4. Feststellung des Begriffes der Erfahrung
Zwei Gebiete stehen also einander gegenüber, unser Denken und die
Gegenstände, mit denen sich dasselbe beschäftigt. Man bezeichnet die
letzteren, insofern sie unserer Beobachtung zugänglich sind, als den
Inhalt der Erfahrung. Ob es außer unserem Beobachtungsfelde noch
Gegenstände des Denkens gibt und welcher Natur dieselben sind, wollen
wir vorläufig ganz dahingestellt sein lassen. Unsere nächste Aufgabe
wird es sein, jedes von den zwei bezeichneten Gebieten, Erfahrung und
Denken, scharf zu umgrenzen. Wir müssen erst die Erfahrung in
bestimmter Zeichnung vor uns haben und dann die Natur des Denkens
erforschen. Wir treten an die erste Aufgabe heran.
Was ist Erfahrung? Jedermann ist sich dessen bewußt, daß
sein Denken im Konflikte mit der Wirklichkeit angefacht wird. Die
Gegenstände im Raume und in der Zeit treten an uns heran; wir nehmen
eine vielfach gegliederte, höchst mannigfaltige Außenwelt wahr
und durchleben eine mehr oder minder reichlich entwickelte Innenwelt.
Die erste Gestalt, in der uns das alles gegenübertritt, steht fertig
vor uns. Wir haben an ihrem Zustandekommen keinen Anteil. Wie aus
einem uns unbekannten Jenseits entspringend, bietet sich zunächst die
Wirklichkeit unserer sinnlichen und geistigen Auffassung dar. Zunächst
können wir nur unseren Blick über die uns gegenübertretende
Mannigfaltigkeit schweifen lassen.
Diese unsere erste Tätigkeit ist die sinnliche Auffassung der
Wirklichkeit. Was sich dieser darbietet, müssen wir festhalten. Denn
nur das können wir reine Erfahrung nennen.
Wir fühlen sogleich das Bedürfnis, die unendliche Mannigfaltigkeit von
Gestalten, Kräften, Farben, Tönen usw., die vor uns auftritt, mit dem
ordnenden Verstande zu durchdringen. Wir sind bestrebt, die
gegenseitigen Abhängigkeiten aller uns entgegentretenden Einzelheiten
aufzuklären. Wenn uns ein Tier in einer bestimmten Gegend erscheint,
so fragen wir nach dem Einflusse der letzteren auf das Leben des
Tieres; wenn wir sehen, wie ein Stein ins Rollen kommt, so suchen wir
nach anderen Ereignissen, mit denen dieses zusammenhängt. Was aber auf
solche Weise zustande kommt, ist nicht mehr reine Erfahrung. Es
hat schon einen doppelten Ursprung: Erfahrung und Denken.
Reine Erfahrung ist die Form der Wirklichkeit, in der diese uns
erscheint, wenn wir ihr mit vollständiger Entäußerung unseres
Selbstes entgegentreten.
Auf diese Form der Wirklichkeit sind die Worte anwendbar, die Goethe
in dem Aufsatze «Die Natur» ausgesprochen hat: «Wir sind von ihr
umgeben und umschlungen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den
Kreislauf ihres Tanzes auf.»
Bei den Gegenständen der äußeren Sinne springt das so in die
Augen, daß es wohl kaum jemand leugnen wird. Ein Körper tritt
uns zunächst als eine Vielheit von Formen, Farben, von Wärme- und
Lichteindrücken entgegen, die plötzlich vor uns sind, wie aus einem
uns unbekannten Urquell hervorgegangen.
Die psychologische Überzeugung, daß die Sinnenwelt, wie sie uns
vorliegt, nichts an sich selbst ist, sondern bereits ein Produkt der
Wechselwirkung einer uns unbekannten molekularen Außenwelt und
unseres Organismus, widerspricht unserer Behauptung nicht. Wenn es
auch wirklich wahr wäre, daß Farbe, Wärme usw. nichts weiter
sind, als die Art, wie unser Organismus von der Außenwelt
affiziert wird, so liegt doch der Prozeß, der das Geschehen der
Außenwelt in Farbe, Wärme usw. umwandelt, gänzlich jenseits des
Bewußtseins. Unser Organismus mag dabei welche Rolle
immer spielen: unserem Denken liegt als fertige, uns aufgedrungene
Wirklichkeitsform (Erfahrung) nicht das molekulare Geschehen, sondern
jene Farben, Töne usw. vor.
Nicht so klar liegt die Sache mit unserem Innenleben. Eine genauere
Erwägung wird aber hier jeden Zweifel schwinden lassen, daß auch
unsere inneren Zustände in derselben Form in den Horizont unseres
Bewußtseins eintreten wie die Dinge und Tatsachen der
Außenwelt. Ein Gefühl drängt sich mir ebenso auf wie ein
Lichteindruck. Daß ich es in nähere Beziehung zu meiner eigenen
Persönlichkeit bringe, ist in dieser Hinsicht ohne Belang. Wir müssen
noch weiter gehen. ,Auch das Denken selbst erscheint uns zunächst als
Erfahrungssache. Schon indem wir forschend an unser Denken
herantreten, setzen wir es uns gegenüber, stellen wir uns seine erste
Gestalt als von einem uns Unbekannten kommend vor.
Das kann nicht anders sein. Unser Denken ist, besonders wenn man seine
Form als individuelle Tätigkeit innerhalb unseres Bewußtseins
ins Auge faßt, Betrachtung, das heißt es richtet
den Blick nach außen, auf ein Gegenüberstehendes. Dabei bleibt
es zunächst als Tätigkeit stehen. Es würde ins Leere, ins Nichts
blicken, wenn sich ihm nicht etwas gegenüberstellte.
Dieser Form des Gegenüberstellens muß sich alles fügen, was
Gegenstand unseres Wissens werden soll. Wir sind unvermögend, uns über
diese Form zu erheben. Sollen wir an dem Denken ein Mittel gewinnen,
tiefer in die Welt einzudringen, dann muß es selbst zuerst
Erfahrung werden. Wir müssen das Denken innerhalb der
Erfahrungstatsachen selbst als eine solche aufsuchen.
Nur so wird unsere Weltanschauung der inneren Einheitlichkeit nicht
entbehren. Sie würde es sogleich, wenn wir ein fremdes Element in sie
hineintragen wollten. Wir treten der bloßen reinen Erfahrung
gegenüber und suchen Innerhalb ihrer selbst das Element, das über
sich und über die übrige Wirklichkeit Licht verbreitet.
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