Wenn wir irgendeine der Hauptströmungen des geistigen Lebens der
Gegenwart nach rückwärts bis zu ihren Quellen verfolgen, so treffen
wir wohl stets auf einen der Geister unserer klassischen Epoche.
Goethe oder Schiller, Herder oder Lessing haben einen Impuls gegeben;
und davon ist diese oder jene geistige Bewegung ausgegangen, die heute
noch fortdauert. Unsere ganze deutsche Bildung fußt so sehr auf
unseren Klassikern, daß wohl mancher, der sich vollkommen
originell zu sein dünkt, nichts weiter vollbringt, als daß er
ausspricht, was Goethe oder Schiller längst angedeutet haben. Wir
haben uns in die durch sie geschaffene Welt so hineingelebt, daß
kaum irgend jemand auf unser Verständnis rechnen darf, der sich
außerhalb der von ihnen vorgezeichneten Bahn bewegen wollte.
Unsere Art, die Welt und das Leben anzusehen, ist so sehr durch
sie bestimmt, daß niemand unsere Teilnahme erregen kann, der
nicht Berührungspunkte mit dieser Welt sucht.
Nur von einem Zweig unserer geistigen Kultur müssen wir
gestehen, daß er einen solchen Berührungspunkt noch nicht
gefunden hat. Es ist jener Zweig der Wissenschaft, der über das
bloße Sammeln von Beobachtungen, über die Kenntnisnahme
einzelner Erfahrungen hinausgeht, um eine befriedigende
Gesamtanschauung von Welt und Leben zu liefern. Es ist das, was man
gewöhnlich Philosophie nennt. Für sie scheint unsere klassische Zeit
geradezu nicht vorhanden zu sein. Sie sucht ihr Heil in einer
künstlichen Abgeschlossenheit und vornehmen Isolierung von allem
übrigen Geistesleben. Dieser Satz wird dadurch nicht widerlegt,
daß sich eine stattliche Anzahl älterer und neuerer Philosophen
und Naturforscher mit Goethe und Schiller auseinandergesetzt hat. Denn
diese haben ihren wissenschaftlichen Standpunkt nicht dadurch
gewonnen, daß sie die Keime in den wissenschaftlichen Leistungen
jener Geistesheroen zur Entwicklung gebracht haben. Sie haben ihren
wissenschaftlichen Standpunkt außerhalb jener Weltanschauung,
die Schiller und Goethe vertreten haben, gewonnen und ihn
nachträglich mit derselben verglichen. Sie haben das auch nicht
in der Absicht getan, um aus den wissenschaftlichen Ansichten
der Klassiker etwas für ihre Richtung zu gewinnen, sondern um
dieselben zu prüfen, ob sie vor dieser ihrer eigenen Richtung bestehen
können. Wir werden darauf noch näher zurückkommen. Vorerst möchten wir
nur auf die Folgen verweisen, die sich aus dieser Haltung gegenüber
der höchsten Entwickelungsstufe der Kultur der Neuzeit für das in
Betracht kommende Wissenschaftsgebiet ergeben.
Ein großer Teil des gebildeten Lesepublikums wird heute eine
literarischwissenschaftliche Arbeit sogleich ungelesen von sich
weisen, wenn sie mit dem Anspruche auftritt, eine philosophische zu
sein. Kaum in irgendeiner Zeit hat sich die Philosophie eines
geringeren Maßes von Beliebtheit erfreut als gegenwärtig. Sieht
man von den Schriften Schopenhauers und Eduard von Hartmanns ab, die
Lebens- und Weltprobleme von allgemeinstem Interesse behandeln und
deshalb weite Verbreitung gefunden haben, so wird man nicht zu weit
gehen, wenn man sagt: philosophische Arbeiten werden heute nur von
Fachphilosophen gelesen. Niemand außer diesen kümmert sich
darum. Der Gebildete, der nicht Fachmann ist, hat das unbestimmte
Gefühl: «Diese Literatur enthält nichts, was einem meiner geistigen
Bedürfnisse entsprechen würde; die Dinge, die da abgehandelt werden,
gehen mich nichts an; sie hängen in keiner Weise mit dem zusammen, was
ich zur Befriedigung meines Geistes notwendig habe.» An diesem Mangel
an Interesse für alle Philosophie kann nur der von uns angedeutete
Umstand die Schuld tragen, denn es steht jener Interesselosigkeit ein
stets wachsendes Bedürfnis nach einer befriedigenden Welt- und
Lebensanschauung gegenüber. Was für so viele lange Zeit ein voller
Ersatz war: die religiösen Dogmen verlieren immer mehr an
überzeugender Kraft. Der Drang nimmt immer zu, das durch die
Arbeit des Denkens zu erringen, was man einst dem
Offenbarungsglauben verdankte: Befriedigung des Geistes.
