Diese Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung ist von mir in
der Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
niedergeschrieben worden. In meiner Seele lebten damals zwei
Gedankentätigkeiten. Die eine hatte sich auf das Schaffen Goethes
gerichtet und war bestrebt, die Welt- und Lebensanschauung
auszugestalten, die sich als die treibende Kraft in diesem Schaffen
offenbart. Das Vollund Reinmenschliche schien mir in allem zu walten,
was Goethe schaffend, betrachtend und lebend der Welt gegeben hat.
Nirgends schien mir in der neueren Zeit die innere Sicherheit,
harmonische Geschlossenheit und der Wirklichkeitssinn im Verhältnis
zur Welt so sich darzustellen wie bei Goethe. Aus diesem Gedanken
mußte die Anerkennung der Tatsache entspringen, daß auch
die Art, wie Goethe im Erkennen sich verhielt, die aus dem Wesen des
Menschen und der Welt hervorgehende ist. - Auf der anderen Seite
lebten meine Gedanken in den philosophischen Anschauungen über das
Wesen der Erkenntnis, die in dieser Zeit vorhanden waren. In diesen
Anschauungen drohte das Erkennen sich in die eigene Wesenheit des
Menschen einzuspinnen. Otto Liebmann, der geistreiche Philosoph, hatte
den Satz ausgesprochen: das Bewußtsein des Menschen könne sich
selbst nicht überspringen. Es müsse in sich bleiben. Was jenseits der
Welt, die es in sich selbst gestaltet, als die wahre Wirklichkeit
liegt, davon könne es nichts wissen. In glanzvollen Schriften hat Otto
Liebmann diesen Gedanken für die verschiedensten Gebiete der
menschlichen Erfahrungswelt durchgeführt. Johannes Volkelt hatte seine
gedankenvollen Bücher über «Kants Erkenntnistheorie» und über
«Erfahrung und Denken» geschrieben. Er sah in der Welt, die dem
Menschen gegeben ist, nur einen Zusammenhang von Vorstellungen, die
sich bilden im Verhältnis des Menschen zu einer an sich unbekannten
Welt. Zwar gab er zu, daß im Erleben des Denkens eine
Notwendigkeit sich zeigt, wenn dieses in die Vorstellungswelt
eingreift. Man fühle gewissermaßen eine Art Durchstoßen
durch die Vorstellungswelt in die Wirklichkeit hinüber, wenn das
Denken sich betätigt. Aber, was war damit gewonnen? Man konnte sich
dadurch berechtigt fühlen, im Denken Urteile zu fällen, die etwas über
die wirkliche Welt sagen; aber man steht mit solchen Urteilen doch
ganz im Innern des Menschen drinnen; vom Wesen der Welt dringt nichts
in diesen ein.
Eduard von Hartmann, dessen Philosophie mir sehr wertvoll war, ohne
daß ich deren Grundlagen und Ergebnisse anerkennen konnte, stand
in erkenntnistheoretischen Fragen ganz auf dem Standpunkte, den dann
Volkelt ausführlich dargestellt hat.
Überall war das Eingeständnis vorhanden, daß der Mensch mit
seinem Erkennen an gewisse Grenzen stoße, über die er nicht
hinaus in das Gebiet der wahren Wirklichkeit dringen könne.
All dem gegenüber stand bei mir die innerlich erlebte und im Erleben
erkannte Tatsache, daß der Mensch mit seinem Denken, wenn er
dies genügend vertieft, in der Weltwirklichkeit als einer geistigen
drinnen lebt. Ich vermeinte diese Erkenntnis als eine solche zu
besitzen, die mit der gleichen inneren Klarheit im Bewußtsein
stehen kann wie das, was in mathematischer Erkenntnis sich offenbart.
Vor dieser Erkenntnis kann die Meinung nicht bestehen, daß es
solche Erkenntnisgrenzen gäbe, wie die gekennzeichnete
Gedankenrichtung sie glaubte festsetzen zu müssen.
In all dies spielte bei mir hinein eine Gedankenneigung zu der damals
blühenden Entwickelungstheorie. Sie hatte in Haeckel Formen
angenommen, in denen das selbständige Sein und Wirken des Geistigen
keine Berücksichtigung finden konnte. Das Spätere, Vollkommene sollte
aus dem Früheren, Unentwickelten im Zeitenlaufe hervorgegangen sein.
Mir leuchtete das in bezug auf die äußere sinnenfällige
Wirklichkeit ein. Doch kannte ich die vom Sinnenfälligen unabhängige,
in sich befestigte, selbständige Geistigkeit zu gut, um der
äußeren sinnenfälligen Erscheinungswelt recht zu geben. Aber es
war die Brücke zu schlagen von dieser Welt zu der des Geistes. Im
sinnenfällig gedachten Zeitenlaufe scheint das menschlich Geistige
sich aus dem vorangehenden Ungeistigen zu entwickeln.
Aber das Sinnenfällige, richtig erkannt, zeigt überall, daß es
Offenbarung des Geistigen ist. Dieser richtigen Erkenntnis des
Sinnenfälligen gegenüber war mir klar, daß «Grenzen der
Erkenntnis», wie sie damals festgestellt wurden, nur der zugeben kann,
der auf dieses Sinnenfällige stößt und es so behandelt, wie
jemand eine vollgedruckte Seite dann behandeln würde, wenn er die
Anschauung nur auf die Buchstabenformen richtete und ohne Ahnung vom
Lesen sagte, man könne nicht wissen, was hinter diesen Formen stecke.
