5. Hinweis auf den Inhalt der Erfahrung
Sehen wir uns nun die reine Erfahrung einmal an. Was enthält sie, wie
sie an unserem Bewußtsein vorüberzieht, ohne daß wir sie
denkend bearbeiten? Sie ist bloßes Nebeneinander im Raume und
Nacheinander in der Zeit; ein Aggregat aus lauter zusammenhanglosen
Einzelheiten. Keiner der Gegenstände, die da kommen und gehen, hat mit
dem anderen etwas zu tun. Auf dieser Stufe sind die Tatsachen, die
wir wahrnehmen, die wir innerlich durchleben, absolut gleichgültig
füreinander.
Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeit von ganz gleichwertigen Dingen.
Kein Ding, kein Ereignis darf den Anspruch erheben, eine
größere Rolle in dem Getriebe der Welt zu spielen als ein
anderes Glied der Erfahrungswelt. Soll uns klar werden, daß
diese oder jene Tatsache größere Bedeutung hat als eine andere,
so müssen wir die Dinge nicht bloß beobachten, sondern schon in
gedankliche Beziehung setzen. Das rudimentäre Organ eines Tieres, das
vielleicht nicht die geringste Bedeutung für dessen organische
Funktionen hat, ist für die Erfahrung ganz gleichwertig mit dem
wichtigsten Organe des Tierkörpers. Jene größere oder geringere
Wichtigkeit wird uns eben erst klar, wenn wir über die Beziehungen der
einzelnen Glieder der Beobachtung nachdenken, das heißt,
wenn wir die Erfahrung bearbeiten.
Für die Erfahrung ist die auf einer niedrigen Stufe der
Organisation stehende Schnecke gleichwertig mit dem höchst
entwickelten Tiere. Der Unterschied in der Vollkommenheit der
Organisation erscheint uns erst, wenn wir die gegebene
Mannigfaltigkeit begrifflich erfassen und durcharbeiten. Gleichwertig
in dieser Hinsicht sind auch die Kultur des Eskimo und jene des
gebildeten Europäers; Cäsars Bedeutung für die geschichtliche
Entwickelung der Menschheit erscheint der bloßen Erfahrung
nicht größer als die eines seiner Soldaten. In der
Literaturgeschichte ragt Goethe nicht über Gottsched empor, wenn es
sich um die bloße erfahrungsmäßige Tatsächlichkeit
handelt.
Die Welt ist uns auf dieser Stufe der Betrachtung gedanklich eine
vollkommen ebene Fläche. Kein Teil dieser Fläche ragt über den anderen
empor; keiner zeigt irgendeinen gedanklichen Unterschied von dem
anderen. Erst wenn der Funke des Gedankens in diese Fläche einschlägt,
treten Erhöhungen und Vertiefungen ein, erscheint das eine mehr oder
minder weit über das andere emporragend, formt sich alles in
bestimmter Weise, schlingen sich Fäden von einem Gebilde zum anderen;
wird alles zu einer in sich vollkommenen Harmonie.
Wir glauben durch unsere Beispiele wohl hinlänglich gezeigt zu haben,
was wir unter jener größeren oder geringeren Bedeutung der
Wahrnehmungsgegenstände (hier gleichbedeutend genommen mit Dingen der
Erfahrung) verstehen, was wir uns unter jenem Wissen denken, das erst
entsteht, wenn wir diese Gegenstände im Zusammenhange
betrachten. Damit glauben wir zugleich vor dem Einwande gesichert
zu sein, daß unsere Erfahrungswelt ja auch schon unendliche
Unterschiede in ihren Objekten zeigt, bevor das Denken an sie
herantritt. Eine rote Fläche unterscheide sich doch auch ohne
Betätigung des Denkens von einer grünen. Das ist richtig. Wer uns aber
damit widerlegen wollte, hat unsere Behauptung vollständig
mißverstanden. Das gerade behaupten wir ja, daß es eine
unendliche Menge von Einzelheiten ist, die uns in der Erfahrung
geboten wird. Diese Einzelheiten müssen natürlich voneinander
verschieden sein, sonst würden sie uns eben nicht als unendliche,
zusammenhanglose Mannigfaltigkeit gegenübertreten. Von einer
Unterschiedlosigkeit der wahrgenommenen Dinge ist gar nicht die Rede,
sondern von ihrer vollständigen Beziehungslosigkeit, von der
unbedingten Bedeutungslosigkeit der einzelnen sinnenfälligen Tatsache
für das Gaze unseres Wirklichkeitsbildes. Gerade weil wir diese
unendliche qualitative Verschiedenheit anerkennen, werden wir zu
unseren Behauptungen gedrängt.
