8. Das Denken als höhere Erfahrung in der Erfahrung
Wir finden innerhalb des zusammenhanglosen Chaos der Erfahrung, und
zwar zunächst auch als Erfahrungstatsache, ein Element, das uns über
die Zusammenhanglosigkeit hinausführt. Es ist das Denken. Das
Denken nimmt schon als eine Erfahrungstatsache innerhalb der Erfahrung
eine Ausnahmestellung ein.
Bei der übrigen Erfahrungswelt komme ich, wenn ich bei dem stehen
bleibe, was meinen Sinnen unmittelbar vorliegt, nicht über die
Einzelheiten hinaus. Angenommen: Ich habe eine Flüssigkeit vor mir,
die ich zum Sieden bringe. Dieselbe ist erst ruhig, dann sehe ich
Dampfblasen aufsteigen, sie gerät in Bewegung, und endlich geht sie
in Dampfform über. Das sind die einzelnen aufeinanderfolgenden
Wahrnehmungen. Ich mag die Sache drehen und wenden, wie ich will:
wenn ich dabei stehen bleibe, was mir die Sinne liefern, so finde ich
keinen Zusammenhang der Tatsachen, Beim Denken ist das nicht der
Fall. Wenn ich zum Beispiel den Gedanken der Ursache fasse, so führt
mich dieser durch seinen eigenen Inhalt zu dem der Wirkung. Ich
brauche die Gedanken nur in jener Form festzuhalten, in der sie in
unmittelbarer Erfahrung auftreten, und sie erscheinen schon als
gesetzmäßige Bestimmungen.
Was bei der übrigen Erfahrung erst anderswo hergeholt werden
muß, wenn es überhaupt auf sie anwendbar ist, der gesetzliche
Zusammenhang, ist im Denken schon in seinem allerersten Auftreten
vorhanden. Bei der übrigen Erfahrung prägt sich nicht die
ganze Sache schon in dem aus, was als Erscheinung vor meinem
Bewußtsein auftritt; beim Denken geht die ganze Sache ohne
Rückstand in dem mir Gegebenen auf. Dort muß ich erst die Hülle
durchdringen, um auf den Kern zu kommen, hier ist Hülle und Kern eine
ungetrennte Einheit. Es ist nur eine allgemein-menschliche
Befangenheit, wenn uns das Denken zuerst ganz analog der übrigen
Erfahrung erscheint. Wir brauchen bei ihm bloß diese unsere
Befangenheit zu überwinden. Bei der übrigen Erfahrung müssen wir
eine in der Sache liegende Schwierigkeit lösen.
Im Denken ist dasjenige, was wir bei der übrigen Erfahrung suchen,
selbst unmittelbare Erfahrung geworden.
Darin ist die Lösung einer Schwierigkeit gegeben, die auf andere Weise
wohl kaum gelöst werden wird. Bei der Erfahrung stehen zu bleiben, ist
eine berechtigte wissenschaftliche Forderung. Nicht weniger aber ist
eine solche die Aufsuchung der inneren Gesetzmäßigkeit der
Erfahrung. Es muß also dieses Innere selbst an einer Stelle
der Erfahrung als solche auftreten. Die Erfahrung wird so mit
Hilfe ihrer selbst vertieft. Unsere Erkenntnistheorie erhebt die
Forderung der Erfahrung in der höchsten Form, sie weist jeden Versuch
zurück, etwas von außen in die Erfahrung hineinzutragen. Die
Bestimmungen des Denkens findet sie selbst innerhalb der Erfahrung.
Die Art, wie das Denken in die Erscheinung eintritt, ist dieselbe wie
bei der übrigen Erfahrungswelt.
