DAS GEOLOGISCHE GRUNDPRINZIP GOETHES
Goethe wird sehr oft dort gesucht, wo er durchaus nicht zu finden ist.
Unter vielen anderen Dingen ist das bei der Beurteilung der
geologischen Forschungen des Dichters geschehen. Viel mehr aber als
irgendwo wäre es hier notwendig, daß alles, was Goethe über
Einzelheiten geschrieben, zurückträte hinter den großartigen
Intentionen, von denen er ausging. Er muß hier vor allem nach
seiner eigenen Maxime: «In den Werken des Menschen, wie in denen der
Natur, sind eigentlich die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit
wert» [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr.., 4. Bd.., 2. Abt., S. 378] und
«Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste» [Lehrjahre
VII, 9] beurteilt werden. Nicht was er erreichte, sondern wie
er es anstrebte, ist für uns das Vorbildliche. Es handelt sich
nicht um eine Lehrmeinung, sondern um eine mitzuteilende Methode. Die
erste hängt von den wissenschaftlichen Mitteln der Zeit ab und kann
überholt werden; die letzte ist hervorgegangen aus der großen
Geistesanlage Goethes und hält stand, auch wenn die wissenschaftlichen
Werkzeuge sich vervollkommnen und die Erfahrung sich erweitert..
In die Geologie wurde Goethe durch die Beschäftigung mit den Ilmenauer
Bergwerken geführt, zu der er amtlich verpflichtet war. Als Karl
August zur Regierung kam, widmete er sich mit großem Ernste
diesem Bergwerke, das lange vernachlässigt worden war. Es sollten
zunächst die Gründe des Verfalls desselben durch Sachverständige genau
untersucht und dann alles mögliche zur Wiederbelebung des Betriebes
getan werden. Goethe stand dabei dem Herzog Karl August zur Seite. Er
betrieb die Angelegenheit auf das energischste. Das führte ihn denn
oft in die Bergwerke von Ilmenau. Er wollte sich mit dem Stand der
Sache selbst genau bekannt machen. Im Mai 1776 zum erstenmal und dann
noch oft war er in Ilmenau.
Mitten in dieser praktischen Sorge ging ihm nun das
wissenschaftliche Bedürfnis auf, den Gesetzen jener
Erscheinungen näher zu kommen, die er da zu beobachten in der Lage
war. Die umfassende Naturanschauung, die sich in seinem Geiste zu
immer größerer Klarheit heraufarbeitete (siehe den Aufsatz «Die
Natur»; Natw. Schr., 2. Bd.., S. 5 ff..), zwang ihn, das, was sich da
vor seinen Augen ausbreitete, in seinem Sinne zu erklären..
Es macht sich hier gleich eine tief in Goethes Natur liegende
Eigentümlichkeit geltend. Er hat ein wesentlich anderes Bedürfnis als
viele Forscher. Während bei letzteren das Hauptsächliche in der
Erkenntnis des Einzelnen liegt, während sie gewöhnlich an einem
ideellen Bau, einem System nur insoweit Interesse nehmen, als es ihnen
beim Beobachten des Einzelnen behilflich ist, ist für Goethe die
Einzelheit nur Durchgangspunkt zu einer umfassenden Gesamtauffassung
des Seienden. Wir lesen in dem Aufsatz «Die Natur»: «Sie lebt in
lauter Kindern und die Mutter, wo ist sie?» Dasselbe Streben,
nicht nur das unmittelbar Existierende, sondern dessen tiefere
Grundlage zu erkennen, finden wir ja auch in Faust («Schau' alle
Wirkungskraft und Samen»). So wird ihm denn auch das was er auf und
unter der Erdoberfläche beobachtet, ein Mittel, in das Rätsel der
Weltbildung einzudringen. Was er am 23. Dezember 1786 an die Herzogin
Luise schreibt: «Die Naturwerke sind immer wie ein erstausgesprochenes
Wort Gottes» [WA 8, 98], beseelt all sein Forschen; und das sinnlich
Erfahrbare wird ihm zur Schrift, aus der er jenes Wort der Schöpfung
zu lesen hat. In diesem Sinne schreibt er am 22. August 1784 an Frau
v. Stein: «Die große und schöne Schrift sei immer lesbar
und nur dann nicht zu entziffern, wenn die Menschen ihre kleinlichen
Vorstellungen und ihre Beschränktheit auf unendliche Wesen übertragen
wollen..» [WA 6, 343] Dieselbe Tendenz finden wir im «Wilhelm
Meister»: «Wenn ich nun aber eben diese Spalten und Risse als
Buchstaben behandelte, sie zu entziffern hätte, sie zu Worten bildete
und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?»
