VERHÄLTNIS DER GOETHESCHEN DENKWEISE
ZU ANDEREN ANSICHTEN
Wenn von dem Einflusse älterer oder gleichzeitiger Denker auf die
Entwicklung des Goetheschen Geistes gesprochen wird, so kann das nicht
in dem Sinne geschehen, als ob er seine Ansichten auf Grund von deren
Lehren gebildet hätte. Die Art und Weise, wie er denken mußte,
wie er die Welt ansah, lag in der ganzen Anlage seiner Natur
vorgebildet. Und zwar lag sie von frühester Jugend an in seinem Wesen.
In bezug darauf blieb er sich dann auch sein ganzes Leben lang gleich.
Es sind vornehmlich zwei bedeutsame Charakterzüge, die hier in
Betracht kommen. Der erste ist der Drang nach den Quellen, nach der
Tiefe alles Seins. Es ist im letzten Grunde der Glaube an die Idee.
Die Ahnung eines Höheren, Besseren erfüllt Goethe stets. Man möchte
das einen tief religiösen Zug seines Geistes nennen. Was so vielen ein
Bedürfnis ist: die Dinge unter Abstreifung eines jeglichen Heiligen zu
sich herabzuziehen, das kennt er nicht. Er hat aber das andere
Bedürfnis, ein Höheres zu ahnen und sich zu ihm emporzuarbeiten.
Jedem Dinge sucht er eine Seite abzugewinnen, wodurch es uns
heilig wird. K. J. Schröer hat das in geistvollster Weise in bezug auf
Goethes Verhalten in der Liebe gezeigt. Alles Frivole, Leichtfertige
wird abgestreift und die Liebe wird für Goethe ein Frommsein. Dieser
Grundzug seines Wesens ist am schönsten in seinen Worten
ausgesprochen:
«In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinem, UnbekanntenAus Dankbarkeit
freiwillig hinzugeben.
Wir heißen's: fromm sein!»
Diese Seite seines Wesens ist nun [Trilogie der Leidenschaft 1 Elegie]
unzertrennlich mit einer andern in Verbindung. Er sucht an dieses
Höhere nie unmittelbar heranzutreten; er sucht sich ihm immer durch
die Natur zu nähern. «Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht
unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten»
(«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.., S. 378). Neben dem
Glauben an die Idee hat Goethe auch den andern, daß wir die Idee
durch Betrachtung der Wirklichkeit gewinnen; es fällt ihm nicht ein,
die Gottheit anderswo zu suchen als in den Werken der Natur, aber
diesen sucht er überall ihre göttliche Seite abzugewinnen. Wenn er in
sein er Knabenzeit dem großen Gotte, der «mit der Natur in
unmittelbarer Verbindung steht» («Dichtung und Wahrheit», 1. Teil,
1. Buch), einen Altar errichtet, so entspringt dieser Kultus schon
entschieden aus dem Glauben, daß wir das Höchste, zu dem wir
gelangen können, durch treues Pflegen des Verkehres mit der Natur
gewinnen. So ist denn Goethe jene Betrachtungsweise angeboren, die wir
erkenntnistheoretisch gerechtfertigt haben. Er tritt an die
Wirklichkeit heran in der Überzeugung, daß alles nur eine
Manifestation der Idee ist, die wir erst gewinnen, wenn wir die
Sinneserfahrung in geistiges Anschauen hinaufheben. Diese Überzeugung
lag in ihm, und er betrachtete von Jugend auf die Welt auf Grund
dieser Voraussetzung. Kein Philosoph konnte ihm diese Überzeugung
geben. Nicht das ist es also, was Goethe bei den Philosophen suchte.
Es war etwas anderes. Wenn seine Weise die Dinge zu betrachten auch
tief in seinem Wesen lag, so brauchte er doch eine Sprache sie
auszudrücken. Sein Wesen wirkte philosophisch, d. h. so, daß es
sich nur in philosophischen Formeln aussprechen, nur von
philosophischen Voraussetzungen aus rechtfertigen läßt. Und um
das, was er war, auch sich deutlich zum Bewußtsein zu
bringen, um das, was bei ihm lebendiges Tun war, auch zu
wissen, sah er sich bei den Philosophen um. Er suchte bei ihnen
eine Erklärung und Rechtfertigung seines Wesens. Das ist sein
Verhältnis zu den Philosophen. Zu diesem Zwecke studierte er in der
Jugend Spinoza und ließ sich später mit den philosophischen
Zeitgenossen in wissenschaftliche Verhandlungen ein. In seinen
Jünglingsjahren schienen dem Dichter am meisten Spinoza und Giordano
Bruno sein eigenes Wesen auszusprechen. Es ist merkwürdig, daß
er beide Denker zuerst aus gegnerischen Schriften kennen lernte und
trotz dieses Umstandes erkannte, wie ihre Lehren zu seiner Natur
stehen. Besonders an seinem Verhältnis zu Giordano Brunos
Lehren sehen wir das Gesagte erhärtet. Er lernt ihn aus Bayles
Wörterbuch, wo er heftig angegriffen wird, kennen. Und er erhält von
ihm einen so tiefen Eindruck, daß wir in jenen Teilen des
«Faust», die, der Konzeption nach, aus der Zeit um 1770 stammen, wo er
Bayle las, sprachliche Anklänge an Sätze von Bruno finden (s.