Das Prinzip der Erfahrung wird zumeist in seiner Tragweite und
eigentlichen Bedeutung verkannt. In seiner schroffsten Form ist es die
Forderung, die Gegenstände der Wirklichkeit in der ersten Form ihres
Auftretens zu belassen und sie nur so zu Objekten der Wissenschaft zu
machen. Das ist ein rein methodisches Prinzip. Es sagt über den Inhalt
dessen, was erfahren wird, gar nichts aus. Wollte man behaupten,
daß nur die Wahrnehmungen der Sinne Gegenstand der
Wissenschaft sein können, wie das der Materialismus tut, so dürfte man
sich auf dieses Prinzip nicht stützen. Ob der Inhalt sinnlich
oder ideell ist, darüber fällt dieses Prinzip kein Urteil. Soll es
aber in einem bestimmten Falle in der erwähnten schroffsten Form
anwendbar sein, dann macht es allerdings eine Voraussetzung. Es
fordert nämlich, daß die Gegenstände, wie sie erfahren werden,
schon eine Form haben, die dem wissenschaftlichen Streben genügt. Bei
der Erfahrung der äußeren Sinne ist das, wie wir gesehen haben,
nicht der Fall. Es findet nur beim Denken statt.
Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten
Bedeutung angewendet werden.
Das schließt nicht aus, daß das Prinzip auch auf die
übrige Welt ausgedehnt wird. Es hat ja noch andere Formen als seine
extremste. Wenn wir einen Gegenstand behufs wissenschaftlicher
Erklärung nicht so belassen können, wie er unmittelbar wahrgenommen
wird, so kann diese Erklärung ja immerhin so geschehen, daß die
Mittel, die sie beansprucht, aus anderen Gebieten der Erfahrungswelt
herbeigezogen werden. Da haben wir das Gebiet der «Erfahrung
überhaupt» ja doch nicht überschritten.
Eine im Sinne der Goetheschen Weltanschauung begründete
Erkenntniswissenschaft legt das Hauptgewicht darauf, daß sie dem
Prinzipe der Erfahrung durchaus treu bleibt. Niemand hat so wie Goethe
die ausschließliche Geltung dieses Prinzipes erkannt. Er
vertrat das Prinzip ganz so strenge, wie wir es oben gefordert haben.
Alle höheren Ansichten über die Natur durften ihm als nichts denn als
Erfahrung erscheinen. Sie sollten «höhere Natur innerhalb der Natur»
sein.
In dem Aufsatze: «Die Natur» sagt er, wir seien unvermögend aus der
Natur herauszukommen. Wollen wir uns also in diesem seinem Sinne über
dieselbe aufklären, so müssen wir dazu innerhalb derselben die
Mittel finden.
Wie könnte man aber eine Wissenschaft des Erkennens auf das
Erfahrungsprinzip gründen, wenn wir nicht an irgendeinem Punkte der
Erfahrung selbst das Grundelement aller Wissenschaftlichkeit, die
ideelle Gesetzmäßigkeit fänden. Wir brauchen dieses Element,
wie wir gesehen haben, nur aufzunehmen; wir brauchen uns nur in
dasselbe zu vertiefen. Denn es findet sich in der Erfahrung.
Tritt nun das Denken wirklich in einer Weise an uns heran, wird es
unserer Individualität so bewußt, daß wir mit vollem
Rechte die oben hervorgehobenen Merkmale für dasselbe in Anspruch
nehmen dürfen? Jedermann, der seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt
richtet, wird finden, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen
der Art besteht, wie eine äußere Erscheinung der sinnenfälligen
Wirklichkeit, ja selbst wie ein anderer Vorgang unseres Geisteslebens
bewußt wird, und jener, wie wir unser eigenes Denken gewahr
werden. Im ersten Falle sind wir uns bestimmt bewußt, daß
wir einem fertigen Dinge gegenübertreten; fertig nämlich insoweit, als
es Erscheinung geworden ist, ohne daß wir auf dieses Werden
einen bestimmenden Einfluß ausgeübt haben. Anders ist
das beim Denken. Das erscheint nur für den ersten Augenblick der
übrigen Erfahrung gleich. Wenn wir irgendeinen Gedanken fassen, so
wissen wir, bei aller Unmittelbarkeit, mit der er in unser