An Teilnahme der Gebildeten könnte es daher nicht fehlen, wenn das
in Rede stehende Wissenschaftsgebiet wirklich Hand in Hand ginge mit
der ganzen Kulturentwickelung, wenn seine Vertreter Stellung nehmen
würden zu den großen Fragen, die die Menschheit bewegen.
Man muß sich dabei immer vor Augen halten, daß es sich nie
darum handeln kann, erst künstlich ein geistiges Bedürfnis zu
erzeugen, sondern allein darum, das bestehende aufzusuchen und ihm
Befriedigung zu gewähren. Nicht das Aufwerfen von Fragen ist die
Aufgabe der Wissenschaft, sondern das sorgfältige Beobachten
derselben, wenn sie von der Menschennatur und der jeweiligen
Kulturstufe gestellt werden, und ihre Beantwortung. Unsere
modernen Philosophen stellen sich Aufgaben, die durchaus kein
natürlicher Ausfluß der Bildungsstufe sind, auf der wir stehen,
und nach deren Beantwortung daher niemand frägt. An jenen Fragen aber,
die unsere Bildung vermöge jenes Standortes, auf den sie unsere
Klassiker gehoben haben, stellen muß, geht die
Wissenschaft vorüber. So haben wir eine Wissenschaft, nach der
niemand sucht, und ein wissenschaftliches Bedürfnis, das von niemandem
befriedigt wird.
Unsere zentrale Wissenschaft, jene Wissenschaft, die uns die
eigentlichen Welträtsel lösen soll, darf keine Ausnahme machen
gegenüber allen anderen Zweigen des Geisteslebens. Sie muß ihre
Quellen dort suchen,wo sie die letzteren gefunden haben. Sie muß
sich mit unseren Klassikern nicht nur auseinandersetzen; sie muß
bei ihnen auch die Keime zu ihrer Entwickelung suchen; es muß
sie der gleiche Zug wie unsere übrige Kultur durchwehen. Das ist eine
in der Natur der Sache liegende Notwendigkeit. Ihr ist es auch
zuzuschreiben, daß die oben bereits berührten
Auseinandersetzungen moderner Forscher mit den Klassikern
stattgefunden haben. Sie zeigen aber nichts weiter, als daß man
ein dunkles Gefühl hat von der Unstatthaftigkeit, über die
Überzeugungen jener Geister einfach zur Tagesordnung überzugehen. Sie
zeigen aber auch, daß man es zur wirklichen Weiterentwickelung
ihrer Ansichten nicht gebracht hat. Dafür spricht die Art, wie
man an Lessing, Herder, Goethe, Schiller herangetreten ist. Bei aller
Vortrefflichkeit vieler hierher gehöriger Schriften muß man doch
fast von allem, was über Goethes und Schillers wissenschaftliche
Arbeiten geschrieben worden ist, sagen, daß es sich nicht
organisch aus deren Anschauungen herausgebildet, sondern sich in ein
nachträgliches Verhältnis zu denselben gesetzt hat. Keine Tatsache
kann das mehr erhärten als die, daß die entgegengesetztesten
wissenschaftlichen Richtungen in Goethe den Geist gesehen haben, der
ihre Ansichten «vorausgeahnt» hat. Weltanschauungen, die gar nichts
miteinander gemein haben, weisen mit scheinbar gleichem Recht auf
Goethe hin, wenn sie das Bedürfnis empfinden, ihren Standpunkt auf den
Höhen der Menschheit anerkannt zu sehen. Man kann sich keine
schärferen Gegensätze denken als die Lehre Hegels und Schopenhauers.