So sehen wir denn den Dichter vom Ende der siebziger Jahre an
unablässig bemüht, diese Schrift zu entziffern. Sein Streben ging
dahin, sich zu einer solchen Anschauung emporzuarbeiten, daß ihm
das, was er getrennt sah, im inneren, notwendigen Zusammenhang
erscheine. Seine Methode war «die entwickelnde, entfaltende,
keineswegs die zusammenstellende, ordnende». Ihm genügte es nicht, da
den Granit, dort den Porphyr usw. zu sehen, und sie einfach nach
äußerlichen Merkmalen aneinanderzureihen, er strebte nach einem
Gesetze, das aller Gesteinsbildung zugrunde lag und das er sich nur im
Geiste vorzuhalten brauchte, um zu verstehen, wie da Granit, dort
Porphyr entstehen mußte. Er ging von dem Unterscheidenden auf
das Gemeinsame zurück. Am 12. Juni 1784 schrieb er an Frau v. Stein:
«Der einfache Faden, den ich mir gesponnen habe, führt mich durch alle
diese unterirdischen Labyrinthe gar schön durch und gibt mir Übersicht
selbst in der Verwirrung.» [WA 6, 297 u. 298] Er sucht das gemeinsame
Prinzip, das je nach den verschiedenen Umständen, unter denen es zur
Geltung kommt, einmal diese, das andere Mal jene Gesteinsart
hervorbringt. Nichts in der Erfahrung ist ihm ein Festes, bei dem man
stehenbleiben könne; nur das Prinzip, das allem zugrunde liegt,
ist ein solches. Er ist daher auch immer bestrebt, die Übergänge
von Gestein zu Gestein zu finden. Aus ihnen ist ja die Absicht,
die Entstehungstendenz viel besser zu erkennen, als aus dem in
bestimmter Weise ausgebildeten Produkt, wo ja die Natur nur in
einseitiger Weise ihr Wesen offenbart, ja gar oft bei «ihren
Spezifikationen sich in eine Sackgasse verirrt».
Es ist ein Irrtum, wenn man diese Methode Goethes damit widerlegt zu
haben glaubt, daß man darauf hinweist, die heutige Geologie
kenne ein solches Übergehen eines Gesteines in ein anderes nicht.
Goethe hat ja nie behauptet, daß Granit tatsächlich in etwas
anderes übergehe. Was einmal Granit ist, ist fertiges, abgeschlossenes
Produkt und hat nicht mehr die innere Triebkraft, aus sich selbst
heraus ein anderes zu werden. Was aber Goethe suchte, das fehlt der
heutigen Geologie eben, das ist die Idee, das Prinzip, das den
Granit konstituiert, bevor er Granit geworden ist, und diese
Idee ist dieselbe, die auch allen anderen Bildungen zugrunde
liegt. Wenn also Goethe von einem Übergehen eines Gesteins in ein
anderes spricht, so meint er damit nicht ein tatsächliches
Umwandeln, sondern eine Entwicklung der objektiven Idee, die sich
zu den einzelnen Gebilden ausgestaltet, jetzt diese Form festhält und
Granit wird, dann wieder eine andere Möglichkeit aus sich herausbildet
und Schiefer wird usw. Nicht eine wüste Metamorphosenlehre, sondern
konkreter Idealismus ist Goethes Ansicht auch auf diesem
Gebiete. Zur vollen Geltung mit allem, was in ihr liegt, kann aber
jenes gesteinsbildende Prinzip nur im ganzen Erdkörper kommen. Daher
wird die Bildungsgeschichte des Erdkörpers für Goethe die Hauptsache,
und jedes Einzelne hat sich derselben einzureihen. Es kommt ihm darauf
an, welche Stelle ein Gestein im Erdganzen einnimmt; das Einzelne
interessiert ihn nur mehr als Teil des Ganzen. Es erscheint ihm
schließlich dasjenige mineralogischgeologische System als das
richtige, das die Vorgänge in der Erde nachschafft, das zeigt, warum
an dieser Stelle gerade das, an jener das andere entstehen
mußte. Das Vorkommen wird ihm ausschlaggebend. Er tadelt es
daher an Werners Lehre, die er sonst so hoch verehrt, daß sie
die Mineralien nicht nach dem Vorkommen, das uns über ihr Entstehen
Aufschluß gibt, als vielmehr nach zufälligen äußeren
Kennzeichen anordnet. Das vollkommene System macht nicht der
Forscher, sondern das hat die Natur selbst gemacht..
