18. Psychologisches Erkennen
Die erste Wissenschaft, in der es der Geist mit sich selbst zu tun
hat, ist die Psychologie. Der Geist steht sich betrachtend selbst
gegenüber.
Fichte sprach dem Menschen nur insofern eine Existenz zu, als er sie
selbst in sich setzt. Mit andern Worten: Die menschliche
Persönlichkeit hat nur jene Merkmale, Eigenschaften, Fähigkeiten usw.,
die sie sich vermöge der Einsicht in ihr Wesen selbst zuschreibt. Eine
menschliche Fähigkeit, von der der Mensch nichts wüßte, erkennte
er nicht als die seinige an, er legte sie einem ihm Fremden bei. Wenn
Fichte vermeinte, auf diese Wahrheit die ganze Wissenschaft des
Universums begründen zu können, so war das ein Irrtum. Sie ist dazu
bestimmt, das oberste Prinzip der Psychologie zu werden. Sie bestimmt
die Methode derselben. Wenn der Geist eine Eigenschaft nur insofern
besitzt, als er sich sie selbst beilegt, so ist die psychologische
Methode das Vertiefen des Geistes in seine eigene Tätigkeit.
Selbsterfassung ist also hier die Methode.
Es ist natürlich, daß wir hiermit die Psychologie nicht darauf
beschränken, eine Wissenschaft von den zufälligen Eigenschaften irgend
eines (dieses oder jenes> menschlichen Individuums zu sein. Wir
lösen den Einzelgeist von seinen zufälligen Beschränkungen, von seinen
nebensächlichen Merkmalen ab und suchen uns zu der Betrachtung des
menschlichen Individuums überhaupt zu erheben.
Das ist ja nicht das Maßgebende, daß wir die ganz
zufällige Einzelindividualität betrachten, sondern daß wir uns
über das sich aus sich selbst bestimmende Individuum überhaupt klar
werden. Wer da sagen wollte, da hätten wir ja auch mit nichts weiter
als mit dem Typus der Menschheit zu tun, verwechselt den Typus mit dem
generalisierten Begriff. Dem Typus ist es wesentlich, daß er als
allgemeiner seinen Einzelformen gegenübersteht. Nicht so dem Begriff
des menschlichen Individuums. Hier ist das Allgemeine unmittelbar im
Einzelwesen tätig, nur daß sich diese Tätigkeit in verschiedener
Weise äußert, je nach den Gegenständen, auf die sie sich
richtet. Der Typus lebt sich in einzelnen Formen dar und tritt in
diesen mit der Außenwelt in Wechselwirkung. Der
Menschengeist hat nur eine Form. Hier aber bewegen jene Gegenstände
sein Fühlen, dort begeistert ihn dieses Ideal zu Handlungen usw. Es
ist nicht eine besondere Form des Menschengeistes; es ist immer der
ganze, volle Mensch, mit dem man es zu tun hat. Diesen muß man
aus seiner Umgebung loslösen, wenn man ihn erfassen will. Will man zum
Typus gelangen, dann muß man von der Einzelform zur Urform
aufsteigen; will man zum Geiste gelangen, muß man von den
Äußerungen, durch die er sich kundgibt, von den speziellen
Taten, die er vollbringt, absehen und ihn an und für sich betrachten.
Man muß ihn belauschen, wie er überhaupt handelt, nicht wie er
in dieser oder jener Lage gehandelt hat. Im Typus muß man die
allgemeine Form durch Vergleichung von den einzelnen loslösen; in der
Psychologie muß man die Einzelform bloß von ihrer Umgebung
loslösen.
Es ist da nicht mehr so wie in der Organik, daß wir in dem
besonderen Wesen eine Gestaltung des Allgemeinen, der Urform erkennen,
sondern die Wahrnehmung des Besonderen als diese Urform selbst. Nicht
eine Ausgestaltung ihrer Idee ist das menschliche Geisteswesen,
sondern die Ausgestaltung derselben. Wenn Jacobi glaubt,
daß wir mit der Wahrnehmung unseres Innern zugleich die
Überzeugung davon gewinnen, daß demselben ein einheitliches
Wesen zugrunde liege (intuitive Selbsterfassung>, so ist der
Gedanke deswegen ein verfehlter, weil wir ja dieses einheitliche
Wesen selbst wahrnehmen. Was sonst Intuition ist, wird hier eben
Selbstbetrachtung. Das ist bei der höchsten Form des Daseins sachlich
auch notwendig. Das, was der Geist aus den Erscheinungen herauslesen
kann, ist die höchste Form des Inhaltes, den er überhaupt gewinnen
kann. Reflektiert er dann auf sich selbst, so muß er sich als
die unmittelbare Manifestation dieser höchsten Form, als den Träger
derselben selbst erkennen. Was der Geist als Einheit in der
vielgestaltigen Wirklichkeit findet, das muß er in seiner
Einzelheit als unmittelbares Dasein finden. Was er der Besonderheit
als Allgemeines gegenüberstellt, das muß er seinem Individuum
als dessen Wesen selbst zuerkennen.
