7. Berufung auf die Erfahrung jedes einzelnen Lesers
Wir wollen den Fehler vermeiden, dem unmittelbar Gegebenen, der ersten
Form des Auftretens der Außen- und Innenwelt, von vornherein
eine Eigenschaft beizulegen und so auf Grund einer Voraussetzung
unsere Ausführungen zur Geltung zu bringen. Ja, wir bestimmen die
Erfahrung geradezu als dasjenige, an dem unser Denken gar keinen
Anteil hat. Von einem gedanklichen Irrtum kann also am Anfange unserer
Ausführungen nicht die Rede sein.
Gerade darin besteht der Grundfehler vieler wissenschaftlicher
Bestrebungen, namentlich der Gegenwart, daß sie glauben die
reine Erfahrung wiederzugeben, während sie nur die von ihnen selbst in
dieselbe hineingelegten Begriffe wieder herauslesen. Nun kann man uns
ja einwenden, daß auch wir der reinen Erfahrung eine Menge von
Attributen beigelegt haben. Wir bezeichneten sie als unendliche
Mannigfaltigkeit, als ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten usw.
Sind das denn nicht auch gedankliche Bestimmungen? In dem Sinne, wie
wir sie gebrauchten, gewiß nicht. Wir haben uns dieser Begriffe
nur bedient, um den Blick des Lesers auf die gedankenfreie
Wirklichkeit zu lenken. Wir wollen diese Begriffe der Erfahrung nicht
beilegen; wir bedienen uns ihrer nur, um die Aufmerksamkeit auf jene
Form der Wirklichkeit zu lenken, die jedes Begriffes bar ist.
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen müssen ja mittels der Sprache
vollführt werden, und die kann wieder nur Begriffe ausdrücken. Aber es
ist doch etwas wesentlich anderes, ob man gewisse Worte braucht, um
diese oder jene Eigenschaft einem Dinge direkt zuzusprechen, oder ob
man sich ihrer nur bedient, um den Blick des Lesers oder Zuhörers auf
einen Gegenstand zu lenken. Wenn wir uns eines Vergleiches bedienen
dürften, so würden wir etwa sagen: Ein anderes ist es, wenn A zu B
sagt: «Betrachte jenen Menschen im Kreise seiner Familie und du wirst
ein wesentlich anderes Urteil über ihn gewinnen, als wenn du ihn nur
in seiner Amtsgebarung kennen lernst»; ein anderes ist es, wenn er
sagt: «Jener Mensch ist ein vortrefflicher Familienvater.» Im ersten
Falle wird die Aufmerksamkeit des B in einem gewissen Sinne gelenkt;
er wird darauf hingewiesen, eine Persönlichkeit unter gewissen
Umständen zu beurteilen. Im zweiten Falle wird dieser Persönlichkeit
einfach eine bestimmte Eigenschaft beigelegt, also eine Behauptung
aufgestellt. So wie hier der erste Fall zum zweiten, so soll sich
unser Anfang in dieser Schrift zu dem ähnlicher Erscheinungen der
Literatur verhalten. Wenn irgendwo durch die notwendige Stilisierung
oder um der Möglichkeit, sich auszudrücken, willen die Sache
scheinbar anders ist, so bemerken wir hier ausdrücklich, daß
unsere Ausführungen nur den hier auseinandergesetzten Sinn haben und
weit entfernt sind von dem Anspruche, irgendwelche von den Dingen
selbst geltende Behauptung vorgebracht zu haben.
Wenn wir nun für die erste Form, in der wir die Wirklichkeit
beobachten, einen Namen haben wollten, so glauben wir wohl den der
Sache am angemessensten in dem Ausdrucke: Erscheinung für die Sinne
zu finden. Wir verstehen da unter Sinn nicht bloß die
äußeren Sinne, die Vermittler der Außenwelt, sondern
überhaupt alle leiblichen und geistigen Organe, die der
Wahrnehmung der unmittelbaren Tatsachen dienen. Es ist ja eine in der
Psychologie ganz gebräuchliche Benennung: innerer Sinn für das
Wahrnehmungsvermögen der inneren Erlebnisse.
Mit dem Worte Erscheinung aber wollen wir einfach ein für uns
wahrnehmbares Ding oder einen wahrnehmbaren Vorgang bezeichnen,
insofern dieselben im Raume oder in der Zeit auftreten.
Wir müssen hier nun noch eine Frage anregen, die uns zu dem zweiten
Faktor, den wir behufs der Erkenntniswissenschaft zu betrachten
haben, führen soll, zu dem Denken.
Ist die Art, wie uns die Erfahrung bisher bekannt geworden ist, als
etwas im Wesen der Sache Begründetes anzusehen? Ist sie eine
Eigenschaft der Wirklichkeit?
Von der Beantwortung dieser Frage hängt sehr viel ab. Ist nämlich
diese Art eine wesentliche Eigenschaft der Erfahrungsdinge, etwas, was
ihnen im wahrsten Sinne des Wortes ihrer Natur nach zukommt, dann ist
nicht abzusehen, wie man überhaupt je diese Stufe des Erkennens
überschreiten soll. Man mußte sich einfach darauf verlegen,
alles, was wir wahrnehmen, in zusammenhanglosen Notizen
aufzuzeichnen, und eine solche Notizensammlung wäre unsere
Wissenschaft. Denn, was sollte alles Forschen nach dem Zusammenhange
der Dinge, wenn die, ihnen in der Form der Erfahrung zukommende,
vollständige Isoliertheit ihre wahre Eigenschaft wäre?
Ganz anders verhielte es sich, wenn wir es in dieser Form der
Wirklichkeit nicht mit deren Wesen, sondern nur mit ihrer ganz
unwesentlichen Außenseite zu tun hätten, wenn wir nur eine Hülle
von dem wahren Wesen der Welt vor uns hätten, die uns das letztere
verbirgt und uns auffordert, weiter nach demselben zu forschen. Wir
müßten dann danach trachten, diese Hülle zu durchdringen. Wir
müßten von dieser ersten Form der Welt ausgehen, um uns ihrer
wahren (wesentlichen) Eigenschaften zu bemächtigen. Wir müßten
die Erscheinung für die Sinne überwinden, um daraus eine
höhere Erscheinungsform zu entwickeln. - Die Antwort auf diese Frage
ist in den folgenden Untersuchungen gegeben.
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