Lange Zeit hat die Wissenschaft vor dem Organischen haltgemacht. Sie
hielt ihre Methoden nicht für ausreichend, das Leben und seine
Erscheinungen zu begreifen. Ja sie glaubte überhaupt, daß
jede Gesetzlichkeit, wie eine solche in der unorganischen Natur
wirksam ist, hier aufhöre. Was man in der unorganischen Welt zugab,
daß uns eine Erscheinung begreiflich wird, wenn wir ihre
natürlichen Vorbedingungen kennen, leugnete man hier einfach. Man
dachte sich den Organismus nach einem bestimmten Plane des Schöpfers
zweckmäßig angelegt. Jedes Organ hätte seine Bestimmung
vorgezeichnet; alles Fragen könne sich hier nur darauf beziehen:
welches ist der Zweck dieses oder jenes Organes, wozu ist das oder
jenes da? Wandte man sich in der unorganischen Welt an die
Vorbedingungen einer Sache, so hielt man diese für die Tatsachen des
Lebens ganz gleichgültig und legte den Hauptwert auf die Bestimmung
eines Dinges. Auch fragte man bei den Prozessen, die das Leben
begleiten, nicht so wie bei den physikalischen Erscheinungen nach den
natürlichen Ursachen, sondern meinte sie einer besonderen Lebenskraft
zuschreiben zu müssen. Was sich da im Organismus bildet, das dachte man
sich als das Produkt dieser Kraft, die sich einfach über die sonstigen
Naturgesetze hinwegsetzt. Die Wissenschaft wußte eben bis zum
Beginne unseres Jahrhunderts mit den Organismen nichts anzufangen. Sie
war allein auf das Gebiet der unorganischen Welt beschränkt.
Indem man so die Gesetzmäßigkeit des Organischen nicht in der
Natur der Objekte suchte, sondern in dem Gedanken, den der Schöpfer
bei ihrer Bildung befolgt, schnitt man sich auch alle Möglichkeit
einer Erklärung ab. Wie soll mir jener Gedanke kund werden? Ich bin
doch auf das beschränkt, was ich vor mir habe. Enthüllt mir dieses
selbst innerhalb meines Denkens seine Gesetze nicht, dann hört
meine Wissenschaft eben auf. Von dem Erraten der Pläne, die ein
außerhalb stehendes Wesen hatte, kann im wissenschaftlichen
Sinne nicht die Rede sein.
Am Ende des vorigen Jahrhunderts war die Ansicht wohl allgemein noch
die herrschende, daß es eine Wissenschaft als Erklärung der
Lebenserscheinungen in dem Sinne, wie zum Beispiel die Physik eine
erklärende Wissenschaft ist, nicht gebe. Kant hat sogar derselben eine
philosophische Begründung zu geben versucht. Er hielt nämlich unseren
Verstand für einen solchen, der nur von dem Besonderen auf das
Allgemeine gehen könne. Das Besondere, die Einzeldinge, seien ihm
gegeben und daraus abstrahiere er seine allgemeinen Gesetze. Diese Art
des Denkens nennt Kant diskursiv und hält sie für die allein dem
Menschen zukommende. Daher gibt es nach seiner Ansicht nur von
den Dingen eine Wissenschaft, wo das Besondere an und für sich
genommen ganz begrifflos ist und nur unter einen abstrakten Begriff
subsumiert wird. Bei den Organismen fand Kant diese Bedingung nicht
erfüllt. Hier verrät die einzelne Erscheinung eine
zweckmäßige, das ist begriffsmäßige Einrichtung.
Das Besondere trägt Spuren des Begriffes an sich. Solche Wesen aber zu
begreifen fehlt uns, nach der Anschauung des Königsberger
Philosophen, jede Anlage. Wir können nur da verstehen, wo Begriff und
Einzelding getrennt sind; jener ein Allgemeines, dieses ein
Besonderes darstellt. Es bleibt uns also nichts übrig als unseren
Beobachtungen der Organismen die Idee der Zweckmäßigkeit
zugrunde zu legen; die Lebewesen zu behandeln, als ob ihren
Erscheinungen ein System von Absichten zugrunde liege. Kant also hat
die Unwissenschaftlichkeit hier gleichsam wissenschaftlich begründet.
