichen Inhalt des ersteren nach der einzigen uns zugänglichen
Quelle, dem Briefwechsel Goethes und Schillers, zu rekonstruieren
suchen. Der Aufsatz: «Der Versuch usw. . . .» ist hervorgegangen aus
jenen Studien Goethes, die er anstellte, um seine optischen Arbeiten
zu rechtfertigen. Er ist dann liegen geblieben, bis der Dichter im
Jahre 1798 diese Studien mit frischer Kraft aufnahm und in
Gemeinschaft mit Schiller die Grundprinzipien der
naturwissenschaftlichen Methode einer gründlichen und von allem
wissenschaftlichen Ernst getragenen Untersuchung unterzog. Am 10.
Januar 1798 (siehe Goethes Briefwechsel mit Schiller) schickte er nun
den oben erwähnten Aufsatz an Schiller zur Erwägung und am 13. Januar
kündigt er dem Freunde an, daß er willens sei, die dort
ausgesprochenen Ansichten in einem neuen Aufsatze weiter
auszuarbeiten. Dieser Arbeit unterzog er sich auch und schon am 17.
Januar ging ein kleiner Aufsatz an Schiller ab, der eine
Charakteristik der Methoden der Naturwissenschaft enthalten hat.
Dieser Aufsatz findet sich nun in den Werken nicht. Er wäre unstreitig
derjenige, der für die Würdigung von Goethes Grundanschauungen über
die naturwissenschaftliche Methode die besten Anhaltspunkte gewährte.
Wir können aber die Gedanken, die in demselben niedergelegt sind, aus
dem ausführlichen Briefe Schillers vom 19. Januar 1798 (Briefwechsel
Goethes mit Schiller) erkennen, wobei in Betracht kommt, daß wir
zu dem daselbst Angedeuteten vielfache Belege und Ergänzungen in
Goethes «Sprüchen in Prosa»
finden.*93
Goethe unterscheidet drei Methoden der naturwissenschaftlichen
Forschung. Dieselben beruhen auf drei verschiedenen Auffassungen der
Phänomene. Die erste Methode ist der gemeine Empirismus, der
nicht über das empirische Phänomen, über den unmittelbaren
Tatbestand hinausgeht. Er bleibt bei einzelnen Erscheinungen
stehen. Will der gemeine Empirismus konsequent sein, so muß er
seine ganze Tätigkeit darauf beschränken, jedes ihm aufstoßende
Phänomen genau nach allen Einzelheiten zu beschreiben, d. i. den
empirischen Tatbestand aufzunehmen. Wissenschaft wäre ihm nur die
Summe aller dieser Einzelbeschreibungen aufgenommener Tatbestände.
Gegenüber dem gemeinen Empirismus bildet nun der Rationalismus
die nächst höhere Stufe. Dieser geht auf das wissenschaftliche
Phänomen. Diese Anschauung beschränkt sich nicht mehr auf die
bloße Beschreibung der Phänomene, sondern sie sucht dieselben
durch Aufdeckung der Ursachen, durch Aufstellung von Hypothesen usw.
zu erklären. Es ist die Stufe, wo der Verstand aus den
Erscheinungen auf deren Ursachen und Zusammenhänge schließt.
Sowohl die erstere wie die letzte Methode erklärt Goethe für
Einseitigkeiten. Der gemeine Empirismus ist die rohe Unwissenschaft,
weil er nie aus der bloßen Auffassung der Zufälligkeiten
herauskommt; der Rationalismus dagegen interpretiert in die
Erscheinungswelt Ursachen und Zusammenhänge hinein, die nicht in
derselben sind. Jener kann sich aus der Fülle der Erscheinungen nicht
zum freien Denken erheben, dieser verliert dieselbe als den sicheren
Boden unter seinen Füßen und verfällt der Willkür der
Einbildungskraft und des subjektiven Einfalles. Goethe rügt die Sucht,
mit Erscheinungen sogleich durch subjektive Wirkungen Folgerungen zu
verbinden, mit den schärfsten Worten, so «Sprüche in Prosa»; Natw.
Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 375: «Es ist eine schlimme Sache, die doch
manchem Beobachter begegnet, mit einer Anschauung sogleich eine
Folgerung zu verknüpfen und beide für gleichgeltend zu achten», und:
«Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes,
der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen
Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht
wohl auch, daß es nur ein Behelf ist; liebt nicht aber
Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie
ihrer so sehr bedürfen.» (Ebenda S. 376) Besonders tadelt Goethe den
Mißbrauch, den die Kausalbestimmung veranlaßt. Der
Rationalismus in seiner ungezügelten Phantastik sucht dort Kausalität,
wo sie, durch die Fakten zu suchen, nicht geboten ist. In «Sprüche in
Prosa» (ebenda S. 371) heißt es: «Der eingeborenste Begriff, der
notwendigste, von Ursache und Wirkung, wird in der
Anwendung die Veranlassung zu unzähligen sich immer wiederholenden
Irrtümern.» Namentlich führt ihn seine Sucht nach einfachen
Verbindungen dahin, die Phänomene wie die Glieder einer Kette nach
Ursache und Wirkung rein der Länge nach aneinandergereiht zu
denken; während die Wahrheit doch ist, daß irgendeine
Erscheinung, die durch eine der Zeit nach frühere kausal
bedingt ist, zugleich auch noch von vielen andern Einwirkungen
abhängt. Es wird in diesem Falle bloß die Länge und nicht
die Breite der Natur in Anschlag gebracht. Beide Wege, der
gemeine Empirismus und der Rationalismus, sind nun für Goethe wohl
Durchgangspunkte für die höchste wissenschaftliche Methode, aber eben
nur Durchgangspunkte, die überwunden werden müssen. Und dies
geschieht mit dem rationellen Empirismus, der sich mit dem
reinen Phänomen, das identisch mit dem objektiven Naturgesetz
ist, beschäftigt. Die gemeine Empirie, die unmittelbare
Erfahrung bietet uns nur Einzelnes, Unzusammenhängendes, ein
Aggregat von Erscheinungen. Das heißt, sie bietet uns das nicht
als letzten Abschluß der wissenschaftlichen Betrachtung, wohl
aber als erste Erfahrung. Unser wissenschaftliches Bedürfnis
sucht aber nur Zusammenhängendes, begreift das Einzelne nur als Glied
einer Verbindung. So gehen das Bedürfnis des Begreifens und die
