GOETHE UND DIE MATHEMATIK
Zu den Haupthindernissen, die einer gerechten Würdigung von Goethes
Bedeutung für die Wissenschaft entgegenstehen, gehört das Vorurteil,
das über sein Verhältnis zur Mathematik besteht. Dieses Vorurteil ist
ein doppeltes. Einmal glaubt man, Goethe sei ein Feind dieser
Wissenschaft gewesen und habe ihre hohe Bedeutung für das menschliche
Erkennen in arger Weise verkannt; und zweitens behauptet man, der
Dichter habe jede mathematische Behandlungsweise aus den
physikalischen Teilen der Naturlehre, die er gepflegt, nur deshalb
ausgeschieden, weil sie ihm, der sich keiner Kultur in der Mathematik
erfreute, unbequem war.
Was den ersten Punkt betrifft, so ist dagegen zu sagen, daß
Goethe wiederholt in so entschiedener Weise seiner Bewunderung der
mathematischen Wissenschaft Ausdruck gegeben hat, daß von einer
Geringschätzung derselben durchaus nicht die Rede sein kann. Ja, er
will die gesamte Naturwissenschaft von jener Strenge durchdrungen
wissen, die der Mathematik eigen ist. «Die Bedächtlichkeit, nur das
Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem
Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und
selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu
Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu
geben schuldig wären..» (Natw. Schr.., 2. Bd.., S. 19) «Ich hörte mich
anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind der Mathematik
überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich... .»
[Ebenda S. 45]
Was den zweiten Vorwurf betrifft, so ist er ein solcher, daß ihn
kaum jemand im Ernste erheben kann, der einen Einblick in Goethes
Wesen getan hat. Wie oft hat sich denn nicht Goethe gegen das Beginnen
problematischer Naturen ausgesprochen, die Zielen zustreben,
unbekümmert darum, ob sie sich damit innerhalb der Grenzen ihrer
Fähigkeiten bewegen! Und er selbst sollte dieses Gebot überschritten,
er sollte naturwissenschaftliche Ansichten aufgestellt haben, mit
Hinwegsetzung über seine Unzulänglichkeit in mathematischen Dingen?
Goethe wußte, daß der Wege zum Wahren unendlich
viele sind, und daß ein jeder jenen wandeln kann, der seinen
Fähigkeiten gemäß ist, und er kommt ans Ziel. «Jeder Mensch
muß nach seiner Weise denken: denn er findet auf seinem Wege
immer ein Wahres, oder eine Art von Wahrem, die ihm durchs Leben
hilft; nur er darf sich nicht gehen lassen; er muß sich
kontrollieren.. ..» («Sprüche in Prosa» [Natw., Schr.., 4. Bd.., 2.
Abt.., S. 460]). «Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er
sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt;
aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt, aufgehoben und
vernichtet, wenn jenes unerläßlich geforderte Ebenmaß
abgeht..» [Ebenda S. 443]
Es wäre lächerlich, wenn man behaupten wollte, Goethe habe, um
überhaupt etwas zu leisten, sich auf ein Feld begeben, das
außerhalb seines Gesichtskreises lag. Es kommt alles darauf an,
festzustellen, was Mathematik zu leisten hat, und wo ihre Anwendung
auf Naturwissenschaft beginnt. Darüber hat Goethe nun wirklich die
gewissenhaftesten Betrachtungen angestellt. Der Dichter entwickelt da,
wo es sich darum handelt, die Grenzen seiner produktiven Kraft zu
bestimmen, einen Scharfsinn, der nur noch von seinem genialischen
Tiefsinn übertroffen wird. Darauf möchten wir vor allem jene
aufmerksam machen, die über Goethes wissenschaftliches Denken nichts
anderes zu sagen wissen, als daß ihm die logischreflektierende
Denkweise abging. Die Art, wie Goethe die Grenze zwischen der
naturwissenschaftlichen Methode, die er anwendete, und jener der
Mathematiker bestimmte, verrät eine tiefe Einsicht in die Natur
der mathematischen Wissenschaft. Er wußte genau, welches der
Grund der Gewißheit mathematischer Lehrsätze ist; er hatte sich
eine klare Vorstellung darüber gebildet, in welchem Verhältnisse die
mathematische zu der übrigen Naturgesetzlichkeit steht.
