2. Die Wissenschaft Goethes nach der Methode Schillers
Mit dem Bisherigen haben wir die Richtung bestimmt, die die folgenden
Untersuchungen nehmen werden. Sie sollen eine Entwicklung dessen
sein, was sich in Goethe als wissenschaftlicher Sinn geltend machte,
eine Interpretation seiner Art, die Welt zu betrachten.
Dagegen kann man einwenden, das sei nicht die Art, eine Ansicht
wissenschaftlich zu vertreten. Eine wissenschaftliche Ansicht dürfe
unter keinerlei Umständen auf einer Autorität, sondern müsse stets
auf Prinzipien beruhen. Wir wollen diesen Einwand sogleich
vorwegnehmen. Uns gilt nicht deshalb eine in der Goetheschen
Weltauffassung begründete Ansicht für wahr, weil sie sich aus
dieser ableiten läßt, sondern weil wir glauben, die
Goethesche Weltansicht auf haltbare Grundsätze stützen und sie als
eine in sich beründete vertreten zu können. Daß wir unseren
Ausgangspunkt von Goethe nehmen, soll uns nicht hindern, es mit der
Begründung der von uns vertretenen Ansichten ebenso ernst
zunehmen,wie die Vertreter einer angeblich voraussetzungslosen
Wissenschaft. Wir vertreten die Goethesche Weltansicht, aber wir
begründen sie den Forderungen der Wissenschaft gemäß.
Für den Weg, den solche Untersuchungen einzuschlagen haben, hat
Schiller die Richtung vorgezeichnet. Keiner hat wie er die Größe
des Goetheschen Genius geschaut. In seinen Briefen an Goethe hat er
dem letzteren ein Spiegelbild seines Wesens vorgehalten; in seinen
Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» leitet er das
Ideal des Künstlers ab, wie er es an Goethe erkannt hat; und in
seinem Aufsatze «Über naive und sentimentalische Dichtung» schildert
er das Wesen der echten Kunst, wie er es an der Dichtung Goethes
gewonnen hat. Damit ist zugleich gerechtfertigt, warum wir unsere
Ausführungen als auf Grundlage der Goethe-Schillerschen
Weltanschauung erbaut bezeichnen. Sie wollen das wissenschaftliche
Denken Goethes nach jener Methode betrachten, für die Schiller das
Vorbild geliefert hat. Goethes Blick ist auf die Natur und das Leben
gerichtet; und die Betrachtungsweise, die er dabei befolgt, soll der
Vorwurf (der Inhalt) für unsere Abhandlung sein; Schillers
Blick ist auf Goethes Geist gerichtet; und die Betrachtungsweise, die
er dabei befolgt, soll das Ideal unserer Methode sein.
In dieser Weise denken wir uns Goethes und Schillers wissenschaftliche
Bestrebungen für die Gegenwart fruchtbar gemacht.
Nach der üblichen wissenschaftlichen Bezeichnungsweise wird unsere
Arbeit als Erkenntnistheorie aufgefaßt werden müssen. Die
Fragen, die sie behandelt, werden freilich vielfach anderer Natur
sein als die, die heute von dieser Wissenschaft fast allgemein
gestellt werden. Wir haben gesehen, warum das so ist. Wo ähnliche
Untersuchungen heute auftreten, gehen sie fast durchgehends von Kant
aus. _ Man hat in wissenschaftlichen Kreisen durchaus übersehen,
daß neben der von dem großen Königsberger Denker
begründeten Erkenntniswissenschaft noch eine andere Richtung
wenigstens der Möglichkeit nach gegeben ist, die nicht minder einer
sachlichen Vertiefung fähig ist als die Kantsche. Otto Liebmann hat
am Anfange der sechziger Jahre den Ausspruch getan: Es muß auf
Kant zurückgegangen werden, wenn wir zu einer widerspruchslosen
Weltansicht kommen wollen. Das ist wohl die Veranlassung, daß
wir heute eine fast unübersehbare Kant-Literatur haben.
Aber auch dieser Weg wird der philosophischen Wissenschaft nicht
aufhelfen. Sie wird erst wieder eine Rolle in dem Kulturleben spielen,
wenn sie statt des Zurückgehens auf Kant sich in die wissenschaftliche
Auffassung Goethes und Schillers vertieft.
Und nun wollen wir an die Grundfragen einer diesen Vorbemerkungen
entsprechenden Erkenntniswissenschaft herantreten.
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