Bewußtsein eintritt, daß wir mit seiner Entstehungsweise
innig verknüpft sind. Wenn ich irgendeinen Einfall habe, der mir ganz
plötzlich gekommen ist und dessen Auftreten daher in gewisser
Hinsicht ganz dem eines äußeren Ereignisses gleichkommt, das mir
Augen und Ohren erst vermitteln müssen: so weiß ich doch
immerhin, daß das Feld, auf dem dieser Gedanke zur Erscheinung
kommt, mein Bewußtsein ist; ich weiß, daß
meine Tätigkeit erst in Anspruch genommen werden muß, um
den Einfall zur Tatsache werden zu lassen. Bei jedem äußeren
Objekt bin ich gewiß, daß es meinen Sinnen zunächst nur
seine Außenseite zuwendet; beim Gedanken weiß ich genau,
daß das, was er mir zuwendet, zugleich sein Alles ist,
daß er als in sich vollendete Ganzheit in mein Bewußtsein
eintritt. Die äußeren Triebkräfte, die wir bei einem
Sinnenobjekte stets voraussetzen müssen, sind beim Gedanken nicht
vorhanden. Sie sind es ja, denen wir es zuschreiben müssen, daß
uns die Sinneserscheinung als etwas Fertiges entgegentritt; ihnen
müssen wir das Werden derselben zurechnen. Beim Gedanken bin
ich mir klar, daß jenes Werden ohne meine Tätigkeit nicht
möglich ist. Ich muß den Gedanken durcharbeiten, muß
seinen Inhalt nachschaffen, muß ihn innerlich durchleben
bis in seine kleinsten Teile, wenn er überhaupt irgendwelche
Bedeutung für mich haben soll.
Wir haben bisher nun folgende Wahrheiten gewonnen. Auf der ersten
Stufe der Weltbetrachtung tritt uns die gesamte Wirklichkeit als
zusammenhangloses Aggregat entgegen; das Denken ist innerhalb dieses
Chaos eingeschlossen. Durchwandern wir diese Mannigfaltigkeit, so
finden wir ein Glied in derselben, welches schon in dieser ersten Form
des Auftretens jenen Charakter hat, den die übrigen erst gewinnen
sollen. Dieses Glied ist das Denken. Was bei der übrigen Erfahrung zu
überwinden ist, die Form des unmittelbaren Auftretens, das gerade ist
beim Denken festzuhalten. Diesen in seiner ursprünglichen Gestalt zu
belassenden Faktor der Wirklichkeit finden wir in unserem
Bewußtsein und sind mit ihm dergestalt verbunden, daß
die Tätigkeit unseres Geistes zugleich die Erscheinung dieses Faktors
ist. Es ist eine und dieselbe Sache von zwei Seiten betrachtet.
Diese Sache ist der Gedankengehalt der Welt. Das eine Mal erscheint
er als Tätigkeit unseres Bewußtseins, das andere Mal als
unmittelbare Erscheinung einer in sich vollendeten
Gesetzmäßigkeit, ein in sich bestimmter ideeller Inhalt. Wir
werden alsbald sehen, welche Seite die größere Wichtigkeit hat.
Deshalb nun, weil wir innerhalb des Gedankeninhaltes stehen,
denselben in allen seinen Bestandteilen durchdringen, sind wir
imstande, dessen eigenste Natur wirklich zu erkennen. Die Art,
wie er an uns herantritt, ist eine Bürgschaft dafür, daß ihm die
Eigenschaften, die wir ihm vorhin beigelegt haben, wirklich zukommen.
Er kann also gewiß als Ausgangspunkt für jede weitere Art der
Weltbetrachtung dienen. Seinen wesentlichen Charakter können
wir aus ihm selbst entnehmen; wollen wir den der übrigen
Dinge gewinnen, so müssen wir von ihm aus unsere Untersuchungen
beginnen. Wir wollen uns gleich deutlicher aussprechen. Da wir nur
im Denken eine wirkliche Gesetzmäßigkeit, eine ideelle
Bestimmtheit erfahren, so muß die Gesetzmäßigkeit der
übrigen Welt, die wir nicht an dieser selbst erfahren, auch schon im
Denken eingeschlossen liegen. Mit anderen Worten: Erscheinung
für die Sinne und Denken stehen einander in der Erfahrung
gegenüber. Jene gibt uns aber über ihr eigenes Wesen keinen
Aufschluß; dieses gibt uns denselben zugleich über sich
selbst und über das Wesen jener Erscheinung für die Sinne.
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