Soll eine Wissenschaft überhaupt einen Erkenntniswert haben, so
muß sie uns ein bestimmtes Wirklichkeitsgebiet
erschließen. Es muß sich in ihr irgendeine Seite des
Weltinhalts ausprägen. Die Art, wie sie das tut, bildet den Geist
der betreffenden Wissenschaft. Diesen Geist der Mathematik
mußte Goethe kennen, um zu wissen, was in der Naturwissenschaft
ohne Hilfe des Kalküls zu erreichen ist, und was nicht. Hier liegt der
Punkt, auf den es ankommt. Goethe selbst hat mit aller Bestimmtheit
darauf hingewiesen. Die Art, wie er es tut, verrät eine tiefe Einsicht
in die Natur des Mathematischen..
Wir wollen auf diese Natur näher eingehen. Gegenstand der Mathematik
ist die Größe, das, was ein Mehr oder Weniger zuläßt. Die
Größe ist aber nichts an sich selbst Bestehendes. Es gibt im
weiten Umkreise menschlicher Erfahrung kein Ding, das nur
Größe ist. Neben anderen Merkmalen hat jedes Ding auch
solche, die durch Zahlen zu bestimmen sind. Da die Mathematik sich mit
Größen beschäftigt, hat sie zu ihrem Gegenstande keine in sich
vollendeten Erfahrungsobjekte, sondern nur alles das von ihnen, was
sich messen oder zählen läßt. Sie sondert alles, was sich der
letzten Operation unterwerfen läßt, von den Dingen ab. So erhält
sie eine ganze Welt von Abstraktionen, innerhalb welcher sie dann
arbeitet. Sie hat es nicht mit Dingen zu tun, sondern nur mit Dingen,
insofern sie Größen sind. Sie muß zugeben, daß sie
da nur eine Seite des Wirklichen behandelt, und daß die
letztere noch viele andere Seiten hat, über die sie keine Macht hat.
Die mathematischen Urteile sind keine Urteile, die wirkliche Objekte
voll umfassen, sondern sie haben nur innerhalb der ideellen Welt von
Abstraktionen Gültigkeit, die wir selbst als eine Seite der
Wirklichkeit von der letzteren begrifflich abgesondert haben. Die
Mathematik abstrahiert die Größe und die Zahl von den Dingen,
stellt die ganz ideellen Bezüge zwischen Größen und Zahlen her
und schwebt so in einer reinen Gedankenwelt. Die Dinge der
Wirklichkeit, insofern sie Größe und Zahl sind, erlauben dann
die Anwendung der mathematischen Wahrheiten. Es ist also ein
entschiedener Irrtum, zu glauben, daß man mit mathematischen
Urteilen die Gesamtnatur erfassen könne. Die Natur ist eben nicht
bloß Quantum; sie ist auch Quale, und die Mathematik hat es nur
mit dem ersteren zu tun. Es müssen sich die mathematische Behandlung
und die rein auf das Qualitative ausgehende in die Hände arbeiten; sie
werden sich am Dinge, von dem sie jede eine Seite erfassen,
begegnen. Goethe bezeichnet dieses Verhältnis mit den Worten: «Die
Mathematik ist wie die Dialektik ein Organ des inneren höheren Sinnes;
in der Ausübung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. Für beide hat
nichts Wert als die Form; der Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die
Mathematik Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres oder
Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich..» («Sprüche in
Prosa»; Natw. Schr.., 4. Bd., 2. Abt.., S. 405). Und «Entwurf einer
Farbenlehre» 724 [ebenda 3. Bd.., S. 277]: «Wer bekennt nicht,
daß die Mathematik, als eines der herrlichsten menschlichen
Organe, der Physik von einer Seite sehr vieles genutzt?» In
dieser Erkenntnis sah Goethe die Möglichkeit, daß ein Geist, der
sich in Mathematik keiner Kultur erfreut, sich mit physikalischen
Problemen befassen kann. Er muß sich auf das Qualitative
beschränken.
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