Tatsachen der Natur scheinbar auseinander. Im Geiste ist nur
Zusammenhang, in der Natur nur Sonderung, der Geist erstrebt die
Gattung, die Natur schafft nur Individuen. Die Lösung dieses
Widerspruchs ergibt sich aus der Erwägung, daß einerseits die
verbindende Kraft des Geistes inhaltslos ist, somit allein, durch sich
selbst, nichts Positives erkennen kann, daß andererseits
die Sonderung der Naturobjekte nicht in deren Wesen selbst begründet
ist, sondern in deren räumlicher Erscheinung, daß vielmehr bei
Durchdringung des Wesens des Individuellen, des Besonderen, dieses
selbst uns auf die Gattung hinweist. Weil die Objekte der Natur in der
Erscheinung gesondert sind, bedarf es der zusammenfassenden Kraft des
Geistes, ihre innere Einheit zu zeigen. Weil die Einheit des
Verstandes für sich leer ist, muß er sie mit den Objekten der
Natur erfüllen. So kommen auf dieser dritten Stufe Phänomen und
Geistesvermögen einander entgegen und gehen in eins auf und der
Geist kann jetzt erst vollbefriedigt sein. -
Ein weiteres Gebiet der Forschung ist jenes, wo uns das Einzelne in
seiner Daseinsweise nicht als die Folge eines andern, neben ihm
Bestehenden erscheint, wo wir es daher auch nicht dadurch begreifen,
daß wir ein anderes, Gleichartiges zu Hilfe rufen. Hier
erscheint uns eine Reihe von sinnenfälligen Erscheinungselementen als
unmittelbare Ausgestaltung eines einheitlichen Prinzipes, und wir
müssen zu diesem Prinzipe vordringen, wenn wir die Einzelerscheinung
begreifen wollen. Wir können auf diesem Gebiete das Phänomen nicht aus
äußerer Einwirkung erklären, wir müssen es von innen heraus
ableiten. Was früher bestimmend war, ist jetzt bloß
veranlassend. Während ich beim früheren Gebiet alles begriffen habe,
wenn es mir gelungen ist, es als Folge eines andern anzusehen, es von
einer äußeren Bedingung abzuleiten, werde ich hier zu einer
andern Fragestellung gezwungen. Wenn ich den äußeren
Einfluß kenne, so habe ich noch keinen Aufschluß darüber
erlangt, daß das Phänomen gerade in dieser und keiner anderen
Weise abläuft. Ich muß es von dem zentralen Prinzip jenes Dinges
ableiten, auf das der äußere Einfluß stattgefunden hat.
Ich kann nicht sagen: dieser äußere Einfluß hat diese
Wirkung; sondern nur: auf diesen bestimmten äußeren
Einfluß antwortet das innere Wirkungsprinzip in dieser
bestimmten Weise. Was geschieht, ist Folge einer inneren
Gesetzlichkeit. Ich muß also diese innere Gesetzlichkeit
kennen. Ich muß erforschen, was sich von innen heraus gestaltet.
Dieses sich gestaltende Prinzip, das auf diesem Gebiete jedem Phänomen
zugrunde liegt, das ich in allem zu suchen habe, ist der Typus.
Wir sind im Gebiete der organischen Natur. Was in der
unorganischen Natur Urphänomen, das ist in der Organik Typus.
Der Typus ist ein allgemeines Bild des Organismus: die Idee
desselben; die Tierheit im Tiere. Wir mußten hier die
Hauptpunkte des schon in einem früheren Abschnitte über den «Typus»
Ausgeführten wegen des Zusammenhangs noch einmal anführen. In den
ethischen und historischen Wissenschaften haben wir es dann mit der
Idee im engeren Sinne zu tun. Die Ethik und die Geschichte sind
Idealwissenschaften. Ihre Wirklichkeit sind Ideen. - Der
Einzelwissenschaft obliegt es, das Gegebene so weit zu bearbeiten,
daß sie es bis zu Urphänomen, Typus und den leitenden Ideen in
der Geschichte bringt. «Kann... der Physiker zur Erkenntnis desjenigen
gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben, so ist er geborgen und
der Philosoph mit ihm; er, denn er überzeugt sich, daß er an die
Grenze seiner Wissenschaft gelangt sei, daß er sich auf der
empirischen Höhe befinde, wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren
Stufen überschauen und vorwärts in das Reich der Theorie, wo nicht
eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist geborgen, denn er
nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes
wird» («Entwurf einer Farbenlehre» 720 [Natw. Schr., 3. Bd., S. 275
f.]) - Hier tritt nämlich der Philosoph mit seiner Arbeit auf. Er
ergreift die Urphänomene und bringt sie in den befriedigenden ideellen
Zusammenhang. Wir sehen, durch was im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung die Metaphysik zu ersetzen ist: durch eine
ideengemäße Betrachtung, Zusammenstellung und Ableitung der
Urphänomene. In diesem Sinne spricht sich Goethe wiederholt über das
Verhältnis von empirischer Wissenschaft und Philosophie aus; besonders
deutlich in seinen Briefen an Hegel. Goethe spricht in den Annalen
wiederholt von einem Schema der Naturwissenschaft. Wenn sich dasselbe
vorfände, würden wir daraus ersehen, wie er sich selbst das Verhältnis
der einzelnen Urphänomene untereinander dachte; wie er sie in eine
notwendige Kette zusammenstellte. Eine Vorstellung davon gewinnen wir
auch, wenn wir die Tabelle berücksichtigen, die er im 1. Bd. 4. H.
«Zur Naturwissenschaft» von allen möglichen Wirkungsarten gibt:
Zufällig
Mechanisch
Physisch
Chemisch
Organisch
Psychisch
Ethisch
Religiös
Genial.
Nach dieser aufsteigenden Reihe hätte man sich bei Anordnung der
Urphänomene zu richten.*
4. Über Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung
Man spricht heute viel von Grenzen unseres Erkennens. Unsere
Fähigkeit, das Bestehende zu erklären, soll nur bis zu einem gewissen
Punkte reichen, bei dem sollen wir haltmachen. Wir glauben in bezug
auf diese Frage das Richtige zu treffen, wenn wir sie richtig stellen.
Denn es kommt ja so vielfach nur auf eine richtige Fragestellung an.