Goethe-Jahrbuch Bd..VII, Frankfurt/M. 1886). In den Tag- und
Jahres-Heften erzählt der Dichter, daß er sich wieder 1812 mit
Giordano Bruno beschäftigt habe. Auch diesmal ist der Eindruck ein
gewaltiger, und in vielen der nach diesem Jahre entstandenen Gedichte
erkennen wir Anklänge an den Philosophen von Nola. Das alles ist aber
nicht so zu nehmen, als ob Goethe von Bruno irgend etwas entlehnt oder
gelernt hätte; er fand bei ihm nur die Formel, das, was längst in
seiner Natur lag, auszusprechen. Er fand, daß er sein eigenes
Innere am klarsten darlege, wenn er es mit den Worten jenes Denkers
tat. Bruno betrachtet die universelle Vernunft als die Erzeugerin und
Lenkerin des Weltalls. Er nennt sie den inneren Künstler, der
die Materie formt und von innen heraus gestaltet. Sie ist die
Ursache von allem Bestehenden, und es gibt kein Wesen, an dessen Sein
sie nicht liebevoll Anteil nähme. «Das Ding sei noch so klein und
winzig, es hat in sich einen Teil von geistiger Substanz» (Giordano
Bruno, Von der Ursache usw.., hg. v. A. Lasson, Heidelberg 1882). Das
war ja auch Goethes Ansicht, daß wir ein Ding erst zu beurteilen
wissen, wenn wir sehen, wie es von der allgemeinen Vernunft an seinen
Ort gestellt worden ist, wie es gerade zu dem geworden ist, als was es
uns gegenübertritt. Wenn wir mit den Sinnen wahrnehmen, so genügt das
nicht, denn die Sinne sagen uns nicht, wie ein Ding mit der
allgemeinen Weltidee zusammenhängt, was es für das große Ganze
zu bedeuten hat. Da müssen wir so schauen, daß uns unsere
Vernunft einen ideellen Untergrund schafft, auf dem uns dann das
erscheint, was uns die Sinne überliefern; wir müssen, wie es Goethe
ausdrückt, mit den Augen des Geistes schauen. Auch um diese
Überzeugung auszusprechen, fand er bei Bruno eine Formel: «Denn wie
wir nicht mit einem und demselben Sinn Farben und Töne erkennen, so
sehen wir auch nicht mit einem und demselben Auge das Substrat der
Künste und das Substrat der Natur», weil wir «mit den sinnlichen
Augen jenes und mit dem Auge der Vernunft dieses sehen» (s.
Lasson S. 77). Und mit Spinoza ist es nicht anders. Spinozas
Lehre beruht ja darauf, daß die Gottheit in der Welt aufgegangen
ist. Das menschliche Wissen kann also nur bezwecken, sich in die Welt
zu vertiefen, um Gott zu erkennen. Jeder andere Weg, zu Gott zu
gelangen, muß für einen konsequent im- Sinne des Spinozismus
denkenden Menschen unmöglich erscheinen. Denn Gott hat jede eigene
Existenz aufgegeben; außer der Welt ist er nirgends. Wir müssen
ihn aber da aufsuchen, wo er ist. Jedes eigentliche Wissen muß
also so beschaffen sein, daß es uns in jedem Stücke
Welterkenntnis ein Stück Gotteserkenntnis überliefert. Das Erkennen
auf seiner höchsten Stufe ist also ein Zusammengehen mit der
Gottheit. Wir nennen es da anschauliches Wissen. Wir erkennen
die Dinge «sub specie aeternitatis», d. h. als Ausflüsse der Gottheit.
Die Gesetze, die unser Geist in der Natur erkennt, sind also
Gott in seiner Wesenheit, nicht nur von ihm gemacht. Was wir als
logische Notwendigkeit erkennen, ist so, weil ihm das Wesen der
Gottheit, d. i. die ewige Gesetzlichkeit innewohnt. Das war eine dem
Goetheschen Geist gemäße Anschauung. Sein fester Glaube,
daß uns die Natur in all ihrem Treiben ein Göttliches offenbare,
lag ihm hier in klarsten Sätzen vor. «Ich halte mich fest und fester
an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza)», schreibt er an
Jacobi, als dieser die Lehre Spinozas in einem anderen Lichte
erscheinen lassen wollte. [WA 7, 214] Darinnen liegt das
Verwandtschaftliche mit Spinoza bei Goethe. Und wenn man gegenüber
dieser tiefen, inneren Harmonie zwischen Goethes Wesen und Spinozas
Lehre immer und immer das rein Äußerliche hervorhebt: Goethe
wurde von Spinoza angezogen, weil er wie dieser die Endursachen in der
Welterklärung nicht dulden wollte, so zeugt das von einer
oberflächlichen Beurteilung der Sachlage. Daß Goethe wie Spinoza
die Endursachen verwarfen, war nur eine Folge ihrer Ansichten.
Man lege sich doch nur die Theorie von den Endursachen klar vor. Es
wird ein Ding nach Dasein und Beschaffenheit dadurch erklärt,
daß man seine Notwendigkeit für ein anderes dartut. Man zeigt,
dieses Ding ist so und so beschaffen, weil jenes andere so und so ist.
Das setzt voraus, daß ein Weltengrund existiere, der über den
beiden Wesen stehe und sie so einrichte, daß sie füreinander
passen. Wenn aber der Weltengrund einem jeden Dinge innewohnt, dann
hat diese Erklärungsweise keinen Sinn. Denn dann muß uns die
Beschaffenheit eines Dinges als Folge des in ihm wirksamen
Prinzipes erscheinen. Wir werden in der Natur eines Dinges den Grund
suchen, warum es so und nicht anders ist. Wenn wir den Glauben
haben, daß Göttliches einem jeden Dinge innewohnt, dann wird es
uns doch nicht einfallen, zur Erklärung seiner Gesetzlichkeit nach
einem äußerlichen Prinzip zu suchen. Auch das Verhältnis Goethes
zu Spinoza ist nicht anders zu fassen, denn so, daß er bei ihm
die Formeln, die wissenschaftliche Sprache fand, um die in ihm
liegende Welt auszusprechen..
Wenn wir nun auf Goethes Beziehung zu den gleichzeitigen Philosophen
übergehen, so haben wir vor allem von Kant zu sprechen. Kant
wird allgemein als der Begründer der heutigen Philosophie angesehen.