Goethe hat nun gegen solch unwissenschaftliches Gebaren entschieden
protestiert. Er konnte nie einsehen, warum unser Denken nicht auch
ausreichen sollte, bei einem Organe eines Lebewesens zu fragen: woher
entspringt es, statt wozu dient es. Das lag in seiner Natur, die ihn
stets drängte, jedes Wesen in seiner inneren Vollkommenheit zu
erblicken. Es schien ihm eine unwissenschaftliche Betrachtungsweise,
welche sich nur um die äußere Zweckmäßigkeit eines
Organes, das heißt um dessen Nutzen für ein anderes kümmert. Was
soll das mit der inneren Wesenheit eines Dinges zu tun haben? Darauf
kommt es ihm nie an, wozu etwas nützt; stets nur darauf, wie es
sich entwickelt. Nicht als abgeschlossenes Ding will er ein
Objekt betrachten, sondern in seinem Werden, damit er erkenne,
welchen Ursprunges es ist. An Spinoza zog ihn besonders an, daß
dieser die äußerliche Zweckmäßigkeit der Organe und
Organismen nicht gelten ließ. Goethe forderte für das Erkennen
der organischen Welt eine Methode, die genau in dem Sinne
wissenschaftlich ist, wie es die ist, die wir auf die unorganische
Welt anwenden.
Zwar nicht in so genialer Weise wie bei ihm, aber nicht minder
dringend trat das Bedürfnis nach einer solchen Methode in der
Naturwissenschaft immer wieder auf. Heute zweifelt wohl nur mehr ein
sehr kleiner Bruchteil der Forscher an der Möglichkeit derselben. Ob
aber die Versuche, die man hie und da gemacht, eine solche
einzuführen, geglückt sind, das ist allerdings eine andere Frage.
Man hat da vor allem einen großen Irrtum begangen. Man glaubte
die Methode der unorganischen Wissenschaft in das Organismenreich
einfach herübernehmen zu sollen. Man hielt die hier angewendete
Methode überhaupt für die einzig wissenschaftliche und dachte, wenn
die Organik wissenschaftlich möglich sein soll, dann müsse sie
es genau in dem Sinne sein, in dem es die Physik zum Beispiel
ist. Die Möglichkeit aber, daß vielleicht der Begriff der
Wissenschaftlichkeit ein viel weiterer sei als: «die Erklärung der
Welt nach den Gesetzen der physikalischen Welt», vergaß man.
Auch heute ist man bis zu dieser Erkenntnis noch nicht durchgedrungen.
Statt zu untersuchen, worauf denn eigentlich die
Wissenschaftlichkeit der unorganischen Wissenschaften beruht,
und dann nach einer Methode zu suchen, die sich unter Festhaltung der
sich hieraus ergebenden Anforderungen auf die Lebewelt anwenden
läßt, erklärt man einfach die auf jener unteren Stufe des
Daseins gewonnenen Gesetze für universell.
Man sollte aber vor allem untersuchen, worauf das wissenschaftliche
Denken überhaupt beruht. Wir haben das in unserer Abhandlung getan.
Wir haben im vorigen Kapitel auch erkannt, daß die unorganische
Gesetzlichkeit nicht ein einzig Dastehendes ist, sondern nur ein
Spezialfall von aller möglichen Gesetzmäßigkeit überhaupt. Die
Methode der Physik ist einfach ein besonderer Fall einer
allgemeinen wissenschaftlichen Forschungsweise, wobei auf die Natur
der in Betracht kommenden Gegenstände, auf das Gebiet, dem diese
Wissenschaft dient, Rücksicht genommen ist. Wird diese Methode auf das
Organische ausgedehnt, dann löscht man die spezifische Natur des
letzteren aus. Statt das Organische seiner Natur gemäß zu
erforschen, drängt man ihm eine ihm fremde Gesetzmäßigkeit auf.
So aber, indem man das Organische leugnet, wird man es nie erkennen.
Ein solches wissenschaftliches Gebaren wiederholt einfach das, was es
auf einer niederen Stufe gewonnen, auf einer höheren; und während es
glaubt, die höhere Daseinsform unter die anderweitig fertiggestellten
Gesetze zu bringen, entschlüpft ihm diese Form unter seiner Bemühung,
weil es sie in ihrer Eigentümlichkeit nicht festzuhalten und zu
behandeln weiß.
Alles das kommt von der irrtümlichen Ansicht, die da glaubt, die
Methode einer Wissenschaft sei ein den Gegenständen derselben
Äußerliches, nicht von diesen, sondern von unserer Natur
Bedingtes. Man glaubt, man müsse in einer bestimmten Weise über die
Objekte denken, und zwar über alle - über das ganze Universum -
in gleicher Weise. Man stellt Untersuchungen an, die da zeigen sollen:
wir könnten vermöge der Natur unseres Geistes nur induktiv, nur
deduktiv usw. denken.