Dieser nennt Hegel einen Scharlatan, seine Philosophie seichten
Wortkram, baren Unsinn, barbarische Wortzusammenstellungen. Beide
Männer haben eigentlich gar nichts miteinander gemein als eine
unbegrenzte Verehrung für Goethe und den Glauben, daß der
letztere sich zu ihrer Weltansicht bekannt habe.
Mit neueren wissenschaftlichen Richtungen ist es nicht anders.
Haeckel, der mit eiserner Konsequenz und in genialischer Weise
den Darwinismus ausgebaut hat, den wir als den weitaus bedeutendsten
Anhänger des englischen Forschers ansehen müssen, sieht in der
Goetheschen Ansicht die seinige vorgebildet. Ein anderer Naturforscher
der Gegenwart, C. F. W. Jessen, schreibt von der Theorie
Darwins: «Das Aufsehen, welches diese früher schon oft vorgebrachte
und von gründlicher Forschung ebenso oft widerlegte, jetzt aber mit
vielen Scheingründen unterstützte Theorie bei manchen
Spezialforschern und vielen Laien gefunden hat, zeigt, wie wenig
leider noch immer die Ergebnisse der Naturforschung von den Völkern
erkannt und begriffen sind.» Von Goethe sagt derselbe Forscher,
daß er sich «zu umfassenden Forschungen in der leblosen wie in
der belebten Natur aufgeschwungen» habe, indem er «in sinniger,
tiefdringender Naturbetrachtung das Grundgesetz aller Pflanzenbildung»
fand. Jeder der genannten Forscher weiß in schier erdrückender
Zahl Belege für die Übereinstimmung seiner wissenschaftlichen
Richtung mit den «sinnigen Beobachtungen Goethes» zu erbringen. Es
müßte denn doch wohl ein bedenkliches Licht auf die
Einheitlichkeit Goetheschen Denkens werfen, wenn sich jeder dieser
Standpunkte mit Recht auf dasselbe berufen könnte. Der Grund dieser
Erscheinung liegt aber eben darinnen, daß doch keine dieser
Ansichten wirklich aus der Goetheschen Weltanschauung herausgewachsen
ist, sondern daß jede ihre Wurzeln außerhalb derselben
hat. Er liegt darinnen, daß man zwar nach äußerer
Übereinstimmung mit Einzelheiten, die, aus dem ganzen Goetheschen
Denken herausgerissen, ihren Sinn verlieren, sucht, daß man aber
diesem Ganzen selbst nicht die innere Gediegenheit zugestehen
will, eine wissenschaftliche Richtung zu begründen. Goethes Ansichten
waren nie Ausgangspunkt wissenschaftlicher Untersuchungen,
sondern stets nur Vergleichungsobjekt. Die sich mit ihm
beschäftigten, waren selten Schüler, die sich unbefangenen
Sinnes seinen Ideen hingaben, sondern zumeist Kritiker, die
über ihn zu Gericht saßen.
Man sagt eben, Goethe habe viel zu wenig wissenschaftlichen Sinn
gehabt; er war ein um so schlechterer Philosoph, als er besserer
Dichter war. Deshalb wäre es unmöglich, einen wissenschaftlichen
Standpunkt auf ihn zu stützen. Das ist eine vollständige Verkennung
der Natur Goethes. Goethe war allerdings kein Philosoph im
gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber es darf nicht vergessen werden,
daß die wunderbare Harmonie seiner Persönlichkeit Schiller zu
dem Ausspruche führte: «Der Dichter ist der einzige wahre Mensch.»