Zu seiner Zeit rief er eine so mächtige Bewegung hervor, daß es
für jeden Gebildeten Bedürfnis war, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Auch für Goethe wurde diese Auseinandersetzung eine Notwendigkeit. Sie
konnte aber für ihn nicht fruchtbar sein. Denn es besteht ein tiefer
Gegensatz zwischen dem, was die Kantsche Philosophie lehrt, und dem,
was wir als Goethesche Denkweise erkennen. Ja, man kann geradezu
sagen, daß das gesamte deutsche Denken in zwei parallelen
Richtungen abläuft, einer von der Kantschen Denkweise durchtränkten
und einer andern, die dem Goetheschen Denken nahesteht. Indem sich
aber heute die Philosophie immer mehr Kant nähert, entfernt sie sich
von Goethe und damit geht für unsere Zeit immer mehr die Möglichkeit
verloren, die Goethesche Weltanschauung zu begreifen und zu würdigen.
Wir wollen die Hauptsätze der Kantschen Lehre insoweit hierhersetzen,
als sie Interesse für die Ansichten Goethes haben. Der Ausgangspunkt
für das menschliche Denken ist für Kant die Erfahrung, d. h. die den
Sinnen (worinnen der innere Sinn, der uns die psychischen,
historischen usw. Tatsachen übermittelt, inbegriffen ist) gegebene
Welt. Diese ist eine Mannigfaltigkeit von Dingen im Raume und von
Prozessen in der Zeit. Daß mir gerade dieses Ding
gegenübertritt, daß ich gerade jenen Prozeß erlebe, ist
gleichgültig; es könnte auch anders sein. Ich kann mir überhaupt die
ganze Mannigfaltigkeit von Dingen und Prozessen wegdenken. Was ich mir
aber nicht wegdenken kann, das ist Raum und Zeit. Es
kann für mich nichts geben, was nicht räumlich oder zeitlich wäre.
Selbst, wenn es ein raumloses oder zeitloses Ding gibt, kann ich
nichts davon wissen, denn ich kann mir ohne Raum und Zeit nichts
vorstellen. Ob den Dingen selbst Raum und Zeit zukomme, weiß ich
nicht; ich weiß nur, daß die Dinge für mich in diesen
Formen auftreten müssen. Raum und Zeit sind somit die Vorbedingungen
meiner sinnlichen Wahrnehmung. Ich weiß von dem Ding an
sich nichts; ich weiß nur, wie es mir erscheinen
muß, wenn es für mich da sein soll. Kant leitet mit diesen
Sätzen ein neues Problem ein. Er tritt mit einer neuen Fragestellung
in der Wissenschaft auf. Statt wie die früheren Philosophen zu fragen:
Wie sind die Dinge beschaffen, fragt er: wie müssen uns die Dinge
erscheinen, damit sie Gegenstand unseres Wissens werden können? Die
Philosophie ist für Kant die Wissenschaft von den Bedingungen der
Möglichkeit der Welt als einer menschlichen Erscheinung. Von dem Ding
an sich wissen wir nichts. Wir haben unsere Aufgabe noch nicht
erfüllt, wenn wir bis zur sinnlichen Anschauung einer Mannigfaltigkeit
in Zeit und Raum kommen. Wir streben darnach, diese Mannigfaltigkeit
in eine Einheit zusammenzufassen. Und das ist Sache des Verstandes.
Der Verstand ist als eine Summe von Tätigkeiten aufzufassen, die den
Zweck haben, die Sinnenwelt nach gewissen in ihm vorgezeichneten
Formen zusammenzufassen. Er faßt zwei sinnenfällige
Wahrnehmungen zusammen, indem er z. B. die eine als Ursache, die
andere als Wirkung bezeichnet oder die eine als Substanz, die andere
als Eigenschaft usw. Auch hier ist es die Aufgabe der philosophischen
Wissenschaft, zu zeigen, unter welchen Bedingungen es dem Verstande
gelingt, sich ein System der Welt zu bilden. So ist die Welt
eigentlich im Sinne Kants eine in den Formen der Sinnenwelt und des
Verstandes auftretende subjektive Erscheinung. Es ist nur das Eine
gewiß, daß es ein Ding an sich gibt; wie es uns erscheint,
das hängt von unserer Organisation ab. Es ist nun auch natürlich,
daß es keinen Sinn hat, jener Welt, die der Verstand im Verein
mit den Sinnen geformt hat, eine andere als eine Bedeutung für unser
Erkenntnisvermögen zuzuschreiben. Am klarsten wird das da, wo Kant von
der Bedeutung der Ideenwelt spricht. Die Ideen sind für ihn nichts als
höhere Gesichtspunkte der Vernunft, unter denen die niederen
Einheiten, die der Verstand geschaffen, begriffen werden. Der Verstand
bringt z. B. die Seelenerscheinungen in einen Zusammenhang; die
Vernunft, als das Ideenvermögen, faßt dann diesen Zusammenhang
so, als wenn alles von einer Seele ausginge. Das hat aber für
die Sache selbst keine Bedeutung, ist nur Orientierungsmittel für
unser Erkenntnisvermögen. Dies der Inhalt von Kants theoretischer
Philosophie, soweit er uns hier interessieren kann. Man sieht in ihr
sofort den entgegengesetzten Pol der Goetheschen. Die gegebene
Wirklichkeit wird von Kant nach uns selbst bestimmt; sie ist so, weil
wir sie so vorstellen. Kant überspringt die eigentliche
erkenntnistheoretische Frage. Er macht am Eingange seiner
Vernunftkritik zwei Schritte, die er nicht rechtfertigt, und an diesem
Fehler krankt sein ganzes philosophisches Lehrgebäude. Er stellt
sogleich die Unterscheidung von Objekt und Subjekt auf, ohne zu
fragen, was für eine Bedeutung es denn überhaupt hat, wenn der
Verstand die Trennung zweier Wirklichkeitsgebiete (hier erkennendes
Subjekt und zu erkennendes Objekt) vornimmt. Dann sucht er das
gegenseitige Verhältnis dieser beiden Gebiete begrifflich
herzustellen, wieder ohne zu fragen, welchen Sinn eine solche
Feststellung hat. Hätte er die erkenntnistheoretische Hauptfrage nicht
schief gesehen, so hätte er bemerkt, daß die Auseinanderhaltung
von Subjekt und Objekt nur ein Durchgangspunkt unseres Erkennens ist,
daß beiden eine tiefere, der Vernunft erfaßbare Einheit
zugrunde liegt und daß dasjenige, was einem Dinge als
Eigenschaft zuerkannt wird, insofern es in bezug auf ein erkennendes
Subjekt gedacht wird, keineswegs nur subjektive Gültigkeit hat. Das
Ding ist eine Vernunfteinheit und die Trennung in ein «Ding an sich»
und «Ding für uns» ist Verstandesprodukt. Es geht also nicht an, zu
sagen, was dem Dinge in einer Beziehung zuerkannt wird, kann ihm in
anderer abgesprochen werden. Denn ob ich dasselbe Ding einmal unter
diesem, ein andermal unter jenem Gesichtspunkte betrachte: es ist ja
doch ein einheitliches Ganzes.