Dabei übersieht man aber, daß die Objekte die Betrachtungsweise,
die wir ihnen da vindizieren wollen, vielleicht gar nicht vertragen.
Daß der Vorwurf, den wir der organischen Naturwissenschaft
unserer Tage machen: sie übertrage auf die organische Natur nicht das
Prinzip wissenschaftlicher Betrachtungsweise überhaupt, sondern das
der unorganischen Natur, vollauf berechtigt ist, lehrt uns ein Blick
auf die Ansichten des gewiß bedeutendsten der naturforschenden
Theoretiker der Gegenwart, Haeckels.
Wenn er von allem wissenschaftlichen Bestreben fordert, daß «der
ursächliche Zusammenhang der Erscheinungen überall zur Geltung
komme», wenn er sagt: «Wenn die psychische Mechanik nicht so
unendlich zusammengesetzt wäre, wenn wir imstande wären, auch die
geschichtliche Entwicklung der psychischen Funktionen vollständig zu
übersehen, so würden wir sie alle in eine mathematische Seelenformel
bringen können», so sieht man daraus deutlich, was er will: die
gesamte Welt nach der Schablone der physikalischen Methode
behandeln.
Diese Forderung liegt aber auch dem Darwinismus nicht in seiner
ursprünglichen Gestalt, sondern in seiner heutigen Deutung zugrunde.
Wir haben gesehen, daß in der unorganischen Natur einen Vorgang
erklären heißt: sein gesetzmäßiges Hervorgehen aus
anderen sinnenfälligen Wirklichkeiten zu zeigen, ihn von Gegenständen,
die wie er der sinnlichen Welt angehören, ableiten. Wie
verwendet die heutige Organik aber das Prinzip der Anpassung
und des Kampfes ums Dasein, die beide als der Ausdruck
eines Tatbestandes von uns gewiß nicht angezweifelt werden
sollen? Man glaubt geradezu den Charakter einer bestimmten Art aus den
äußeren Verhältnissen, in denen sie gelebt, ebenso ableiten zu
können, wie etwa die Erwärmung eines Körpers aus den auffallenden
Sonnenstrahlen. Man vergißt vollständig, daß man jenen
Charakter seinen inhaltsvollen Bestimmungen nach nie als eine Folge
dieser Verhältnisse aufweisen kann, Die Verhältnisse mögen einen
bestimmenden Einfluß haben, eine erzeugende Ursache sind
sie nicht. Wir sind wohl imstande zu sagen: Unter dem Eindrucke dieses
oder jenes Tatbestandes mußte sich eine Art so entwickeln,
daß sich dieses oder jenes Organ besonders ausbildete; das
Inhaltliche aber, das Spezifisch-Organische läßt sich aus
äußeren Verhältnissen nicht ableiten. Ein organisches Wesen
hätte die wesentlichen Eigenschaften abc; nun ist es unter dem
Einflusse bestimmter äußerer Verhältnisse zur Entwicklung
gelangt. Daher haben seine Eigenschaften die besondere Gestalt a'
b' c' angenommen. Wenn wir diese Einflüsse in Erwägung ziehen, so
werden wir begreifen, daß sich a in der Form von a'
entwickelt hat, b in b', c in c'. Aber die
spezifische Natur des a, b und c kann sich uns
nimmermehr als Ergebnis äußerer Verhältnisse ergeben.
Man muß vor allem sein Denken darauf richten: woher nehmen wir
denn den Inhalt desjenigen Allgemeinen, als dessen Spezialfall wir das
einzelne organische Wesen ansehen? Wir wissen ganz gut, daß die
Spezialisierung von der Einwirkung von außen kommt, Aber die
spezialisierte Gestalt selbst müssen wir aus einem inneren Prinzip
ableiten. Daß sich gerade diese besondere Form entwickelt hat,
darüber gewinnen wir Aufschluß, wenn wir die Umgebung eines
Wesens studieren. Nun aber ist diese besondere Form doch an und für
sich etwas; wir erblicken sie mit gewissen Eigenschaften. Wir sehen,
worauf es ankommt. Es tritt der äußeren Erscheinung ein in sich
gestalteter Inhalt gegenüber, der uns das an die Hand gibt, was wir
brauchen, um jene Eigenschaften abzuleiten. In der unorganischen Natur
nehmen wir eine Tatsache wahr und suchen behufs ihrer Erklärung eine
zweite, eine dritte und so weiter; und das Ergebnis ist, jene erste
erscheint uns als die notwendige Folge der letzteren. In der
organischen Welt ist es nicht so. Hier bedürfen wir außer den
Tatsachen noch eines Faktors. Wir müssen den Einwirkungen der
äußeren Umstände etwas zugrunde legen, das sich nicht passiv von
jenen bestimmen läßt, sondern sich aktiv aus sich selbst unter
dem Einflusse jener bestimmt.