Durch eine solche wird ein ganzes Heer von Irrtümern zerstreut. Wenn
wir bedenken, daß der Gegenstand, in bezug auf welchen sich in
uns ein Erklärungsbedürfnis geltend macht, gegeben sein muß, so
ist es klar, daß das Gegebene selbst uns eine Grenze nicht
setzen kann. Denn um überhaupt den Anspruch zu erheben, erklärt,
begriffen zu werden, muß es uns innerhalb der gegebenen
Wirklichkeit gegenübertreten. Was nicht in den Horizont des Gegebenen
eintritt, braucht nicht erklärt zu werden. Die Grenze könnte also nur
darinnen liegen, daß uns einem gegebenen Wirklichen gegenüber
die Mittel fehlen, es zu erklären. Nun kommt unser Erklärungsbedürfnis
aber gerade daher, daß das, als was wir ein Gegebenes ansehen
wollen, durch was wir es erklären wollen, sich in den Horizont des uns
gedanklich Gegebenen eindrängt. Weit entfernt, daß das
erklärende Wesen eines Dinges uns unbekannt wäre, ist es
vielmehr selbst das, was durch sein Auftreten im Geiste die Erklärung
notwendig macht. Was erklärt werden soll und durch was dieses erklärt
werden soll, liegen vor. Es handelt sich nur um die Verbindung beider.
Das Erklären ist kein Suchen eines Unbekannten, nur eine
Auseinandersetzung über den gegenseitigen Bezug zweier Bekannter.
Durch irgend etwas ein Gegebenes zu erklären, von dem wir kein Wissen
haben, sollte uns nie der Einfall kommen. Es kann also von
prinzipiellen Grenzen des Erklärens gar nicht die Rede sein. Nun kommt
da freilich etwas in Betracht, was der Theorie einer Erkenntnisgrenze
einen Schein von Recht gibt. Es kann sein, daß wir von einem
Wirklichen zwar ahnen, daß es da ist, daß es aber doch
unserer Wahrnehmung entrückt ist. Wir können irgendwelche Spuren,
Wirkungen eines Dinges wahrnehmen und dann die Annahme machen,
daß dies Ding vorhanden ist. Und hier kann etwa von einer Grenze
des Wissens gesprochen werden. Das, was wir als nicht erreichbar
voraussetzen, ist hier aber kein solches, aus dem irgend etwas
prinzipiell zu erklären wäre; es ist ein Wahrzunehmendes, wenn auch
kein Wahrgenommenes. Die Hindernisse, warum ich es nicht wahrnehme,
sind keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen, sondern rein zufällige,
äußere. Ja sie können wohl gar überwunden werden. Was ich heute
bloß ahne, kann ich morgen erfahren. Das ist aber mit einem
Prinzip nicht so; da gibt es keine äußeren Hindernisse, die ja
zumeist nur in Ort und Zeit liegen; das Prinzip ist mir innerlich
gegeben. Ich ahne es nicht aus einem andern, wenn ich es nicht selbst
erschaue.
Damit hängt nun die Theorie der Hypothese zusammen. Eine Hypothese ist
eine Annahme, die wir machen und von deren Wahrheit wir uns nicht
direkt, sondern nur durch ihre Wirkungen überzeugen können. Wir sehen
eine Erscheinungsreihe. Sie ist uns nur erklärlich, wenn wir etwas
zugrunde legen, das wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Darf eine solche
Annahme sich auf ein Prinzip erstrecken? Offenbar nicht. Denn ein
Inneres, das ich voraussetze, ohne es gewahr zu werden, ist ein
vollkommener Widerspruch. Die Hypothese kann nur solches annehmen, das
ich zwar nicht wahrnehme, aber sofort wahrnehmen würde, wenn ich die
äußeren Hindernisse wegräumte. Die Hypothese kann zwar nicht
Wahrgenommenes, sie muß aber Wahrnehmbares voraussetzen. So
ist jede Hypothese in dem Fall, daß ihr Inhalt durch eine
künftige Erfahrung direkt bestätigt werden kann. Nur
Hypothesen, die aufhören können es zu sein, haben eine
Berechtigung. Hypothesen über zentrale Wissenschaftsprinzipien
haben keinen Wert. Was nicht durch ein positiv gegebenes Prinzip,
das uns bekannt ist, erklärt wird, das ist überhaupt einer Erklärung
nicht fähig und auch nicht bedürftig.
5. Ethische und historische Wissenschaften
Die Beantwortung der Frage: «Was ist Erkennen?» hat uns über die
Stellung des Menschen im Weltall aufgeklärt. Es kann nun nicht fehlen,
daß die Ansicht, die wir für diese Frage entwickelt haben, auch
über Wert und Bedeutung des menschlichen Handelns Licht verbreitet.
Was wir in der Welt vollbringen, dem müssen wir ja eine größere
oder geringere Bedeutung beilegen, je nachdem wir unsere Bestimmung
höher oder minder bedeutend auffassen.
Die erste Aufgabe, der wir uns nun zu unterziehen haben, wird die
Untersuchung des Charakters der menschlichen Tätigkeit sein. Wie
stellt sich das, was wir als Wirkung menschlichen Tuns auffassen
müssen, zu anderen Wirksamkeiten innerhalb des Weltprozesses?