Es ist ein Fehler, der sich durch Kants ganzes Lehrgebäude durchzieht,
daß er die sinnenfällige Mannigfaltigkeit als etwas Festes
ansieht, und daß er glaubt, Wissenschaft bestehe darinnen, diese
Mannigfaltigkeit in ein System zu bringen. Er vermutet gar nicht,
daß das Mannigfaltige kein Letztes ist, das man überwinden
muß, wenn man es begreifen will; und deshalb wird ihm alle
Theorie bloß eine Zutat, die Verstand und Vernunft zur Erfahrung
hinzubringen. Die Idee ist ihm nicht das, was der Vernunft als der
tiefere Grund der gegebenen Welt erscheint, wenn sie die an der
Oberfläche gelegene Mannigfaltigkeit überwunden hat, sondern nur ein
methodisches Prinzip, nach dem dieselbe die Erscheinungen behufs ihrer
leichteren Übersicht anordnet. Wir gingen nach Kantscher Anschauung
ganz fehl, wenn wir die Dinge als aus der Idee ableitbar betrachteten;
wir können nach seiner Meinung unsere Erfahrungen nur so anordnen,
als ob sie aus einer Einheit stammten. Von dem Grund der Dinge,
von dem «An sich» haben wir nach Kant keine Ahnung. Unser Wissen von
den Dingen ist nur in bezug auf uns da, ist nur für unsere
Individualität gültig. Aus dieser Ansicht über die Welt konnte Goethe
nicht viel gewinnen. Ihm blieb die Betrachtung der Dinge in bezug auf
uns immer die ganz untergeordnete, welche die Wirkung der Gegenstände
auf unser Gefühl der Lust und Unlust betrifft; von der Wissenschaft
fordert er mehr als bloß die Angabe, wie die Dinge in bezug auf
uns sind. In dem Aufsatz: «Der Versuch als Vermittler von Objekt und
Subjekt» (Natw. Schr., 2. Bd.., S. 10ff.) wird die Aufgabe des
Forschers bestimmt: Er soll den Maßstab zur Erkenntnis, die Data
zur Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge
nehmen, die er beobachtet. Mit diesem einzigen Satz ist der tiefe
Gegensatz Kantischer und Goethescher Denkweise gekennzeichnet. Während
bei Kant alles Urteilen über die Dinge nur ein Produkt aus Subjekt
und Objekt ist und nur ein Wissen darüber liefert, wie das
Subjekt das Objekt anschaut, geht das Subjekt bei Goethe selbstlos in
dem Objekte auf und entnimmt die Data zur Beurteilung aus dem Kreise
der Dinge. Goethe sagt daher von Kants Schülern selbst: «Sie hörten
mich wohl, konnten mir aber nichts erwidern, noch irgend förderlich
sein.» [Natw. Schr.., 2. Bd., S. 29] Mehr glaubte der Dichter aus
Kants Kritik der Urteilskraft gewonnen zu haben..
Ungleich mehr als durch Kant wurde Goethe in philosophischer Beziehung
durch Schiller gefördert. Durch ihn wurde er nämlich wirklich um eine
Stufe weiter in der Erkenntnis seiner eigenen Anschauungsweise
gebracht. Bis zu jenem berühmten ersten Gespräch mit Schiller hatte
Goethe* eine gewisse Weise, die Welt anzuschauen, geübt. Er hatte
Pflanzen betrachtet, ihnen eine Urpflanze zugrunde gelegt und die
einzelnen Formen daraus abgeleitet. Diese Urpflanze (und auch ein
entsprechendes Urtier) hatte sich in seinem Geiste gestaltet, war ihm
bei der Erklärung der einschlägigen Erscheinungen dienlich. Er hatte
aber nie darüber nachgedacht, was denn diese Urpflanze ihrem
Wesen nach sei. Schiller öffnete ihm die Augen, indem er ihm sagte:
sie ist eine Idee. Von jetzt ab ist sich Goethe seines
Idealismus erst bewußt. Er nennt die Urpflanze daher bis zu
jenem Gespräch eine Erfahrung, denn er glaubte sie mit Augen zu sehen.
In der später zu dem Aufsatz über die Metamorphose der Pflanze
hinzugekommenen Einleitung aber sagt er: «So trachtete ich nunmehr das
Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt, den Begriff, die
Idee des Tieres..» [Natw. Schr., 1. Bd.., S. 15] Dabei ist aber
festzuhalten, daß Schiller Goethen nichts diesem Fremdes
überlieferte, sondern vielmehr sich selbst erst durch die Betrachtung
des Goetheschen Geistes zur Erkenntnis des objektiven Idealismus
durchrang. Er fand nur den Terminus für die Anschauungsweise, die
er an Goethe erkannte und bewunderte.