Was ist aber diese Grundlage? Es kann doch nichts sein als das, was im
Besonderen erscheint in der Form der Allgemeinheit. Im
Besonderen erscheint aber immer ein bestimmter Organismus. Jene
Grundlage ist daher ein Organismus in der Form der Allgemeinheit. Ein
allgemeines Bild des Organismus, das alle besonderen Formen
desselben in sich begreift.
Wir wollen nach dem Vorgange Goethes diesen allgemeinen Organismus
Typus nennen. Mag das Wort Typus seiner sprachlichen
Entwicklung nach was immer noch bedeuten; wir gebrauchen es in diesem
Goetheschen Sinne und denken dabei nie etwas anderes als das
Angegebene. Dieser Typus ist in keinem Einzelorganismus in aller
seiner Vollkommenheit ausgebildet. Nur unser vernunftgemäßes
Denken ist imstande, sich desselben zu bemächtigen, indem es ihn als
allgemeines Bild aus den Erscheinungen abzieht. Der Typus ist somit
die Idee des Organismus: die Tierheit im Tiere, die allgemeine Pflanze
in der speziellen.
Man darf sich unter diesem Typus nichts Festes vorstellen. Er hat
ganz und gar nichts zu tun mit dem, was Agassiz, Darwins bedeutendster
Bekämpfer, einen «verkörperten Schöpfungsgedanken Gottes» nannte. Der
Typus ist etwas durchaus Flüssiges, aus dem sich alle besonderen Arten
und Gattungen, die man als Untertypen, spezialisierte Typen ansehen
kann, ableiten lassen. Der Typus schließt die Deszendenztheorie
nicht aus. Er widerspricht nicht der Tatsache, daß sich
die organischen Formen auseinander entwickeln. Er ist nur der
vernunftgemäße Protest dagegen, daß die organische
Entwicklung rein in den nacheinander auftretenden, tatsächlichen
(sinnlich wahrnehmbaren) Formen aufgeht. Er ist dasjenige, was dieser
ganzen Entwicklung zugrunde liegt. Er ist es, der den Zusammenhang in
dieser unendlichen Mannigfaltigkeit herstellt. Er ist das Innerliche
von dem, was wir als äußerliche Formen der Lebewesen erfahren.
Die Darwinsche Theorie setzt den Typus voraus.
Der Typus ist der wahre Urorganismus; je nachdem er sich ideell
spezialisiert: Urpflanze oder Urtier. Kein einzelnes,
sinnlichwirkliches Lebewesen kann es sein. Was Haeckel oder andere
Naturalisten als Urform ansehen, ist schon eine besondere Gestalt; ist
eben die einfachste Gestalt des Typus. Daß er zeitlich zuerst
in einfachster Form auftritt, bedingt nicht, daß die
zeitlichfolgenden Formen sich als Folge der zeitlichvorangehenden
ergeben. Alle Formen ergeben sich als Folge des Typus,
die erste wie die letzte sind Erscheinungen desselben. Ihn müssen
wir einer wahren Organik zugrunde legen und nicht einfach die
einzelnen Tier- und Pflanzenarten auseinander ableiten wollen. Wie
ein roter Faden zieht sich der Typus durch alle Entwicklungsstufen
der organischen Welt. Wir müssen ihn festhalten und dann mit ihm
dieses große, verschiedengestaltige Reich durchwandern. Dann
wird es uns verständlich. Sonst zerfällt es uns wie die ganze übrige
Erfahrungswelt in eine zusammenhanglose Menge von Einzelheiten. Ja
selbst wenn wir glauben, Späteres, Komplizierteres,
Zusammengesetzteres auf eine ehemalige einfachere Form
zurückzuführen und in dem letzteren ein Ursprüngliches zu haben, so
täuschen wir uns, denn wir haben nur Spezialform von Spezialform
abgeleitet.