Betrachten wir zwei Dinge: ein Naturprodukt und ein Geschöpf
menschlicher Tätigkeit, die Kristallgestalt und etwa ein Wagenrad. In
beiden Fällen erscheint uns das vorliegende Objekt als Ergebnis von in
Begriffen ausdrückbaren Gesetzen. Der Unterschied liegt nur darinnen,
daß wir den Kristall als das unmittelbare Produkt der ihn
bestimmenden Naturgesetzlichkeiten ansehen müssen, während beim
Wagenrad der Mensch in die Mitte zwischen Begriff und Gegenstand
tritt. Was wir im Naturprodukt als dem Wirklichen zugrunde liegend
denken, das führen wir in unserem Handeln in die Wirklichkeit ein. Im
Erkennen erfahren wir, welches die ideellen Bedingungen der
Sinneserfahrung sind; wir bringen die Ideenwelt, die in der
Wirklichkeit schon liegt, zum Vorschein; wir schließen also den
Weltprozess in der Hinsicht ab, daß wir den Produzenten, der
ewig die Produkte hervorgehen läßt, aber ohne unser Denken ewig
in ihnen verborgen bliebe, zur Erscheinung rufen. Im Handeln aber
ergänzen wir diesen Prozess dadurch, daß wir die Ideenwelt,
insofern sie noch nicht Wirklichkeit ist, in solche umsetzen. Nun
haben wir die Idee als das erkannt, was allem Wirklichen zugrunde
liegt, als das Bedingende, die Intention der Natur. Unser Erkennen
führt uns dahin, die Tendenz des Weltprozesses, die Intention der
Schöpfung aus den in der uns umgebenden Natur enthaltenen Andeutungen
zu finden. Haben wir das erreicht, dann ist unserem Handeln die
Aufgabe zuerteilt, selbständig an der Verwirklichung jener Intention
mitzuarbeiten. Und so erscheint uns unser Handeln direkt als eine
Fortsetzung jener Art von Wirksamkeit, die auch die Natur erfüllt. Es
erscheint uns als unmittelbarer Ausfluß des Weltgrundes. Aber
doch welch ein Unterschied ist da gegenüber der anderen
(Natur-)Tätigkeit! Das Naturprodukt hat keineswegs in sich selbst die
ideelle Gesetzmäßigkeit, von der es beherrscht erscheint. Es
bedarf bei ihm des Gegenübertretens eines höheren, des menschlichen
Denkens; dann erscheint diesem das, wovon jenes beherrscht
wird. Beim menschlichen Tun ist das anders. Da wohnt dem tätigen
Objekte unmittelbar die Idee inne; und träte ihm ein höheres Wesen
gegenüber, so könnte es in seiner Tätigkeit nichts anderes finden, als
was dieses selbst in sein Tun gelegt hat. Denn ein vollkommenes
menschliches Handeln ist das Ergebnis unserer Absichten und nur
dieses. Blicken wir ein Naturprodukt an, das auf ein anderes wirkt, so
stellt sich die Sache so: Wir sehen eine Wirkung; diese Wirkung ist
bedingt durch in Begriffe zu fassende Gesetze. Wollen wir aber die
Wirkung begreifen, da genügt es nicht, daß wir sie mit
irgendwelchen Gesetzen zusammenhalten, wir müssen ein zweites
wahrzunehmendes - allerdings wieder ganz in Begriffe aufzulösendes -
Ding haben. Wenn wir einen Eindruck in dem Boden sehen, so suchen wir
nach dem Gegenstande, der ihn gemacht hat. Das führt zu dem Begriffe
einer solchen Wirkung, wo die Ursache einer Erscheinung wieder in Form
einer äußeren Wahrnehmung erscheint, d. i. aber um Begriffe der
Kraft. Die Kraft kann uns nur da entgegentreten, wo die Idee
zuerst an einem Wahrnehmungsobjekte erscheint und erst unter dieser
Form auf ein anderes Objekt wirkt. Der Gegensatz hierzu ist, wenn
diese Vermittlung wegfällt, wenn die Idee unmittelbar an die
Sinnenwelt herantritt. Da erscheint die Idee selbst verursachend. Und
hier ist es, wo wir vom Willen sprechen. Wille ist also die
Idee selbst als Kraft aufgefaßt. Von einem selbständigen
Willen zu sprechen ist völlig unstatthaft. Wenn der Mensch irgend
etwas vollbringt, so kann man nicht sagen, es komme zu der Vorstellung
noch der Wille hinzu. Spricht man so, so hat man die Begriffe nicht
klar erfaßt, denn, was ist die menschliche Persönlichkeit, wenn
man von der sie erfüllenden Ideenwelt absieht? Doch ein tätiges
Dasein. Wer sie anders faßte: als totes, untätiges Naturprodukt,
setzte sie ja dem Steine auf der Straße gleich. Dieses tätige
Dasein ist aber ein Abstraktum, es ist nichts Wirkliches. Man kann es
nicht fassen, es ist ohne Inhalt. Will man es fassen, will man einen
Inhalt, dann erhält man eben die im Tun begriffene Ideenwelt. E. v.
Hartmann macht dieses Abstraktum zu einem zweiten weltkonstituierenden
Prinzip neben der Idee. Es ist aber nichts anderes als die Idee
selbst, nur in einer Form des Auftretens. Wille ohne Idee wäre
nichts. Das gleiche kann man nicht von der Idee sagen, denn die
Tätigkeit ist ein Element von ihr, während sie die sich selbst
tragende Wesenheit ist.*
Dies zur Charakteristik des menschlichen Tuns. Wir schreiten zu einem
weiteren wesentlichen Kennzeichen desselben, das aus dem bisher
Gesagten sich mit Notwendigkeit ergibt. Das Erklären eines Vorganges
in der Natur ist ein Zurückgehen auf die Bedingungen desselben: ein
Aufsuchen des Produzenten zu dem gegebenen Produkte. Wenn ich eine
Wirkung wahrnehme und dazu die Ursache suche, so genügen diese zwei
Wahrnehmungen keineswegs meinem Erklärungsbedürfnisse. Ich muß
zu den Gesetzen zurückgehen, nach denen diese Ursache diese
Wirkung hervorbringt. Beim menschlichen Handeln ist das anders. Da
tritt die eine Erscheinung bedingende Gesetzlichkeit selbst in Aktion;
was ein Produkt konstituiert, tritt selbst auf den Schauplatz des
Wirkens. Wir haben es mit einem erscheinenden Dasein zu tun, bei dem
wir stehenbleiben können, bei dem wir nicht nach den tiefer liegenden
Bedingungen zu fragen brauchen. Ein Kunstwerk haben wir begriffen,
wenn wir die Idee kennen, die in demselben verkörpert ist; wir
brauchen nach keinem weiteren gesetzmäßigen Zusammenhang
zwischen Idee (Ursache) und Werk (Wirkung) zu fragen. Das Handeln
eines Staatsmannes begreifen wir, wenn wir seine Intentionen (Ideen)
kennen; wir brauchen nicht weiter über das, was in die Erscheinung
tritt, hinauszugehen. Dadurch also unterscheiden sich Prozesse der
Natur von Handlungen des Menschen, daß bei jenen das Gesetz als
der bedingende Hintergrund des erscheinenden Daseins zu betrachten
ist, während bei diesen das Dasein selbst Gesetz ist und von nichts
als von sich selbst bedingt erscheint. Dadurch legt sich jeder
Naturprozeß in ein Bedingendes und ein Bedingtes auseinander,
und das letztere folgt mit Notwendigkeit aus dem ersten,
während das menschliche Handeln nur sich selbst bedingt Das aber ist
das Wirken mit Freiheit. Indem die Intentionen der Natur, die
hinter den Erscheinungen stehen und sie bedingen, in den Menschen
einziehen, werden sie selbst zur Erscheinung; aber sie sind
jetzt gleichsam rückenfrei. Wenn alle Naturprozesse nur
Manifestationen der Idee sind, so ist das menschliche Tun die
agierende Idee selbst.