Wenig Förderung hat Goethe von Fichte erfahren. Fichte bewegte sich in
einer dem Goetheschen Denken viel zu fremden Sphäre, als daß
eine solche möglich gewesen wäre. Fichte hat die Wissenschaft des
Bewußtseins in der scharfsinnigsten Weise begründet. Er hat die
Tätigkeit, durch welche das «Ich» die gegebene Welt in eine gedachte
verwandelt, in einzig musterhafter Weise abgeleitet. Dabei hat er aber
den Fehler gemacht, daß er diese Tätigkeit des Ich nicht
bloß als eine solche auffaßte, die den gegebenen Inhalt in
eine befriedigende Form bringt, die zusammenhanglos Gegebenes in die
entsprechenden Zusammenhänge bringt; er hat sie als ein Erschaffen
alles dessen angesehen, was innerhalb des «Ich» sich abspielt. Dadurch
erscheint seine Lehre als ein einseitiger Idealismus, der seinen
ganzen Inhalt aus dem Bewußtsein nimmt. Goethe, der stets auf
das Objektive ging, konnte wohl wenig Anziehendes in Fichtes
Bewußtseinsphilosophie finden. Für das Gebiet, wo sie gilt,
fehlte Goethe das Verständnis; die Ausdehnung aber, die ihr Fichte gab
er sah sie als Universalwissenschaft an -, konnte dem Dichter nur
als ein Irrtum erscheinen..*
Viel mehr Berührungspunkte hatte Goethe mit dem jungen Schelling.
Dieser war ein Schüler Fichtes. Er führte aber nicht nur die Analyse
der Tätigkeit des «Ich» weiter, sondern er verfolgte auch jene
Tätigkeit innerhalb des Bewußtseins, durch welches das letztere
die Natur erfaßt. Das, was sich im Ich beim Erkennen der
Natur abspielt, schien Schelling zugleich das Objektive der Natur, das
eigentliche Prinzip in ihr zu sein. Die Natur draußen war ihm
nur eine festgewordene Form unserer Naturbegriffe. Was in uns als
Naturanschauung lebt, das erscheint uns außen wieder, nur
auseinandergezogen, räumlichzeitlich. Was uns von außen her als
Natur entgegentritt, ist fertiges Produkt, ist nur das Bedingte, die
starr gewordene Form eines lebendigen Prinzips. Dieses Prinzip können
wir nicht durch Erfahrung von außen her gewinnen. Wir müssen es
in unserem Innern erst schaffen. «Über die Natur philosophieren
heißt die Natur schaffen,» sagt deshalb unser
Philosoph.94
«Die Natur als bloßes Produkt (natura
naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle
Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir
Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie).» (Einleitung
zu seinem Entwurf. ,Jena u. Leipzig 1799, S. 22..) «Der Gegensatz
zwischen Empirie und Wissenschaft beruht nun eben darauf, daß
jene ihr Objekt im Sein als etwas Fertiges und zustande
Gebrachtes; die Wissenschaft dagegen das Objekt im Werden und
als ein erst zustande zu Bringendes betrachtet.» (Ebenda S. 20) Durch
diese Lehre, die Goethe teils aus Schellings Schriften, teils aus
persönlichem Umgange mit dem Philosophen kennen lernte, wurde der
Dichter wieder um eine Stufe höher gebracht. Jetzt entwickelte sich
bei ihm die Ansicht, daß seine Tendenz darauf gehe, von dem
Fertigen, dem Produkte zu dem Werdenden, Produzierenden
fortzuschreiten. Und mit entschiedenem Anklang an Schelling schreibt
er im Aufsatz «Anschauende Urteilskraft», daß sein Streben war,
sich «durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen
Teilnahme an ihren Produktionen würdig zu machen» (Natw. Schr.,
1..Bd., S. 116).
Durch Hegel endlich erhielt Goethe die letzte Förderung von seiten der
Philosophie. Durch ihn erlangte er nämlich Klarheit darüber, wie sich
das, was er Urphänomen nannte, in die Philosophie einreiht.
Hegel hat die Bedeutung des Urphänomens am tiefsten begriffen und in
seinem Briefe an Goethe vom 20. Februar 1821 trefflich charakterisiert
mit den Worten: «Das Einfache und Abstrakte, das Sie sehr treffend das
Urphänomen nennen, stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die
konkreteren Erscheinungen auf, als entstehend durch das Hinzukommen
weiterer Einwirkungsweisen und Umstände und regieren den ganzen
Verlauf so, daß die Reihenfolge von den einfachen Bedingungen zu
den zusammengesetzteren fortschreitet, und so rangiert, das
Verwickelte nun, durch diese Dekomposition, in seiner Klarheit
erscheint. Das Urphänomen auszuspüren, es von den andern ihm selbst
zufälligen Umgebungen zu befreien, - es abstrakt, wie wir dies
heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache des
großen geistigen Natursinns, sowie jenen Gang überhaupt für das
wahrhaft Wissenschaftliche der Erkenntnis in diesem Felde..» ... «Darf
ich Ew. etc. aber nun auch noch von dem besonderen Interesse sprechen,
welches ein so herausgehobenes Urphänomen für uns Philosophen hat,
daß wir nämlich ein solches Präparat geradezu in den
philosophischen Nutzen verwenden können! Haben wir nämlich unser
zunächst austernhaftes, graues, oder ganz schwarzes Absolutes, doch
gegen Luft und Licht hingearbeitet, daß es derselben begehrlich
geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es vollends an das Licht
des Tages herauszuführen; unsere Schemen würden zu Dunst verschweben,
wenn wir sie so geradezu in die bunte, verworrene Gesellschaft der
widerwärtigen Welt versetzen wollten. Hier kommen uns nun Ew.
Wohlgeboren Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem Zwielichte,
geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtlich und
greiflich durch seine Sinnlichkeit - begrüßen sich die beiden
Welten, unser Abstruses, und das erscheinende Dasein, einander..» So
wird durch Hegel für Goethe der Gedanke klar, daß der empirische
Forscher bis zu den Urphänomenen zu gehen hat, und daß von da
aus die Wege des Philosophen weiterführen. Daraus geht aber auch
hervor, daß der Grundgedanke der Hegelschen Philosophie eine
Konsequenz der Goetheschen Denkweise ist. Die Überwindung der
Menschlichkeit, die Vertiefung in dieselbe, um vom Geschaffenen zum
Schaffen, vom Bedingten zur Bedingung aufzusteigen, liegt bei Goethe,
aber auch bei Hegel zugrunde. Hegel will ja in der Philosophie nichts
anderes bieten als den ewigen Prozeß, aus dem alles, was endlich
ist, hervorgeht. Er will das Gegebene als eine Folge dessen erkennen,
was er als Unbedingtes gelten lassen kann.
