F. DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
17. Einleitung: Geist und Natur
Das Gebiet des Naturerkennens haben wir erschöpft. Die Organik ist die
höchste Form der Naturwissenschaft. Was noch darüber ist, sind die
Geisteswissenschaften. Diese fordern ein wesentlich anderes Verhalten
des Menschengeistes zum Objekte als die Naturwissenschaften. Bei den
letzteren hatte der Geist eine universelle Rolle zu spielen. Es fiel
ihm sozusagen die Aufgabe zu, den Weltprozeß selbst zum
Abschlusse zu bringen. Was ohne den Geist da war, war nur die Hälfte
der Wirklichkeit, war unvollendet, in jedem Punkte Stückwerk. Der
Geist hat da die innersten Triebfedern der Wirklichkeit, die zwar
auch ohne seine subjektive Einmischung Geltung hätten, zum
Erscheinungsdasein zu rufen. Wäre der Mensch ein bloßes
Sinnenwesen, ohne geistige Auffassung, so wäre die unorganische Natur
wohl nicht minder von Naturgesetzen abhängig, aber sie träten nie als
solche ins Dasein ein. Es gäbe zwar Wesen, welche das Bewirkte (die
Sinnenwelt), nicht aber das Wirkende (die innere Gesetzlichkeit)
wahrnähmen. Es ist wirklich die echte, und zwar die wahrste Gestalt
der Natur, welche im Menschengeiste zur Erscheinung kommt, während für
ein bloßes Sinnenwesen nur ihre Außenseite da ist. Die
Wissenschaft hat hier eine weltbedeutsame Rolle. Sie ist der
Abschluß des Schöpfungswerkes. Es ist die Auseinandersetzung
der Natur mit sich selbst, die sich im Bewußtsein des Menschen
abspielt. Das Denken ist das letzte Glied in der Reihenfolge der
Prozesse, die die Natur bilden.
Nicht so ist es bei der Geisteswissenschaft. Hier hat es unser
Bewußtsein mit geistigem Inhalte selbst zu tun: mit dem
einzelnen Menschengeist, mit den Schöpfungen der Kultur, der
Literatur, mit den aufeinanderfolgenden wissenschaftlichen
Überzeugungen, mit den Schöpfungen der Kunst. Geistiges wird durch den
Geist erfaßt. Die Wirklichkeit hat hier schon das Ideelle, die
Gesetzmäßigkeit in sich, die sonst erst in der geistigen
Auffassung hervortritt. Was bei den Naturwissenschaften erst Produkt
des Nachdenkens über die Gegenstände ist, das ist hier denselben
eingeboren. Die Wissenschaft spielt eine andere Rolle. Das Wesen
wäre auch schon im Objekte ohne ihre Arbeit da. Es sind
menschliche Taten, Schöpfungen, Ideen, mit denen wir es zu tun haben.
Es ist eine Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und seinem
Geschlechte. Die Wissenschaft hat hier eine andere Sendung zu erfüllen
als der Natur gegenüber.
Wieder tritt diese Sendung zuerst als menschliches Bedürfnis auf. So
wie die Notwendigkeit, zur Naturwirklichkeit die Naturidee zu finden,
zuerst als Bedürfnis unseres Geistes auftritt, so ist auch die Aufgabe
der Geisteswissenschaften zuerst als menschlicher Drang da. Wieder
ist es nur eine objektive Tatsache, die sich als subjektives Bedürfnis
kundgibt.
Der Mensch soll nicht wie das Wesen der unorganischen Natur auf ein
anderes Wesen nach äußeren Normen, nach einer ihn
beherrschenden Gesetzlichkeit wirken, er soll auch nicht
bloß die Einzelform eines allgemeinen Typus sein, sondern er
soll sich den Zweck, das Ziel seines Daseins, seiner Tätigkeit selbst
vorsetzen. Wenn seine Handlungen die Ergebnisse von Gesetzen sind, so
müssen diese Gesetze solche sein, die er sich selbst gibt. Was er an
sich selbst, was er unter seinesgleichen, in Staat und Geschichte ist,
das darf er nicht durch äußerliche Bestimmung sein. Er
muß es durch sich selbst sein. Wie er sich in das
Gefüge der Welt einfügt, hängt von ihm ab. Er muß den Punkt
finden, um an dem Getriebe der Welt teilzunehmen. Hier erhalten die
Geisteswissenschaften ihre Aufgabe. Der Mensch muß die
Geisteswelt kennen, um nach dieser Erkenntnis seinen Anteil an
derselben zu bestimmen. Da entspringt die Sendung, die Psychologie,
Volkskunde und Geschichtswissenschaft zu erfüllen haben.