Indem unsere Erkenntnistheorie zu dem Schlusse gekommen ist, daß
der Inhalt unseres Bewußtseins nicht bloß ein Mittel sei,
sich von dem Weltengrunde ein Abbild zu machen, sondern daß
dieser Weltengrund selbst in seiner ureigensten Gestalt in unserem
Denken zutage tritt, so können wir nicht anders, als im menschlichen
Handeln auch unmittelbar das unbedingte Handeln jenes Urgrundes selbst
erkennen. Einen Weltlenker, der außerhalb unserer selbst unseren
Handlungen Ziel und Richtung setzte, kennen wir nicht. Der Weltlenker
hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben,
mit Vernichtung seines Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe
zuerteilt: wirke weiter. Der Mensch findet sich in der Welt, erblickt
die Natur, in derselben die Andeutung eines Tieferen, Bedingenden,
einer Intention. Sein Denken befähigt ihn, diese Intention zu
erkennen. Sie wird sein geistiger Besitz. Er hat die Welt
durchdrungen; er tritt handelnd auf, jene Intentionen fortzusetzen.
Damit ist die hier vorgetragene Philosophie die wahre
Freiheitsphilosophie. Sie läßt für die menschlichen
Handlungen weder die Naturnotwendigkeit gelten, noch den Einfluß
eines außerweltlichen Schöpfers oder Weltlenkers. Der Mensch
wäre in dem einen wie in dem andern Fall unfrei. Wirkte in ihm
die Naturnotwendigkeit wie in den anderen Wesen, dann vollführte er
seine Taten aus Zwang, dann wäre auch bei ihm ein Zurückgehen auf
Bedingungen notwendig, die dem erscheinenden Dasein zugrunde liegen
und von Freiheit keine Rede. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen,
daß es unzählige menschliche Verrichtungen gibt, die nur unter
diesen Gesichtspunkt fallen; allein diese kommen hier nicht in
Betracht. Der Mensch, insofern er ein Naturwesen ist, ist auch nach
den für das Naturwirken geltenden Gesetzen zu begreifen. Allein weder
als erkennendes noch als wahrhaft ethisches Wesen ist sein Auftreten
aus bloßen Naturgesetzen einzusehen. Da tritt er eben aus der
Sphäre der Naturwirklichkeiten heraus. Und für diese höchste Potenz
seines Daseins, die mehr Ideal als Wirklichkeit ist, gilt das hier
Festgestellte. Des Menschen Lebensweg besteht darinnen, daß er
sich vom Naturwesen zu einem solchen entwickelt, wie wir es hier
kennengelernt haben; er soll sich frei machen von allen Naturgesetzen
und sein eigener Gesetzgeber werden.
Aber auch den Einfluß eines außerweltlichen Lenkers der
Menschengeschicke müssen wir ablehnen. Auch da, wo ein solcher
angenommen wird, kann von wahrer Freiheit nicht die Rede sein. Da
bestimmt er die Richtung des menschlichen Handelns und der Mensch hat
auszuführen, was ihm jener zu tun vorgesetzt. Er empfindet den Antrieb
zu seinen Handlungen nicht als Ideal, das er sich selbst vorsetzt,
sondern als Gebot jenes Lenkers; wieder ist sein Handeln nicht
unbedingt, sondern bedingt. Der Mensch fühlte sich dann
eben nicht rückenfrei, sondern abhängig, nur Mittel für die
Intentionen einer höheren Macht.
Wir haben gesehen, daß der Dogmatismus darinnen besteht,
daß der Grund, warum irgend etwas wahr ist, in einem unserem
Bewußtsein Jenseitigen, Unzugänglichen (Transsubjektiven)
gesucht wird, im Gegensatz zu unserer Ansicht, die ein Urteil nur
deshalb wahr sein läßt, weil der Grund dazu in den im
Bewußtsein liegenden, in das Urteil einfließenden
Begriffen liegt. Wer sich einen Weltengrund außer unserer
Ideenwelt denkt, der denkt sich, daß der ideale Grund, warum von
uns etwas als wahr erkannt wird, ein anderer ist, als warum es
objektiv wahr ist. So ist die Wahrheit als Dogma
aufgefaßt. Und auf dem Gebiete der Ethik ist das Gebot
das, was in der Wissenschaft das Dogma ist. Der Mensch
handelt, wenn er die Antriebe zu seinem Handeln in Geboten sucht, nach
Gesetzen, deren Begründung nicht von ihm abhängt; er denkt sich eine
Norm, die von außen seinem Handeln vorgeschrieben ist. Er
handelt aus Pflicht. Von Pflicht zu reden, hat nur bei dieser
Auffassung Sinn. Wir müssen den Antrieb von außen empfinden und
die Notwendigkeit anerkennen, ihm zu folgen, dann handeln wir
aus Pflicht. Unsere Erkenntnistheorie kann ein solches Handeln,
da wo der Mensch in seiner sittlichen Vollendung auftritt, nicht
gelten lassen. Wir wissen daß die Ideenwelt die unendliche
Vollkommenheit selbst ist; wir wissen, daß mit ihr die Antriebe
unseres Handelns in uns liegen; und wir müssen demzufolge nur
ein solches Handeln als ethisch gelten lassen, bei dem die Tat nur aus
der in uns liegenden Idee derselben fließt. Der Mensch
vollbringt von diesem Gesichtspunkte aus nur deshalb eine Handlung,
weil deren Wirklichkeit für ihn Bedürfnis ist. Er handelt, weil ein
innerer (eigener) Drang, nicht eine äußere Macht, ihn treibt.
Das Objekt seines Handelns, sobald er sich einen Begriff davon macht,
erfüllt ihn so, daß er es zu verwirklichen strebt. In dem
Bedürfnis nach Verwirklichung einer Idee, in dem Drange nach der
Ausgestaltung einer Absicht soll auch der einzige Antrieb unseres
Handelns sein. In der Idee soll sich alles ausleben, was uns zum Tun
drängt. Wir handeln dann nicht aus Pflicht, wir handeln nicht einem
Triebe folgend, wir handeln aus Liebe zu dem Objekt, auf das
unsere Handlung sich erstrecken soll. Das Objekt, indem wir es
vorstellen, ruft in uns den Drang nach einer ihm angemessenen Handlung
hervor. Ein solches Handeln ist allein ein freies. Denn müßte zu
dem Interesse, das wir an dem Objekt nehmen, noch ein zweiter
anderweitiger Anlaß kommen, dann wollten wir nicht dieses Objekt
um seiner selbst willen, wir wollten ein anderes und
vollbrächten dieses, was wir nicht wollen; wir
vollführten eine Handlung gegen unseren Willen. Das wäre etwa
beim Handeln aus Egoismus der Fall. Da nehmen wir an der
Handlung selbst kein Interesse; sie ist uns nicht Bedürfnis, wohl aber
der Nutzen, den sie uns bringt. Dann aber empfinden wir es auch
zugleich als Zwang, daß wir jene Handlung, nur dieses Zweckes
willen, vollbringen müssen. Sie selbst ist uns nicht Bedürfnis; denn
wir unterließen sie, wenn sie den Nutzen nicht im Gefolge hätte.