So bedeutet für Goethe das Bekanntwerden mit Philosophen und
philosophischen Richtungen eine fortschreitende Aufklärung darüber,
was schon in ihm lag. Er hat für seine Anschauung nichts gewonnen; ihm
wurden nur die Mittel an die Hand gegeben, darüber zu reden, was er
tat, was in seiner Seele vorging.
So bietet denn die Goethesche Weltansicht genugsam Anhaltspunkte zur
philosophischen Ausgestaltung. Diese sind aber zunächst nur von den
Schülern Hegels aufgegriffen worden. Die übrige Philosophie steht der
Goetheschen Anschauung vornehm ablehnend gegenüber. Nur Schopenhauer
stützt sich in manchen Punkten auf den von ihm hochgeschätzten
Dichter. Von seiner Apologetik der Farbenlehre werden wir in einem
späteren Kapitel sprechen. Hier kommt es auf das allgemeine Verhältnis
von Schopenhauers Lehre zu
Goethe an.95
In einem Punkte
kommt der Frankfurter Philosoph an Goethe heran. Schopenhauer weist
nämlich alles Herleiten der uns gegebenen Phänomene aus äußeren
Ursachen ab und läßt nur eine innere Gesetzmäßigkeit
gelten, nur ein Herleiten einer Erscheinung aus der andern. Das kommt
scheinbar dem Goetheschen Prinzip gleich, die Data der Erklärung aus
den Dingen selbst zu nehmen; aber eben nur scheinbar. Denn während
Schopenhauer innerhalb des Phänomenalen bleiben will, weil wir das
außer demselben liegende «An sich» im Erkennen nicht erreichen
können, da alle uns gegebenen Erscheinungen nur Vorstellungen sind und
unser Vorstellungsvermögen uns nie über unser Bewußtsein
hinausführt, will Goethe innerhalb der Phänomene bleiben, weil er eben
in ihnen selbst die Data zu ihrer Erklärung sucht..
Zum Schlusse wollen wir noch die Goethesche Weltansicht mit der
bedeutsamsten wissenschaftlichen Erscheinung unserer Zeit, mit den
Anschauungen Eduard v. Hartmanns zusammenhalten. Die «Philosophie des
Unbewußten» dieses Denkers ist ein Werk von größter
geschichtlicher Bedeutung. Mit den übrigen Schriften Hartmanns, die
das dort Skizzierte nach allen Seiten ausbauen, ja wohl in vieler
Hinsicht neue Gesichtspunkte zu jenem Hauptwerke hinzubringen,
zusammen, spiegelt sich in ihr der gesamte geistige Inhalt unserer
Zeit. Hartmann zeichnet ein bewunderungswerter Tiefsinn und eine
erstaunliche Beherrschung des Materiales der einzelnen Wissenschaften
aus. Er steht heute auf der Hochwacht der Bildung. Man braucht nicht
sein Anhänger zu sein, und man wird ihm das rückhaltlos zuerkennen
müssen.
Seine Anschauung steht der Goetheschen nicht so ferne, als man auf den
ersten Blick glauben möchte. Wem nichts anderes vorliegt als die
«Philosophie des Unbewußten», der wird das freilich nicht
einsehen können. Denn die entschiedenen Berührungspunkte beider Denker
sieht man erst, wenn man auf die Konsequenzen geht, die
Hartmann aus seinen Prinzipien gezogen und die er in seinen späteren
Schriften niedergelegt hat..
Hartmanns Philosophie ist Idealismus. Er will zwar kein
bloßer Idealist sein. Allein, wo er behufs der
Welterklärung etwas Positives braucht, ruft er doch die Idee zu Hilfe.
Und das Wichtigste ist, daß er die Idee überall zu- grunde
liegend denkt. Denn seine Annahme eines Unbewußten hat ja keinen
andern Sinn, als daß jenes, das in unserem Bewußtsein als
Idee vorhanden ist, nicht notwendig an diese Erscheinungsform -
innerhalb des Bewußtseins -gebunden ist. Die Idee ist nicht nur
vorhanden (wirksam), wo sie bewußt wird, sondern auch in
anderer Form. Sie ist mehr denn bloßes subjektives Phänomen; sie
hat eine in sich selbst gegründete Bedeutung. Sie ist nicht bloß
im Subjekte gegenwärtig, sie ist objektives Weltprinzip. Wenn auch
Hartmann neben der Idee noch den Willen unter die die Welt
konstituierenden Prinzipien aufnimmt, so ist es doch unbegreiflich,
wie es noch immer Philosophen gibt, die ihn für einen
Schopenhauerianer ansehen. Schopenhauer hat die Ansicht, daß
aller Begriffsinhalt nur subjektiv, nur Bewußtseinsphänomen sei,
auf die Spitze getrieben. Bei ihm kann davon gar nicht die Rede sein,
daß die Idee an der Konstitution der Welt als reales Prinzip
teilgenommen hat. Bei ihm ist der Wille ausschließlicher
Weltgrund. Deswegen konnte es Schopenhauer nie zu einer
inhaltsvollen Behandlung der philosophischen Spezialwissenschaften
bringen, während Hartmann seine Prinzipien schon in alle besonderen
Wissenschaften hinein verfolgt hat. Während Schopenhauer über den
ganzen reichen Inhalt der Geschichte nichts zu sagen weiß, als
daß er eine Manifestation des Willens ist, weiß Ed. v.
Hartmann von jeder einzelnen historischen Erscheinung den ideellen
Kern zu finden und sie der gesamten geschichtlichen Entwicklung der
Menschheit einzugliedern. Schopenhauer kann das Einzelwesen, die
Einzelerscheinung nicht interessieren, denn er weiß von ihr nur
das eine Wesentliche zu sagen, daß sie eine Ausgestaltung
des Willens ist. Hartmann greift jedes Sonderdasein auf und zeigt, wie
überall die Idee wahrzunehmen ist. Der Grundcharakter von
Schopenhauers Weltanschauung ist Einförmigkeit, der v. Hartmanns
Einheitlichkeit. Schopenhauer legt einen inhaltsleeren, einförmigen
Drang der Welt zugrunde, Hartmann den reichen Inhalt der Idee.
