6. Berichtigung einer irrigen Auffassung der Gesamt-Erfahrung
Hier ist nun der Ort, auf ein seit Kant bestehendes Vorurteil
hinzuweisen, das sich bereits in gewissen Kreisen so eingelebt hat,
daß es als Axiom gilt. Jeder, der es bezweifeln wollte, würde
als ein Dilettant hingestellt, als ein Mensch, der nicht über die
elementarsten Begriffe moderner Wissenschaft hinausgekommen Ist. Ich
meine die Ansicht, als ob es von vornherein feststünde, daß die
gesamte Wahrnehmungswelt, diese unendliche Mannigfaltigkeit von
Farben und Formen, von Tönen und Wärmedifferenzen usw. nichts weiter
sei als unsere subjektive Vorstellungswelt, die nur Bestand habe,
solange wir unsere Sinne den Einwirkungen einer uns unbekannten Welt
offen halten. Die ganze Erscheinungswelt wird von dieser Ansicht für
eine Vorstellung innerhalb unseres individuellen
Bewußtseins erklärt, und auf Grundlage dieser Voraussetzung baut
man weitere Behauptungen über die Natur des Erkennens auf. Auch
Volkelt hat sich dieser Ansicht angeschlossen und seine in bezug auf
die wissenschaftliche Durchführung meisterhafte Erkenntnistheorie
darauf gegründet. Dennoch ist das keine Grundwahrheit und am
wenigsten dazu berufen, an der Spitze der
Erkenntniswissenschaft zu stehen.
Man mißverstehe uns nur ja nicht. Wir wollen nicht gegen die
physiologischen Errungenschaften der Gegenwart einen
gewiß ohnmächtigen Protest erheben. Was aber physiologisch
vollkommen gerechtfertigt ist, das ist deshalb noch lange nicht
berufen, an die Pforte der Erkenntnistheorie gestellt zu werden. Es
mag als eine unumstößliche physiologische Wahrheit gelten,
daß erst durch die Mitwirkung unseres Organismus der Komplex von
Empfindungen und Anschauungen entsteht, den wir Erfahrung nannten. Es
bleibt doch sicher, daß eine solche Erkenntnis erst das Resultat
vieler Erwägungen und Forschungen sein kann. Dieses Charakteristikon,
daß unsere Erscheinungswelt in physiologischem Sinne
subjektiver Natur ist, ist schon eine gedankliche Bestimmung
derselben; hat also ganz und gar nichts zu tun mit ihrem ersten
Auftreten. Es setzt schon die Anwendung des Denkens auf die
Erfahrung voraus. Es muß ihm daher die Untersuchung des
Zusammenhanges dieser beiden Faktoren des Erkennens vorausgehen.
Man glaubt sich mit jener Ansicht erhaben über die vorkantsche
«Naivität», die die Dinge im Raume und in der Zeit für Wirklichkeit
hielt, wie es der naive Mensch, der keine wissenschaftliche Bildung
hat, heute noch tut.
Volkelt behauptet: «daß alle Akte, die darauf Anspruch machen,
ein objektives Erkennen zu sein, unabtrennbar an das erkennende,
individuelle Bewußtsein gebunden sind, daß sie sich
zunächst und unmittelbar nirgends anderswo als im Bewußtsein des
Individuums vollziehen und daß sie über das Gebiet des
Individuums hinauszugreifen und das Gebiet des draußenliegenden
Wirklichen zu fassen oder zu betreten völlig außerstande sind.»
Nun ist es aber doch für ein unbefangenes Denken ganz unerfindlich,
was die unmittelbar an uns herantretende Form der Wirklichkeit (die
Erfahrung) an sich trage, das uns irgendwie berechtigen könnte, sie
als bloße Vorstellung zu bezeichnen.
Schon die einfache Erwägung, daß der naive Mensch gar nichts an
den Dingen bemerkt, was ihn auf diese Ansicht bringen könnte, lehrt
uns, daß in den Objekten selbst ein zwingender Grund zu dieser
Annahme nicht liegt. Was trägt ein Baum, ein Tisch an sich, was
mich dazu veranlassen könnte, ihn als bloßes Vorstellungsgebilde
anzusehen? Zum mindesten darf das also nicht wie eine
selbstverständliche Wahrheit hingestellt werden.
Indem Volkelt das letztere tut, verwickelt er sich in einen
Widerspruch mit seinen eigenen Grundprinzipien. Nach unserer
Überzeugung mußte er der von ihm erkannten Wahrheit, daß
die Erfahrung nichts enthalte als ein zusammenhangloses Chaos von
Bildern ohne jegliche gedankliche Bestimmung, untreu werden, um die
subjektive Natur derselben Erfahrung behaupten zu können. Er hätte
sonst einsehen müssen, daß das Subjekt des Erkennens, der
Betrachter, ebenso beziehungslos innerhalb der Erfahrungswelt
dasteht wie ein beliebiger anderer Gegenstand derselben. Legt man
aber der wahrgenommenen Welt das Prädikat subjektiv bei, so ist
das ebenso eine gedankliche Bestimmung, wie wenn man den
fallenden Stein für die Ursache des Eindruckes im Boden
ansieht. Volkelt selbst will doch aber keinerlei Zusammenhang der
Erfahrungsdinge gelten lassen. Da liegt der Widerspruch seiner
Anschauung, da wurde er seinem Prinzipe, das er von der reinen
Erfahrung ausspricht, untreu. Er schließt sich dadurch in seine
Individualität ein und ist nicht mehr imstande, aus derselben
herauszukommen. Ja, er gibt das rücksichtslos zu. Es bleibt für ihn
alles zweifelhaft, was über die abgerissenen Bilder der
Wahrnehmungen hinaus liegt. Zwar bemüht sich, nach seiner Ansicht,
unser Denken, von dieser Vorstellungswelt aus auf eine obektive
Wirklichkeit zu schließen; allein alles Hinausgehen über
dieselbe kann uns nicht zu wirklich gewissen Wahrheiten führen. Alles
Wissen, das wir durch das Denken gewinnen, ist nach Volkelt vor dem
Zweifel nicht geschützt. Es kommt in keiner Weise an Gewißheit
der unmittelbaren Erfahrung gleich. Diese allein liefert ein nicht zu
bezweifelndes Wissen. Wir haben gesehen, was für ein mangelhaftes.
Doch das alles kommt nur daher, daß Volkelt der sinnenfälligen
Wirklichkeit (Erfahrung) eine Eigenschaft beilegt, die ihr in keiner
Weise zukommen kann, und dann auf dieser Voraussetzung seine weiteren
Annahmen aufbaut.
Wir mußten auf die Schrift von Volkelt besondere Rücksicht
nehmen, weil sie die bedeutendste Leistung der Gegenwart auf diesem
Gebiete ist, und auch deshalb, weil sie als Typus für alle
erkenntnistheoretischen Bemühungen gelten kann, die der von uns auf
Grundlage der Goetheschen Weltanschauung vertretenen Richtung
prinzipiell gegenüberstehen.
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