Eine Handlung aber, die wir nicht um ihrer selbst willen vollbringen,
ist eine unfreie. Der Egoismus handelt unfrei. Unfrei handelt
überhaupt jeder Mensch, der eine Handlung aus einem Anlaß
vollbringt, der nicht aus dem objektiven Inhalt der Handlung selbst
folgt. Eine Handlung um ihrer selbst willen ausführen, heißt aus
Liebe handeln. Nur derjenige, den die Liebe zum Tun, die
Hingabe an die Objektivität leitet, handelt wahrhaft frei. Wer
dieser selbstlosen Hingabe nicht fähig ist, wird seine Tätigkeit nie
als eine freie ansehen können.
Soll das Handeln des Menschen nichts anderes sein als die
Verwirklichung seines eigenen Ideengehaltes, dann ist es natürlich,
daß solcher Gehalt in ihm liegen muß. Sein Geist muß
produktiv wirken. Denn was sollte ihn mit dem Drange erfüllen, etwas
zu vollbringen, wenn nicht eine sich in seinem Geiste heraufarbeitende
Idee? Diese Idee wird sich um so fruchtbarer erweisen, in je
bestimmteren Umrissen, mit je deutlicherem Inhalte sie im Geiste
auftritt. Denn nur das kann uns ja mit aller Gewalt zur Verwirklichung
drängen, das seinem ganzen «Was» nach vollbestimmt ist. Das nur dunkel
vorgestellte, das unbestimmt gelassene Ideal ist als Antrieb des
Handelns ungeeignet. Was soll uns an ihm eineifern, da sein Inhalt
nicht offen und klar am Tage liegt. Die Antriebe für unser Handeln
müssen daher immer in Form individueller Intentionen auftreten. Alles,
was der Mensch Fruchtbringendes vollführt, verdankt solchen
individuellen Impulsen seine Entstehung. Völlig wertlos erweisen sich
allgemeine Sittengesetze, ethische Normen usw., die für alle Menschen
Gültigkeit haben sollen. Wenn Kant nur dasjenige als sittlich gelten
läßt, was sich für alle Menschen als Gesetz eignet, so
ist demgegenüber zu sagen, daß alles positive Handeln
aufhören müßte, alles Große aus der Welt verschwinden
müßte, wenn jeder nur das tun sollte, was sich für alle eignet.
Nein, nicht solche vage, allgemeine ethische Normen, sondern die
individuellsten Ideale sollen unser Handeln leiten. Nicht alles ist
für alle gleich würdig zu vollbringen, sondern dies für den,
für jenen das, je nachdem einer den Beruf zu einer Sache fühlt. J.
Kreyenbühl hat hierüber treffliche Worte in seinem Aufsatze
«Die ethische Freiheit bei Kant»
(Philosophische Monatshefte, Bd. XVIII, 3.
H. [Berlin etc. 1882, S. 129ff.]) gesagt: «Soll ja die Freiheit
meine Freiheit, die sittliche Tat meine Tat, soll das
Gute und Rechte durch mich, durch die Handlung dieser
besonderen individuellen Persönlichkeit verwirklicht werden, so kann
mir unmöglich ein allgemeines Gesetz genügen, das von aller
Individualität und Besonderheit der beim Handeln konkurrierenden
Umstände absieht und mir befiehlt vor jeder Handlung zu prüfen, ob das
ihr zugrunde liegende Motiv der abstrakten Norm der allgemeinen
Menschennatur entspreche, ob es so, wie es in mir lebt und wirkt,
allgemein gültige Maxime werden könne.» ... «Eine derartige Anpassung
an das allgemein Übliche und Gebräuchliche würde jede individuelle
Freiheit, jeden Fortschritt über das Ordinäre und Hausbackene, jede
bedeutende, hervorragende und bahnbrechende ethische Leistung
unmöglich machen.»
Diese Ausführungen verbreiten Licht über jene Fragen, die eine
allgemeine Ethik zu beantworten hat. Man behandelt die letztere ja
vielfach so, als ob sie eine Summe von Normen sei, nach
denen das menschliche Handeln sich zu richten habe. Man stellt von
diesem Gesichtspunkte aus die Ethik der Naturwissenschaft und
überhaupt der Wissenschaft vom Seienden gegenüber. Während
nämlich die letztere uns die Gesetze von dem, was besteht, was ist,
vermitteln soll, hätte uns die Ethik jene vom Seinsollenden zu
lehren. Die Ethik soll ein Kodex von allen Idealen des Menschen sein,
eine ausführliche Antwort auf die Frage: Was ist gut? Eine
solche Wissenschaft ist aber unmöglich. Es kann keine allgemeine
Antwort auf diese Frage geben. Das ethische Handeln ist ja ein Produkt
dessen, was sich im Individuum geltend macht; es ist immer im
einzelnen Fall gegeben, nie im allgemeinen. Es gibt keine allgemeinen
Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe nur ja nicht
die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener Völker als solche an. Sie
sind auch nichts weiter als der Ausfluß individueller
Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit als sittliches Motiv
empfunden hat, hat sich einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum
«Recht dieses Volkes» geworden. Ein allgemeines Naturrecht, das
für alle Menschen und alle Zeiten gelte, ist ein Unding.