Träte uns eine in sich geschlossene, harmonisch gegliederte Einheit
gegenüber, so könnten wir doch nicht von einer Gleichgültigkeit der
einzelnen Glieder dieser Einheit in bezug aufeinander sprechen.
Wer unser oben gebrauchtes Gleichnis deswegen nicht entsprechend
fände, hätte es nicht beim eigentlichen Vergleichungspunkte
gefaßt. Es wäre freilich falsch, wenn wir die unendlich
verschieden gestaltete Wahrnehmungswelt mit der einförmigen
Gleichmäßigkeit einer Ebene vergleichen wollten. Aber unsere
Ebene soll durchaus nicht die mannigfaltige Erscheinungswelt
versinnlichen, sondern das einheitliche Gesamtbild, das wir von
dieser Welt haben, solange das Denken nicht an sie herangetreten ist.
Auf diesem Gesamtbilde erscheint nach der Betätigung des Denkens jede
Einzelheit nicht so, wie sie die bloßen Sinne vermitteln,
sondern schon mit der Bedeutung, die sie für das Ganze der
Wirklichkeit hat. Sie erscheint somit mit Eigenschaften, die ihr in
der Form der Erfahrung vollständig fehlen.
Nach unserer Überzeugung ist es Johannes Volkelt vorzüglich
gelungen, das in scharfen Umrissen zu zeichnen, was wir reine
Erfahrung zu nennen berechtigt sind. Schon vor fünf Jahren in seinem
Buche über «Kants Erkenntnistheorie» ist sie vortrefflich
charakterisiert und in seiner neuesten Veröffentlichung: «Erfahrung
und Denken» hat er die Sache dann weiter ausgeführt. Er hat das nun
freilich zur Unterstützung einet Ansicht getan, die von der unsrigen
grundverschieden ist und in einer wesentlich anderen Absicht, als die
unsere gegenwärtig ist. Das kann uns aber nicht hindern, seine
vorzügliche Charakterisierung der reinen Erfahrung hierher zu setzen.
Sie schildert uns einfach die Bilder, die in einem beschränkten
Zeitabschnitte in völlig zusammenhangloser Weise vor unserem
Bewußtsein vorüberziehen. Volkelt sagt: «Jetzt hat zum Beispiel
mein Bewußtsein die Vorstellung, heute fleißig gearbeitet
zu haben, zum Inhalte; unmittelbar daran knüpft sich der
Vorstellungsinhalt, mit gutem Gewissen spazieren gehen zu können;
doch plötzlich tritt das Wahrnehmungsbild der sich öffnenden Türe und
des hereintretenden Briefträgers ein; das Briefträgerbild erscheint
bald handausstreckend, bald mundöffnend, bald das Gegenteil tuend;
zugleich verbinden sich mit dem Wahrnehmungsinhalte des Mundöffnens
allerhand Gehörseindrücke, unter anderen auch einer, daß es
draußen zu regnen anfange. Das Briefträgerbild verschwindet aus
meinem Bewußtsein, und die Vorstellungen, die nun eintreten,
haben der Reihe nach zu ihrem Inhalte: Ergreifen der Schere, Öffnen
des Briefes, Vorwurf unleserlichen Schreibens, Gesichtsbilder
mannigfachster Schriftzeichen, mannigfache sich daran knüpfende
Phantasiebilder und Gedanken; kaum ist diese Reihe vollendet, als
wiederum die Vorstellung, fleißig gearbeitet zu haben, und die
mit Mißmut begleitete Wahrnehmung des fortfahrenden Regens
eintreten; doch beide verschwinden aus meinem Bewußtsein, und es
taucht eine Vorstellung auf mit dem Inhalte, daß eine während
des heutigen Arbeitens gelöst geglaubte Schwierigkeit nicht gelöst
sei; damit zugleich sind die Vorstellungen: Willensfreiheit,
empirische Notwendigkeit, Verantwortlichkeit, Wert der Tugend,
absoluter Zufall, Unbegreiflichkeit usw. eingetreten und verbinden
sich miteinander in der verschiedenartigsten, kompliziertesten Weise;
und ähnlich geht es weiter.»