Das, was Schiller hier unter dem «wahren Menschen» versteht, das
war Goethe. In seiner Persönlichkeit fehlte kein Element, das zur
höchsten Ausprägung des Allgemein-Menschlichen gehört. Aber alle
diese Elemente vereinigten sich in ihm zu einer Totalität, die als
solche wirksam ist. So kommt es, daß seinen
Ansichten über die Natur ein tiefer philosophischer Sinn
zugrunde liegt, wenngleich dieser philosophische Sinn nicht in
Form bestimmter wissenschaftlicher Sätze zu seinem Bewußtsein
kommt. Wer sich in jene Totalität vertieft, der wird, wenn er
philosophische Anlagen mitbringt, jenen philosophischen Sinn loslösen
und ihn als Goethesche Wissenschaft darlegen können. Er muß aber
von Goethe ausgehen und nicht mit einer fertigen Ansicht an ihn
herantreten. Goethes Geisteskräfte sind immer in einer Weise wirksam,
wie sie der strengsten Philosophie gemäß ist, wenn er auch kein
systematisches Ganze derselben hinterlassen hat.
Goethes Weltansicht ist die denkbar vielseitigste. Sie geht von einem
Zentrum aus, das in der einheitlichen Natur des Dichters gelegen ist,
und kehrt immer jene Seite hervor, die der Natur des betrachteten
Gegenstandes entspricht. Die Einheitlichkeit der Betätigung der
Geisteskräfte liegt in der Natur Goethes, die jeweilige Art
dieser Betätigung wird durch das betreffende Objekt bestimmt.
Goethe entlehnt die Betrachtungsweise der Außenwelt und zwingt
sie ihr nicht auf. Nun ist aber das Denken vieler Menschen nur in
einer bestimmten Weise wirksam; es ist nur für eine Gattung von
Objekten dienlich; es ist nicht wie das Goethesche einheitlich,
sondern einförmig Wir wollen uns genauer ausdrücken: Es
gibt Menschen, deren Verstand vornehmlich geeignet ist, rein
mechanische Abhängigkeiten und Wirkungen zu denken; sie stellen sich
das ganze Universum als einen Mechanismus vor. Andere haben einen
Drang, das geheimnisvolle, mystische Element der Außenwelt
überall wahrzunehmen; sie werden Anhänger des Mystizismus. Aller
Irrtum entsteht dadurch, daß eine solche Denkweise, die ja für
eine Gattung von Objekten volle Geltung hat, für universell erklärt
wird. So erklärt sich der Widerstreit der vielen Weltanschauungen.
Tritt nun eine solche einseitige Auffassung der Goetheschen gegenüber,
die unbeschränkt ist, weil sie die Betrachtungsweise überhaupt nicht
aus dem Geiste des Betrachters, sondern aus der Natur des Betrachteten
entnimmt, so ist es begreiflich, daß sie sich an jene
Gedankenelemente derselben anklammert, die ihr gemäß sind.
Goethes Weltansicht schließt eben in dem angedeuteten Sinne
viele Denkrichtungen in sich, während sie von keiner einseitigen
Auffassung je durchdrungen werden kann.
Der philosophische Sinn, der ein wesentliches Element in dem
Organismus des Goetheschen Genius ist, hat auch für seine Dichtungen
Bedeutung. Wenn es Goethe auch ferne lag, das, was dieser Sinn ihm
vermittelte, in begrifflich klarer Form sich vorzulegen, wie dies
Schiller imstande war, so ist es doch wie bei Schiller ein Faktor, der
bei seinem künstlerischen Schaffen mitwirkt. Goethes und Schillers
dichterische Produktionen sind ohne ihre im Hintergrunde derselben
stehende Weltanschauung nicht denkbar. Dabei kommt es bei Schiller
mehr auf seine wirklich ausgebildeten Grundsätze, bei Goethe auf die
Art seines Anschauens an. Daß aber die größten
Dichter unserer Nation auf der Höhe ihres Schaffens jenes
philosophischen Elementes nicht entraten konnten, bürgt mehr als alles
andere dafür, daß dasselbe in der Entwickelungsgeschichte der
Menschheit ein notwendiges Glied ist. Gerade die Anlehnung an Goethe
und Schiller wird es ermöglichen, unsere zentrale Wissenschaft ihrer
Kathedereinsamkeit zu entreißen und der übrigen
Kulturentwickelung einzuverleiben. Die wissenschaftlichen
Überzeugungen unserer Klassiker hängen mit tausend Fäden an ihren
übrigen Bestrebungen, sie sind solche,welche von der Kulturepoche, die
sie geschaffen, gefordert werden.
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