Rechtsanschauungen und Sittlichkeitsbegriffe kommen und gehen mit den
Völkern, ja sogar mit den Individuen. Immer ist die Individualität
maßgebend. Im obigen Sinne von einer Ethik zu sprechen, ist also
unstatthaft. Aber es gibt andere Fragen, die in dieser Wissenschaft zu
beantworten sind, Fragen, die z. T. in diesen Erörterungen kurz
beleuchtet worden sind. Ich erwähne nur: die Feststellung des
Unterschiedes von menschlichem Handeln und Naturwirken, die Frage nach
dem Wesen des Willens und der Freiheit usw. Alle diese Einzelaufgaben
lassen sich unter die eine subsumieren: Inwiefern ist der Mensch ein
ethisches Wesen? Das bezweckt aber nichts anderes als die Erkenntnis
der sittlichen Natur des Menschen. Es wird nicht gefragt: Was soll der
Mensch tun? sondern: Was ist das, was er tut, seinem inneren
Wesen nach? Und damit fällt jene Scheidewand, welche alle Wissenschaft
in zwei Sphären trennt: in eine Lehre vom Seienden und eine vom
Seinsollenden. Die Ethik ist ebenso wie alle anderen Wissenschaften
eine Lehre vom Seienden. In dieser Hinsicht geht der einheitliche
Zug durch alle Wissenschaften, daß sie von einem Gegebenen
ausgehen und zu dessen Bedingungen fortschreiten. Vom menschlichen
Handeln selbst aber kann es keine Wissenschaft geben; denn das ist
unbedingt, produktiv, schöpferisch. Die Jurisprudenz ist keine
Wissenschaft, sondern nur eine Notizensammlung jener
Rechtsgewohnheiten, die einer Volksindividualität eigen sind.*
Der Mensch gehört nun nicht allein sich selbst; er gehört als Glied
zwei höheren Totalitäten an. Erstens ist er ein Glied seines Volkes,
mit dem ihn gemeinschaftliche Sitten, ein gemeinschaftliches
Kulturleben, eine Sprache und gemeinsame Anschauung vereinigen. Dann
aber ist er auch ein Bürger der Geschichte, das einzelne Glied in dem
großen historischen Prozesse der Menschheitsentwicklung. Durch
diese doppelte Zugehörigkeit zu einem Ganzen scheint sein freies
Handeln beeinträchtigt. Was er tut, scheint nicht allein ein
Ausfluß seines eigenen individuellen Ichs zu sein; er erscheint
bedingt durch die Gemeinsamkeiten, die er mit seinem Volke hat,
seine Individualität scheint durch den Volkscharakter vernichtet. Bin
ich denn dann noch frei, wenn man meine Handlungen nicht allein aus
meiner, sondern wesentlich auch aus der Natur meines Volkes erklärlich
findet? Handle ich da nicht deshalb so, weil mich die Natur
gerade zum Gliede dieser Volksgenossenschaft gemacht hat? Und
mit der zweiten Zugehörigkeit ist es nicht anders. Die Geschichte
weist mir den Platz meines Wirkens an. Ich bin von der Kulturepoche
abhängig, in der ich geboren bin; ich bin ein Kind meiner Zeit. Wenn
man aber den Menschen zugleich als erkennendes und handelndes
Wesen auffaßt, dann löst sich dieser Widerspruch. Durch sein
Erkenntnisvermögen dringt der Mensch in den Charakter seiner
Volksindividualität ein; es wird ihm klar, wohin seine Mitbürger
steuern. Wovon er so bedingt erscheint, das überwindet er und nimmt es
als vollerkannte Vorstellung in sich auf; es wird in ihm individuell
und erhält ganz den persönlichen Charakter, den das Wirken aus
Freiheit hat. Ebenso stellt sich die Sache mit der historischen
Entwicklung, innerhalb welcher der Mensch auftritt. Er erhebt sich zur
Erkenntnis der leitenden Ideen, der sittlichen Kräfte, die da walten;
und dann wirken sie nicht mehr als ihn bedingende, sondern sie werden
in ihm zu individuellen Triebkräften. Der Mensch muß sich eben
hinaufarbeiten, damit er nicht geleitet werde, sondern sich selbst
leite. Er muß sich nicht blindlings von seinem Volkscharakter
führen lassen, sondern sich zur Erkenntnis desselben erheben, damit er
bewußt im Sinne seines Volkes handle. Er darf sich nicht
von dem Kulturfortschritte tragen lassen, sondern er muß die
Ideen seiner Zeit zu seinen eigenen machen. Dazu ist vor allem
notwendig, daß der Mensch seine Zeit verstehe. Dann wird er mit
Freiheit ihre Aufgabe erfüllen, dann wird er mit seiner eigenen Arbeit
an der rechten Stelle ansetzen. Hier haben die Geisteswissenschaften
(Geschichte, Kultur- und Literaturgeschichte usw.) vermittelnd
einzutreten. In den Geisteswissenschaften hat es der Mensch mit seinen
eigenen Leistungen zu tun, mit den Schöpfungen der Kultur, der
Literatur, mit der Kunst usw. Geistiges wird durch den Geist
erfaßt. Und der Zweck der Geisteswissenschaften soll kein
anderer sein, als daß der Mensch erkenne, wohin er von dem
Zufalle gestellt ist; er soll erkennen, was schon geleistet ist, was
ihm zu tun obliegt. Er muß durch die
Geisteswissenschaften den rechten Punkt finden, um mit seiner
Persönlichkeit an dem Getriebe der Welt teilzunehmen. Der Mensch
muß die Geisteswelt kennen und nach dieser Erkenntnis seinen
Anteil an ihr bestimmen.*
Gustav Freytag sagt in der Vorrede zum ersten Bande seiner «Bilder aus
der deutschen Vergangenheit» [Leipzig 1859]: «Alle großen
Schöpfungen der Volkskraft, angestammte Religion, Sitte, Recht,
Staatsbildung sind für uns nicht mehr die Resultate einzelner Männer,
sie sind organische Schöpfungen eines hohen Lebens, welches zu jeder
Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt, und zu jeder Zeit
den geistigen Gehalt der Individuen in sich zu einem mächtigen Ganzen
zusammenfaßt... So darf man wohl, ohne etwas Mystisches zu
sagen, von einer Volksseele sprechen. ... Aber nicht mehr
bewußt, wie die Willenskraft eines Mannes, arbeitet das Leben
eines Volkes. Das Freie, Verständige in der Geschichte vertritt der
Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunklen Zwang
einer Urgewalt.» Hätte Freytag dieses Leben des Volkes
untersucht, so hätte er wohl gefunden, daß es sich in das Wirken
einer Summe von Einzelindividuen auflöst, die jenen dunklen Zwang
überwinden, das Unbewußte in ihr Bewußtsein heraufheben,
und er hätte gesehen, wie das aus den individuellen
Willensimpulsen, aus dem freien Handeln des Menschen hervorgeht, was
er als Volksseele, als dunklen Zwang anspricht.