Man ersieht aus alledem, daß man eine wahrhafte Psychologie nur
gewinnen kann, wenn man auf die Beschaffenheit des Geistes als eines
Tätigen eingeht. Man hat in unserer Zeit an die Stelle dieser Methode
eine andere setzen wollen, welche die Erscheinungen, in denen sich der
Geist darlebt, nicht diesen selbst, zum Gegenstande der
Psychologie macht. Man glaubt die einzelnen Äußerungen desselben
ebenso in einen äußerlichen Zusammenhang bringen zu können, wie
das bei den unorganischen Naturtatsachen geschieht. So will man eine
«Seelenlehre ohne Seele» begründen. Aus unseren Betrachtungen ergibt
sich, daß man bei dieser Methode gerade das aus dem Auge
verliert, auf das es ankommt.
Man sollte den Geist von seinen Äußerungen loslösen und auf ihn
als den Produzenten derselben zurückgehen. Man beschränkt sich auf die
ersteren und vergißt den letzteren. Man hat sich eben auch hier
zu jenem falschen Standpunkt verleiten lassen, der die Methoden der
Mechanik, Physik usw. auf alle Wissenschaften anwenden will.
Die einheitliche Seele ist uns ebenso erfahrungsgemäß gegeben
wie ihre einzelnen Handlungen. Jedermann ist sich dessen bewußt,
daß sein Denken, Fühlen und Wollen von seinem «Ich» ausgeht.
Jede Tätigkeit unserer Persönlichkeit ist mit diesem Zentrum unseres
Wesens verbunden. Sieht man bei einer Handlung von dieser Verbindung
mit der Persönlichkeit ab, dann hört sie überhaupt auf. eine
Seelenerscheinung zu sein. Sie fällt entweder unter den Begriff der
unorganischen oder der organischen Natur. Liegen zwei Kugeln auf dem
Tische, und ich stoße die eine an die andere, so löst sich
alles, wenn man von meiner Absicht und meinem Wollen absieht, in
physikalisches oder physiologisches Geschehen auf. Bei allen
Manifestationen des Geistes: Denken, Fühlen, Wollen, kommt es darauf
an, sie in ihrer Wesenheit als Äußerungen der Persönlichkeit zu
erkennen. Darauf beruht die Psychologie.
Der Mensch gehört aber nicht nur sich, er gehört auch der Gesellschaft
an. Was sich in ihm darlebt, ist nicht bloß seine
Individualität, sondern zugleich jene des Volksverbandes, dem er
angehört. Was er vollbringt, geht ebenso wie aus der seinen, zugleich
aus der Vollkraft seines Volkes hervor. Er erfüllt mit seiner Sendung
einen Teil von der seiner Volksgenossenschaft. Es kommt darauf an,
daß sein Platz innerhalb seines Volkes ein solcher ist,
daß er die Macht seiner Individualität voll zur Geltung bringen
kann.
Das ist nur möglich, wenn der Volksorganismus ein derartiger ist,
daß der einzelne den Ort finden kann, wo er seinen Hebel
anzusetzen vermag. Es darf nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob er
diesen Platz findet.
Die Weise zu erforschen, wie sich die Individualität innerhalb der
Volksgemeinde darlebt, ist Sache der Volkskunde und der
Staatswissenschaft. Die Volksindividualität ist der Gegenstand dieser
Wissenschaft. Diese hat zu zeigen, welche Form der staatliche
Organismus anzunehmen hat, wenn die Volksindividualität in demselben
zum Ausdrucke kommen soll. Die Verfassung, die sich ein Volk gibt,
muß aus seinem innersten Wesen heraus entwickelt werden. Auch
hier sind nicht geringe Irrtümer im Umlauf. Man hält die
Staatswissenschaft nicht für eine Erfahrungswissenschaft. Man glaubt
die Verfassung aller Völker nach einer gewissen Schablone einrichten
zu können.
Die Verfassung eines Volkes ist aber nichts anderes, als sein
individueller Charakter in festbestimmte Gesetzesformen gebracht. Wer
die Richtung vorzeichnen will, in der sich eine bestimmte Tätigkeit
eines Volkes zu bewegen hat, darf diesem nichts Äußerliches
aufdrängen: er muß einfach aussprechen, was im Volkscharakter
unbewußt liegt. «Der Verständige regiert nicht, aber der
Verstand: nicht der Vernünftige, sondern die Vernunft», sagt Goethe.
Die Volksindividualität als vernünftige zu begreifen, ist die Methode
der Volkskunde. Der Mensch gehört einem Ganzen an, dessen Natur die
Vernunftorganisation ist. Wir können auch hier wieder ein bedeutsames
Wort Goethes anführen: «Die vernünftige Welt ist als ein großes
unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das
Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum
Herrn macht.» - Wie die Psychologie das Wesen des Einzelindividuums,
so hat die Volkskunde (Völkerpsychologie) jenes «unsterbliche
Individuum» zu erforschen.
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