Das ist das Wesen der Natur, daß Gesetz und Tätigkeit
auseinanderfallen, diese von jenem beherrscht erscheint; das hingegen
ist das Wesen der Freiheit, daß beide zusammenfallen,
daß sich das Wirkende in der Wirkung unmittelbar darlebt und
daß das Bewirkte sich selbst regelt.
Die Geisteswissenschaften sind im eminenten Sinne daher
Freiheitswissenschaften. Die Idee der Freiheit muß ihr
Mittelpunkt, die sie beherrschende Idee sein. Deshalb stehen Schillers
ästhetische Briefe so hoch, weil sie das Wesen der Schönheit in der
Idee der Freiheit finden wollen, weil die Freiheit das Prinzip ist,
das sie durchdringt.
Der Geist nimmt nur jene Stelle in der Allgemeinheit, im Weltganzen
ein, die er sich als individueller gibt. Während in der Organik stets
das Allgemeine, die Typusidee im Auge behalten werden muß, ist
in den Geisteswissenschaften die Idee der Persönlichkeit festzuhalten.
Nicht die Idee, wie sie sich in der Allgemeinheit (Typus) darlebt,
sondern wie sie im Einzelwesen (Individuum) auftritt, ist es, worauf
es ankommt. Natürlich ist nicht die zufällige Einzelpersönlichkeit,
nicht diese oder jene Persönlichkeit maßgebend, sondern die
Persönlichkeit überhaupt; aber diese nicht aus sich heraus zu
besonderen Gestalten sich entwickelnd und erst so zum sinnenfälligen
Dasein kommend, sondern in sich selbst genug, in sich abgeschlossen,
in sich ihre Bestimmung findend.
Der Typus hat die Bestimmung, sich im Individuum erst zu realisieren.
Die Person hat diese, bereits als Ideelles wirklich auf sich selbst
ruhendes Dasein zu gewinnen. Es ist etwas ganz anderes, wenn man von
einer allgemeinen Menschheit spricht, als von einer allgemeinen
Naturgesetzlichkeit. Bei letzterer ist das Besondere durch das
Allgemeine bedingt; bei der Idee der Menschheit ist es die
Allgemeinheit durch das Besondere. Wenn es uns gelingt, der Geschichte
allgemeine Gesetze abzulauschen, so sind diese nur insofern solche,
als sie sich von den historischen Persönlichkeiten als Ziele, Ideale
vorgesetzt wurden. Das ist der innere Gegensatz von Natur und Geist.
Die erste fordert eine Wissenschaft, welche von dem unmittelbar
Gegebenen, als dem Bedingten, zu dem im Geiste
Erfaßbaren, als dem Bedingenden, aufsteigt; der letzte
eine solche, welche von dem Gegebenen, als dem Bedingenden, zu
dem Bedingten fortschreitet. Daß das Besondere
zugleich das Gesetzgebende ist, charakterisiert die
Geisteswissenschaften; daß dem Allgemeinen diese Rolle zufällt,
die Naturwissenschaften.
Was uns in der Naturwissenschaft nur als Durchgangspunkt wertvoll ist,
das Besondere, das interessiert uns in den Geisteswissenschaften
allein. Was wir in jener suchen, das Allgemeine, kommt hier nur
insofern in Betracht, als es uns über das Besondere aufklärt.
Es wäre gegen den Geist der Wissenschaft, wenn man der Natur gegenüber
bei der Unmittelbarkeit des Besonderen stehen bliebe. Geradezu
geisttötend wäre es aber auch, wenn man zum Beispiel die griechische
Geschichte in einem allgemeinen Begriffsschema umfassen wollte. Dort
würde der an der Erscheinung haftende Sinn keine Wissenschaft
erringen; hier würde der nach einer allgemeinen Schablone vorgehende
Geist allen Sinn für das Individuelle verlieren.
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