Schopenhauer legt die abstrakte Einheit zugrunde, bei Hartmann finden
wir die konkrete Idee als Prinzip, bei der die Einheit - besser
Einheitlichkeit - nur eine Eigenschaft ist. Schopenhauer hätte nie wie
Hartmann eine Geschichtsphilosophie, nie eine Religionswissenschaft
schaffen können. Wenn Hartmann sagt: «Die Vernunft ist das logische
Formalprinzip der mit dem Willen untrennbar geeinten Idee und regelt
und bestimmt als solches den Inhalt des Weltprozesses ohne Rest»
(Philosophische Fragen der Gegenwart»; Leipzig 1885, S. 27), so macht
ihm diese Voraussetzung möglich, in jeder Erscheinung, die uns in
Natur und Geschichte gegenübertritt, den logischen Kern, der zwar für
die Sinne nicht, wohl aber für das Denken erfaßbar ist,
aufzusuchen und sie so zu erklären. Wer diese Voraussetzung nicht
macht, wird nie rechtfertigen können, warum er überhaupt über die Welt
durch Nachdenken vermittelst Ideen etwas ausmachen will..
Mit seinem objektiven Idealismus steht Ed. v. Hartmann ganz auf dem
Boden Goethescher Weltanschauung. Wenn Goethe sagt: «Alles, was wir
gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der
Idee» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd.., 2. Abt.., S. 379),
und wenn er fordert, der Mensch müsse in sich ein solches
Erkenntnisvermögen ausbilden, daß ihm die Idee so anschaulich
wird, wie den Sinnen die äußere Wahrnehmung, so steht er auf
jenem Boden, wo die Idee nicht bloß Bewußtseinsphänomen,
sondern objektives Weltprinzip ist; das Denken ist das Aufblitzen
dessen im Bewußtsein, was objektiv die Welt konstituiert. Das
Wesentliche an der Idee ist also nicht das, was sie für uns, für unser
Bewußtsein, ist, sondern was sie an sich selbst ist. Denn durch
die ihr eigene Wesenheit liegt sie der Welt als Prinzip zugrunde.
Deshalb ist das Denken ein Gewahrwerden dessen, was an und für sich
ist. Obwohl also die Idee gar nicht zur Erscheinung kommen würde, wenn
es kein Bewußtsein gäbe, so muß sie doch so erfaßt
werden, daß nicht die Bewußtheit ihr Charakteristikon
ausmacht, sondern das, was sie an sich ist, was in ihr selbst liegt,
wozu das Bewußtwerden nichts tut. Deshalb müssen wir nach Ed. v.
Hartmann die Idee, abgesehen von dem Bewußtwerden, als wirkendes
Unbewußtes der Welt zugrunde legen. Das ist das Wesentliche bei
Hartmann, daß wir die Idee in allem Bewußtlosen zu suchen
haben..
Mit der Unterscheidung von Bewußtem und Unbewußtem ist
aber nicht viel getan. Denn das ist ja doch nur ein Unterschied für
mein Bewußtsein. Man muß aber der Idee in ihrer
Objektivität, in ihrer vollen Inhaltlichkeit zu Leibe gehen, man
muß nicht nur darauf sehen, daß die Idee
unbewußt wirksam ist, sondern was dieses Wirksame ist.
Wäre Hartmann dabei stehen geblieben, daß die Idee
unbewußt ist, und hätte er aus diesem Unbewußten - also
aus einem einseitigen Merkmal der Idee - die Welt erklärt, er hätte zu
den vielen Systemen, die die Welt aus irgendeinem abstrakten
Formelprinzip ableiten, ein neues einförmiges System geschaffen. Und
man kann sein erstes Hauptwerk nicht ganz von dieser Einförmigkeit
freisprechen. Aber Ed. v. Hartmanns Geist wirkt zu intensiv, zu
umfassend und tief dringend, als daß er nicht erkannt hätte: die
Idee darf nicht bloß als Unbewußtes gefaßt werden;
man muß sich vielmehr eben in das vertiefen, was man als
unbewußt anzusprechen hat, muß über diese Eigenschaft
hinaus auf dessen konkreten Inhalt gehen und daraus die Welt der
Einzelerscheinungen ableiten. So hat sich Hartmann vom abstrakten
Monisten, der er in seiner «Philosophie des Unbewußten» noch
ist, zum konkreten Monisten herausgebildet. Und die konkrete Idee ist
es, was Goethe unter den drei Formen: Urphänomen, Typus und «Idee im
engeren Sinne» anspricht..
Das Gewahrwerden eines Objektiven in unserer Ideenwelt und die aus
diesem Gewahrwerden folgende Hingabe an dasselbe ist es, was wir von
Goethes Weltanschauung in Ed.v. Hartmanns Philosophie wiederfinden.
Hartmann ist durch seine Philosophie des Unbewußten zu diesem
Aufgehen in der objektiven Idee geführt worden. Da er erkannte,
daß in der Bewußtheit nicht das Wesen der Idee liegt,
hatte er die letztere auch als an und für sich Bestehendes, als
Objektives anerkennen müssen. Daß er daneben noch den Willen in
die konstitutiven Weltprinzipien aufnimmt, unterscheidet ihn freilich
wieder von Goethe. Jedoch wo Hartmann wirklich fruchtbringend ist, da
kommt das Willensmotiv gar nicht in Betracht. Daß er es
überhaupt annimmt, kommt daher, weil er die Idee als Ruhendes ansieht,
das, um zur Wirkung zu kommen, vom Willen den Anstoß braucht.