So wurde mein Blick auf den Weg von der Sinnesbeobachtung zu dem
Geistigen hingelenkt, das mir im inneren erkennenden Erleben
feststand. Ich suchte hinter den sinnenfälligen Erscheinungen nicht
ungeistige Atomwelten, sondern das Geistige, das sich scheinbar im
Innern des Menschen offenbart, das aber in Wirklichkeit den
Sinnendingen und Sinnesvorgängen selbst angehört. Es entsteht durch
das Verhalten des erkennenden Menschen der Schein, als ob die Gedanken
der Dinge im Menschen seien, während sie in Wirklichkeit in den Dingen
walten. Der Mensch hat nötig, sie in einem Schein-Erleben von den
Dingen abzusondern; im wahren Erkenntnis-Erleben gibt er sie den
Dingen wieder zurück.
Die Entwickelung der Welt ist dann so zu verstehen, daß das
vorangehende Ungeistige, aus dem sich später die Geistigkeit des
Menschen entfaltet, neben und außer sich ein Geistiges hat. Die
spätere durchgeistigte Sinnlichkeit, in der der Mensch erscheint,
tritt dann dadurch auf, daß sich der Geistesvorfahre des
Menschen mit den unvollkommenen ungeistigen Formen vereint, und, diese
umbildend, dann in sinnenfälliger Form auftritt.
Diese Ideengänge führten mich über die damaligen
Erkenntnistheoretiker, deren Scharfsinn und wissenschaftliches
Verantwortungsgefühl ich voll anerkannte, hinaus. Sie führten mich zu
Goethe hin.
Ich muß heute zurückdenken an mein damaliges inneres Ringen. Ich
habe es mir nicht leicht gemacht, über die Gedankengänge der damaligen
Philosophien hinwegzukommen. Mein Leuchtstern war aber stets die ganz
durch sich selbst bewirkte Anerkennung der Tatsache, daß der
Mensch sich innerlich als vom Körper unabhängiger Geist, stehend in
einer rein geistigen Welt, schauen kann.
Vor meinen Arbeiten über Goethes naturwissenschaftliche Schriften und
vor dieser Erkenntnistheorie schrieb ich einen kleinen Aufsatz über
Atomismus, der nie gedruckt worden ist. Er war in der angedeuteten
Richtung gehalten. Ich muß gedenken, welche Freude es mir
machte, als Friedrich Theodor Vischer, dem ich den Aufsatz
zuschickte, mir einige zustimmende Worte schrieb.
Nun aber wurde mir an meinen Goethe-Studien klar, wie meine Gedanken
zu einem Anschauen vom Wesen der Erkenntnis führen, das in Goethes
Schaffen und seiner Stellung zur Welt überall hervortritt. Ich fand,
daß meine Gesichtspunkte mir eine Erkenntnistheorie ergaben, die
die der Goetheschen Weltanschauung ist.
Ich wurde in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Karl
Julius Schröer, meinen Lehrer und väterlichen Freund, dem ich viel
verdanke, empfohlen, die Einleitungen zu Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften für die Kürschnersche
«National-Literatur» zu schreiben und die Herausgabe dieser Schriften
zu besorgen. In dieser Arbeit verfolgte ich das Erkenntnisleben
Goethes auf allen Gebieten, auf denen er tätig war. Immer klarer im
einzelnen wurde mir die Tatsache, daß mich meine eigene
Anschauung in eine Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung
hineinstellte. Und so schrieb ich denn diese Erkenntnistheorie
während der genannten Arbeiten.
Indem ich sie heute wieder vor mich hinstelle, erscheint sie mir auch
als die erkenntnistheoretische Grundlegung und Rechtfertigung von alle
dem, was ich später gesagt und veröffentlicht habe. Sie spricht von
einem Wesen des Erkennens, das den Weg freilegt von der sinnenfälligen
Welt in eine geistige hinein.
Es könnte sonderbar erscheinen, daß diese Jugendschrift, die
nahezu vierzig Jahre alt ist, heute wieder unverändert, nur durch
Anmerkungen erweitert, erscheint. Sie trägt in der Art der Darstellung
die Kennzeichen eines Denkens, das sich in die Philosophie der Zeit
vor vierzig Jahren eingelebt hat. Ich würde, schriebe ich sie heute,
manches anders sagen. Aber ich würde als Wesen der Erkenntnis nichts
anderes angeben können. Aber, was ich heute schriebe, würde nicht so
treulich die Keime der von mir vertretenen geistgemäßen
Weltanschauung in sich tragen können. So keimhaft kann man nur
schreiben im Anfange eines Erkenntnislebens. Deshalb darf vielleicht
diese Jugendschrift gerade in der unveränderten Form wieder
erscheinen. Was in der Zeit ihrer Abfassung an Erkenntnistheorien
vorhanden war, hat eine Fortsetzung in späteren Erkenntnistheorien
gefunden. Ich habe, was ich darüber zu sagen habe, in meinem Buche
«Die Rätsel der Philosophie» gesagt. Dies erscheint gleichzeitig in
demselben Verlage in Neuauflage. - Was ich vor Zeiten als
Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung in diesem
Schriftchen skizziert habe, scheint mir heute so nötig zu sagen wie
vor vierzig Jahren.
Goetheanum zu Dornach bei Basel
November 1923 Rudolf Steiner
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