VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Als mir durch Herrn Prof. Kürschner der ehrenvolle Auftrag
wurde, die Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften
für die Deutsche National-Literatur zu besorgen, war ich mir der
Schwierigkeiten sehr wohl bewußt, die mir bei einem solchen
Unternehmen gegenüberstehen. Ich mußte einer Ansicht, die sich
fast allgemein festgesetzt hat, entgegentreten.
Während die Überzeugung immer mehr an Verbreitung gewinnt, daß
Goethes Dichtungen die Grundlage unserer ganzen Bildung sind,
sehen selbst jene, die am weitesten in der Anerkennung seiner
wissenschaftlichen Bestrebungen gehen, in diesen nicht mehr als
Vorahnungen von Wahrheiten, die im späteren Verlaufe der
Wissenschaft ihre volle Bestätigung gefunden haben. Seinem
genialischen Blicke soll es hier gelungen sein, Naturgesetzlichkeiten
zu ahnen, die dann unabhängig von ihm von der strengen
Wissenschaft wieder gefunden wurden. Was man der übrigen Tätigkeit
Goethes im vollsten Maße zugesteht, daß sich jeder
Gebildete mit ihr auseinanderzusetzen hat, das wird bei seiner
wissenschaftlichen Ansicht abgelehnt. Man wird durchaus nicht zugeben,
daß man durch ein Eingehen auf des Dichters wissenschaftliche
Werke etwas gewinnen könne, was die Wissenschaft nicht auch ohne ihn
heute bieten würde.
Als ich durch K.J.Schröer, meinen vielgeliebten Lehrer, in die
Weltansicht Goethes eingeführt wurde, hatte mein Denken bereits eine
Richtung genommen, die es mir möglich machte, mich über die
bloßen Einzelentdeckungen des Dichters hinweg zur Hauptsache zu
wenden: zu der Art, wie Goethe eine solche Einzeltatsache dem Ganzen
seiner Naturauffassung einfügte, wie er sie verwertete, um zu einer
Einsicht in den Zusammenhang der Naturwesen zu gelangen oder wie er
sich selbst (in dem Aufsatze «Anschauende Urteilskraft») so treffend
ausdrückt, um an den Produktionen der Natur geistig teilzunehmen. Ich
erkannte bald, daß jene Errungenschaften, die Goethe von der
heutigen Wissenschaft zugestanden werden, das Unwesentliche sind,
während das Bedeutsame gerade übersehen wird. Jene Einzelentdeckungen
wären wirklich auch ohne Goethes Forschen gemacht worden; seiner
großartigen Naturauffassung aber wird die Wissenschaft solange
entbehren, als sie sie nicht direkt von ihm selbst schöpft. Damit war
die Richtung gegeben, die die Einleitungen zu meiner Ausgabe zu
nehmen haben. Sie müssen zeigen, daß jede einzelne von Goethe
ausgesprochene Ansicht aus der Totalität seines Genius abzuleiten ist.
Die Prinzipien, nach denen dies zu geschehen hat, sind der Gegenstand
des vorliegenden Schriftchens. Es soll zeigen, daß das, was wir
als Goethes wissenschaftliche Anschauungen hinstellen, auch einer
selbständigen Begründung fähig ist.
Damit hätte ich alles gesagt, was mir den folgenden Abhandlungen
voranzuschicken nötig schien. Es obliegt mir nur noch, eine angenehme
Pflicht zu erfüllen, nämlich Herrn Prof. Kürschner, der in der
außerordentlich wohlwollenden Weise, in der er meinen
wissenschaftlichen Bemühungen stets entgegengekommen ist, auch diesem
Schriftchen seine Förderung freundlichst angedeihen ließ, meinen
tiefgefühltesten Dank auszusprechen.
Ende April 1886 Rudolf Steiner
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