Nach Hartmann kann der Wille allein nie zur Schöpfung der Welt kommen,
denn er ist der leere blinde Drang zum Dasein. Soll er etwas
hervorbringen, so muß die Idee hinzutreten, denn nur diese
gibt ihm den Inhalt seines Wirkens. Allein was sollen wir mit
jenem Willen anfangen? Er entschlüpft uns, indem wir ihn erfassen
wollen; denn wir können ja doch das inhaltslose, leere Drängen nicht
erfassen. Und so kommt es, daß doch alles das, was wir wirklich
von dem Weltprinzip erfassen, Idee ist, denn das Erfaßbare
muß eben Inhalt haben. Wir können nur das Inhaltsvolle
begreifen, nicht das Inhaltsleere. Sollen wir also den Begriff
Willen erfassen, so muß er ja doch am Inhalt der Idee
auftreten; er kann nur an und mit der Idee, als die Form ihres
Auftretens, erscheinen, niemals selbständig. Was existiert, muß
Inhalt haben, es kann nur ein erfülltes, kein leeres Sein
geben. Deshalb stellt Goethe die Idee als tätig vor, als
Wirksames, das keines Anstoßes mehr bedarf. Denn das
Inhaltsvolle darf und kann nicht von einem Inhaltsleeren erst den
Anstoß bekommen, ins Dasein zu treten. Die Idee ist deshalb im
Sinne Goethes als Entelechie, d. i. schon als tätiges Dasein zu
fassen; und man muß von seiner Form als einem Tätigen zuerst
abstrahieren, wenn man es dann wieder unter dem Namen Wille
hinzubringen will. Das Willensmotiv ist auch für die positive
Wissenschaft ganz wertlos. Auch Hartmann braucht es nicht, wo er an
die konkrete Erscheinung herantritt..
Haben wir in der Naturansicht Hartmanns ein Anklingen an Goethes
Weltansicht erkannt, so finden wir es in der Ethik jenes Philosophen
noch bedeutsamer. Eduard v. Hartmann findet, daß alles Streben
nach Glück, alles Jagen des Egoismus ethisch wertlos ist, weil wir ja
doch auf diesem Wege nie zur Befriedigung kommen können. Das Handeln
aus Egoismus und zur Befriedigung desselben hält Hartmann für ein
illusorisches. Wir sollen unsere Aufgabe, die uns in der Welt gestellt
ist, erfassen und rein um dieser selbst willen, mit
Entäußerung unseres Selbst, wirken. Wir sollen in der Hingabe an
das Objekt, ohne Anspruch, für unser Subjekt etwas herauszuschlagen,
unser Ziel finden. Dieses letztere macht aber den Grundzug der Ethik
Goethes aus. Hartmann hätte das Wort nicht unterdrücken sollen, das
den Charakter seiner Sittenlehre ausdrückt:
die Liebe.96
Wo wir keinen persönlichen Anspruch
machen, wo wir nur handeln, weil uns das Objektive treibt, wo wir in
der Tat selbst die Motive der Tätigkeit finden, da handeln wir
sittlich. Da aber handeln wir aus Liebe. Aller Eigenwille,
alles Persönliche muß da schwinden. Es ist für Hartmanns mächtig
und gesund wirkenden Geist charakteristisch, daß er in der
Theorie, trotzdem er die Idee zuerst in der einseitigen Weise des
Unbewußten gefaßt hat, doch zum konkreten Idealismus
vorgedrungen ist und daß, trotzdem er in der Ethik vom
Pessimismus ausgegangen, ihn dieser verfehlte Standpunkt zur
Sittenlehre der Liebe geführt hat. Der Pessimismus Hartmanns
hat ja nicht den Sinn, den jene Menschen in ihn legen, die gerne über
die Fruchtlosigkeit unseres Wirkens klagen, weil sie darin eine
Berechtigung abzuleiten hoffen dafür, daß sie die Hände in den
Schoß legen und nichts vollbringen. Hartmann bleibt nicht bei
der Klage stehen; er erhebt sich über jede solche Anwandlung zu einer
reinen Ethik. Er zeigt die Wertlosigkeit des Jagens nach dem Glück,
indem er dessen Fruchtlosigkeit enthüllt. Er weist uns damit auf
unsere Tätigkeit. Daß er überhaupt Pessimist ist, das ist sein
Irrtum. Das ist vielleicht noch ein Anhängsel aus früheren Stadien
seines Denkens. Da, wo er jetzt steht, müßte er einsehen,
daß der empirische Nachweis, daß in der Welt des
Wirklichen das Nicht-Befriedigende überwiegt, den Pessimismus nicht
begründen kann. Denn der höhere Mensch kann gar nichts anderes
wünschen, als daß er sich sein Glück selbst erringen muß.
Er will es nicht als Geschenk von außen. Er will das Glück
bloß in seiner Tat haben. Hartmanns Pessimismus löst sich vor
(Hartmanns eigenem) höherem Denken auf. Will uns die Welt
unbefriedigt läßt, schaffen wir uns selbst das schönste Glück in
unserem Wirken..
So ist uns Hartmanns Philosophie wieder ein Beweis dafür, wie man, von
verschiedenen Ausgangspunkten ausgehend, zu dem gleichen Ziele kommt.
Hartmann geht von anderen Voraussetzungen aus als Goethe; aber in der
Ausführung tritt uns auf Schritt und Tritt Goethescher Ideengang
gegenüber. Wir haben das hier ausgeführt, weil uns darum zu tun war,
die tiefe, innere Gediegenheit der Goetheschen Weltansicht zu zeigen.
Sie liegt so tief im Weltwesen begründet, daß wir ihren
Grundzügen überall da begegnen müssen, wo energisches Denken zu den
Quellen des Wissens vordringt. In diesem Goethe war so sehr alles
ursprünglich, so gar nichts nebensächliche Modeansicht der Zeit,
daß auch der Widerstrebende in seinem Sinne denken
muß. In einzelnen Individuen spricht sich eben das ewige
Welträtsel aus; in der Neuzeit in Goethe am bedeutungsvollsten,
deshalb kann man geradezu sagen, die Höhe der Anschauung eines
Menschen kann heute an dem Verhältnisse gemessen werden, in welchem
sie zur Goetheschen steht."
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