Es ist festzuhalten, daß Goethe in der ganzen Natur ein
großes Reich, eine Harmonie sah. Er behauptet, daß
alle natürlichen Dinge von einer Tendenz beseelt sind. Was
daher gleicher Art ist, mußte für ihn von der gleichen
Gesetzmäßigkeit bedingt erscheinen. Er konnte nicht zugeben,
daß in den geologischen Erscheinungen, die ja nichts weiter sind
als anorganische Wesenheiten, andere Triebfedern geltend sind, als in
der übrigen anorganischen Natur. Die Ausdehnung der anorganischen
Wirkensgesetze auf die Geologie ist Goethes erste geologische Tat.
Dieses Prinzip war es, das ihn bei Erklärung der böhmischen
Gebirge, das ihn bei Erklärung der am Serapis-Tempel zu Pozzuoli
beobachteten Erscheinungen leitete. Er suchte dadurch Prinzip in die
tote Erdkruste zu bringen, daß er sie als durch jene Gesetze
entstanden dachte, die wir immer vor unseren Augen bei physikalischen
Erscheinungen wirken sehen. Die geologischen Theorien eines [James]
Hutton, Elie de Beaumont waren ihm innerlichst zuwider. Was sollte er
mit Erklärungen anfangen, die alle Naturordnung durchbrechen?
Es ist banal, wenn man so oft die Phrase hört, Goethes ruhiger
Natur habe die Theorie des Hebens und Senkens usw. widersprochen.
Nein, sie widersprach seinem Sinne für eine einheitliche
Naturanschauung. Er konnte sie dem Naturgemäßen nicht
einfügen. Und diesem Sinne verdankt er es, daß er frühzeitig
(schon 1782) zu einer Ansicht gelangte, zu der sich die Fachgeologie
erst nach Jahrzehnten aufschwang: zur Ansicht, daß die
versteinerten Tier- und Pflanzenreste in einem notwendigen
Zusammenhange mit dem Gestein stehen, in dem sie gefunden werden.
Voltaire hatte von ihnen noch als von Naturspielen gesprochen,
weil er keine Ahnung von der Konsequenz in der Naturgesetzlichkeit
hatte. Goethe konnte ein Ding an irgendeinem Orte begreiflich nur
finden, wenn sich ein einfacher natürlicher Zusammenhang mit der
Umgebung des Dinges fand. Es ist auch dasselbe Prinzip, das Goethe auf
die fruchtbare Idee von der Eiszeit führte (s. «Geologische
Probleme und Versuch ihrer Auflösung», Natw. Schr.., 2. Bd., S. 308).
Er suchte nach einer einfachen, naturgemäßen Erklärung des
Vorkommens der auf großen Flächen weit entfernten Granitmassen.
Die Erklärung, daß sie bei dem tumultuarischen Aufstand der weit
rückwärts im Lande gelegenen Gebirge seien dahin geschleudert
worden, mußte er ja abweisen, weil sie eine Naturtatsache
nicht aus den bestehenden, wirkenden Naturgesetzen, sondern durch eine
Ausnahme von denselben, ja ein Verlassen derselben, herleitete. Er
nahm an, daß das nördliche Deutschland einst bei großer
Kälte einen tausend Fuß hohen allgemeinen Wasserstand hatte,
daß ein großer Teil von einer Eisfläche bedeckt war, und
daß jene Granitblöcke liegengeblieben sind, nachdem das Eis
abgeschmolzen. Damit war eine auf bekannte, für uns erfahrbare Gesetze
sich stützende, Ansicht gegeben. In dieser Geltendmachung einer
allgemeinen Naturgesetzlichkeit ist Goethes Bedeutung für die Geologie
zu suchen. Wie er den Kammerberg erklärt, ob er mit seiner
Meinung über den Karlsbader Sprudel das Richtige getroffen, ist
belanglos. «Es ist hier die Rede nicht von einer durchzusetzenden
Meinung, sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren sich jeder,
als eines Werkzeugs, nach seiner Art, bedienen möge..» (Goethe an
Hegel 7. Okt. 1820 [WA 33, 294]..)
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