Aber noch etwas kommt in bezug auf das Wirken des Menschen innerhalb
seines Volkes in Betracht. Jede Persönlichkeit repräsentiert eine
geistige Potenz, eine Summe von Kräften, die nach der Möglichkeit zu
wirken suchen. Jedermann muß deshalb den Platz finden, wo sich
sein Wirken in der zweckmäßigsten Weise in seinen
Volksorganismus eingliedern kann. Es darf nicht dem Zufalle überlassen
bleiben, ob er diesen Platz findet. Die Staatsverfassung hat keinen
anderen Zweck, als dafür zu sorgen, daß jeder einen angemessenen
Wirkungskreis finde. Der Staat ist die Form, in der sich der
Organismus eines Volkes darlebt.
Die Volkskunde und Staatswissenschaft hat die Weise zu erforschen,
inwiefern die einzelne Persönlichkeit innerhalb des Staates zu einer
ihr entsprechenden Geltung kommen kann. Die Verfassung muß aus
dem innersten Wesen eines Volkes hervorgehen. Der Volkscharakter in
einzelnen Sätzen ausgedrückt, das ist die beste Staatsverfassung. Der
Staatsmann kann dem Volke keine Verfassung aufdrängen. Der
Staatslenker hat die tiefen Eigentümlichkeiten seines Volkes zu
erforschen und den Tendenzen, die in diesem schlummern, durch die
Verfassung die ihnen entsprechende Richtung zu geben. Es kann
vorkommen, daß die Mehrheit des Volkes in Bahnen einlenken will,
die gegen seine eigene Natur gehen. Goethe meint, in diesem Falle habe
sich der Staatsmann von der letzteren und nicht von den zufälligen
Forderungen der Mehrheit leiten zu lassen; er habe die Volkheit
gegen das Volk in diesem Falle zu vertreten («Sprüche in Prosa»,
Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 480f.).
Hieran müssen wir noch ein Wort über die Methode der Geschichte
anschließen. Die Geschichte muß stets im Auge haben,
daß die Ursachen zu den historischen Ereignissen in den
individuellen Absichten, Plänen usw. der Menschen zu suchen sind.
Alles Ableiten der historischen Tatsachen aus Plänen, die der
Geschichte zugrunde liegen, ist ein Irrtum. Es handelt sich immer nur
darum, welche Ziele sich diese oder jene Persönlichkeit vorgesetzt,
welche Wege sie eingeschlagen usf. Die Geschichte ist durchaus auf die
Menschennatur zu gründen. Ihr Wollen, ihre Tendenzen sind zu
ergründen.
Wir können nun wieder das hier über die ethische Wissenschaft Gesagte
durch Aussprüche Goethes belegen. Wenn er sagt: «Die vernünftige Welt
ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das
unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das
Zufällige zum Herrn macht», [«Sprüche in Prosa», ebenda S. 482], so
ist das nur aus dem Verhältnisse, in dem wir den Menschen mit der
Geschichtsentwicklung erblicken, zu erklären. - Der Hinweis auf ein
positives individuelles Substrat des Wirkens liegt in den Worten:
«Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt
bankerott» (Ebenda S. 463). Dasselbe in: «Der geringste Mensch kann
komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten
und Fertigkeiten bewegt.» (Ebenda S. 443) -Die Notwendigkeit,
daß der Mensch sich zu den leitenden Ideen seines Volkes und
seiner Zeit erhebe, ist ausgesprochen in (ebenda S. 487): «Frage sich
doch jeder, mit welchem Organ er allenfalls in seine Zeit einwirken
kann und wird», und (ebenda S. 455): «Man muß wissen, wo man
steht und wohin die andern wollen.» Unsere Ansicht von der Pflicht ist
wiederzuerkennen in (ebenda S. 460):
«Pflicht, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.»
Wir haben den Menschen als erkennendes und handelndes Wesen durchaus
auf sich selbst gestellt. Wir haben seine Ideenwelt als mit dem
Weltengrunde zusammenfallend bezeichnet und haben erkannt, daß
alles, was er tut, nur als der Ausfluß seiner eigenen
Individualität anzusehen ist. Wir suchen den Kern des Daseins in dem
Menschen selbst. Ihm offenbart niemand eine dogmatische Wahrheit, ihn
treibt niemand beim Handeln. Er ist sich selbst genug. Er muß
alles durch sich selbst, nichts durch ein anderes Wesen sein. Er
muß alles aus sich selbst schöpfen. Also auch den Quell für
seine Glückseligkeit. Wir haben ja erkannt, daß von einer Macht,
die den Menschen lenkte, die sein Dasein nach Richtung und Inhalt
bestimmte, ihn zur Unfreiheit verdammte, nicht die Rede sein kann.
Soll dem Menschen daher Glückseligkeit werden, so kann das nur durch
ihn selbst geschehen. So wenig eine äußere Macht uns die Normen
unseres Handelns vorschreibt, so wenig wird eine solche den Dingen die
Fähigkeit erteilen, daß sie in uns das Gefühl der Befriedigung
erwecken, wenn wir es nicht selbst tun. Lust und Unlust sind für den
Menschen nur da, wenn er selbst zuerst den Gegenständen das Vermögen
beilegt, diese Gefühle in ihm wachzurufen. Ein Schöpfer, der von
außen bestimmte, was uns Lust, was Unlust machen soll, führte
uns am Gängelbande.*
Damit ist jeder Optimismus und Pessimismus widerlegt. Der Optimismus
nimmt an, daß die Welt vollkommen sei, daß sie für den
Menschen der Quell höchster Zufriedenheit sein müsse. Sollte das aber
der Fall sein, so müßte der Mensch erst in sich jene
Bedürfnisse entwickeln, wodurch ihm diese Zufriedenheit wird. Er
müßte den Gegenständen das abgewinnen, wonach er verlangt. Der
Pessimismus glaubt, die Einrichtung der Welt sei eine solche,
daß sie den Menschen ewig unbefriedigt lasse, daß er nie
glücklich sein könne. Welch ein erbarmungswürdiges Geschöpf wäre der
Mensch, wenn ihm die Natur von außen Befriedigung böte! Alles
Wehklagen über ein Dasein, das uns nicht befriedigt, über diese harte
Welt muß schwinden gegenüber dem Gedanken, daß uns keine
Macht der Welt befriedigen könnte, wenn wir ihr nicht zuerst selbst
jene Zauberkraft verliehen, durch die sie uns erhebt, erfreut.
Befriedigung muß uns aus dem werden, wozu wir die Dinge machen,
aus unseren eigenen Schöpfungen. Nur das ist freier Wesen würdig..
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