Da haben wir für einen gewissen, beschränkten Zeitabschnitt das
geschildert, was wir wirklich erfahren, diejenige Form der
Wirklichkeit, an der das Denken gar keinen Anteil hat.
Man darf nun durchaus nicht glauben, daß man zu einem anderen
Resultate gekommen wäre, wenn man statt dieser alltäglichen Erfahrung
etwa die geschildert hätte, die wir an einem wissenschaftlichen
Versuche oder an einem besonderen Naturphänomen machen. Hier wie dort
sind es einzelne zusammenhanglose Bilder, die vor unserem
Bewußtsein vorüberziehen. Erst das Denken stellt den
Zusammenhang her.
Das Verdienst, in scharfen Konturen gezeigt zu haben, was uns
eigentlich die von allem Gedanklichen entblößte Erfahrung gibt,
müssen wir auch dem Schriftchen: «Gehirn und Bewußtsein» von Dr.
Richard Wahle (Wien 1884) zuerkennen; nur mit der Einschränkung,
daß, was Wahle als unbedingt gültige Eigenschaften der
Erscheinungen der Außen- und Innenwelt hinstellt, nur von der
ersten Stuft der Weltbetrachtung gilt, die wir charakterisiert
haben. Wir wissen nach Wahle nur von einem Nebeneinander im Raume und
einem Nacheinander in der Zeit. Von einem Verhältnisse der nebenoder
nacheinander bestehenden Dinge kann nach ihm gar keine Rede sein.
Es mag zum Beispiel immerhin irgendwo ein innerer Zusammenhang
zwischen dem warmen Sonnenstrahl und dem Erwärmen des Steines
bestehen; wir wissen nichts von einem ursächlichen Zusammenhange; uns
wird allein klar, daß auf die erste Tatsache die zweite folgt.
Es mag auch irgendwo, in einer uns unzugänglichen Welt-, ein innerer
Zusammenhang zwischen unserem Gehirnmechanismus und unserer geistigen
Tätigkeit bestehen; wir wissen nur, daß beides parallel
verlaufende Vorkommnisse sind; wir sind durchaus nicht berechtigt, zum
Beispiel einen Kausalzusammenhang beider Erscheinungen anzunehmen.
Wenn freilich Wahle diese Behauptung zugleich als letzte Wahrheit der
Wissenschaft hinstellt, so bestreiten wir diese Ausdehnung derselben;
sie gilt aber vollkommen für die erste Form, in der wir die
Wirklichkeit gewahr werden.
Nicht nur die Dinge der Außen- und die Vorgänge der Innenwelt
stehen auf dieser Stufe unseres Wissens zusammenhanglos da, sondern
auch unsere eigene Persönlichkeit ist eine isolierte Einzelheit
gegenüber der übrigen Welt. Wir finden uns als eine der
unzähligen Wahrnehmungen ohne Beziehung zu den Gegenständen, die uns
umgeben.
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