Friedrich Theodor Vischer hat einmal in bezug auf die Darwinsche
Theorie die Ansicht ausgesprochen, daß sie eine Revision unseres
Zeitbegriffes notwendig mache. Wir sind hier an einem Punkt
angekommen, der uns ersichtlich macht, in welchem Sinne eine solche
Revision zu geschehen hätte. Sie hätte zu zeigen, daß die
Herleitung eines Späteren aus einem Früheren keine Erklärung ist,
daß das Zeitlich-Erste kein Prinzipiell-Erstes ist. Alle
Ableitung hat aus einem Prinzipiellen zu geschehen und höchstens wäre
zu zeigen, welche Faktoren wirksam waren, daß sich die eine
Wesensart zeitlich vor der anderen entwickelt hat.
Der Typus spielt in der organischen Welt dieselbe Rolle wie das
Naturgesetz in der unorganischen. Wie dieses uns die Möglichkeit an
die Hand gibt, jedes einzelne Geschehen als das Glied eines
großen Ganzen zu erkennen, so setzt uns der Typus in die Lage,
den einzelnen Organismus als eine besondere Form der Urgestalt
anzusehen.
Wir haben bereits darauf hingedeutet, daß der Typus keine
abgeschlossene eingefrorene Begriffsform ist, sondern daß er
flüssig ist, daß er die mannigfaltigsten Gestaltungen annehmen
kann, Die Zahl dieser Gestaltungen ist eine unendliche, weil
dasjenige, wodurch die Urform eine einzelne, besondere ist, für die
Urform selbst keine Bedeutung hat. Es ist gerade so, wie ein
Naturgesetz unendlich viele einzelne Erscheinungen regelt, weil die
speziellen Bestimmungen, die in dem einzelnen Falle auftreten, mit
dem Gesetze nichts zu tun haben.
Doch.handelt es sich um etwas wesentlich anderes als in der
unorganischen Natur. Dort handelte es sich darum, zu zeigen, daß
eine bestimmte sinnenfällige Tatsache so und nicht anders erfolgen
kann,weil dieses oder jenes Naturgesetz besteht.Jene Tatsache
und das Gesetz stehen sich als zweigetrennte Faktoren gegenüber, und
es bedarf weiter gar keiner geistigen Arbeit, als daß wir uns,
wenn wir eines Faktums ansichtig werden, des Gesetzes erinnern, das
maßgebend ist. Bei einem Lebewesen und seinen Erscheinungen ist
das anders. Da handelt es sich darum, die einzelne Form, die in
unserer Erfahrung auftritt, aus dem Typus heraus, den wir
erfaßt haben müssen, zu entwickeln. Wir müssen einen geistigen
Prozeß wesentlich anderer Art vollziehen. Wir dürfen den Typus
nicht als etwas Fertiges wie das Naturgesetz einfach der einzelnen
Erscheinung gegenüberstellen.
Daß jeder Körper, wenn er durch keine nebensächlichen Umstände
gehindert wird, so zur Erde fällt, daß sich die in den
aufeinanderfolgenden Zeiten durchlaufenen Wege verhalten wie 1 :3:5:7
usw., ist ein einmal fertiges, bestimmtes Gesetz. Es ist ein
Urphänomen, welches auftritt, wenn zwei Massen (Erde, Körper
auf derselben) in gegenseitige Beziehung treten. Tritt nun ein
spezieller Fall in das Feld unserer Beobachtung ein, auf den dieses
Gesetz Anwendung findet, so brauchen wir nur die sinnlich
beobachtbaren Tatsachen in jener Beziehung zu betrachten, die das
Gesetz an die Hand gibt, und wir werden es bestätigt finden. Wir
führen den einzelnen Fall auf das Gesetz zurück. Das Naturgesetz
spricht den Zusammenhang der in der Sinnenwelt getrennten Tatsachen
aus; es bleibt aber als solches gegenüber der einzelnen Erscheinung
bestehen. Beim Typus müssen wir aus der Urform jenen besonderen Fall,
der uns vorliegt, heraus entwickeln. Wir dürfen den Typus der
einzelnen Gestalt nicht gegenüberstellen, um zu sehen, wie er die
letztere regelt; wir müssen sie aus demselben hervorgehen
lassen. Das Gesetz beherrscht die Erscheinung als ein über ihr
Stehendes; der Typus fließt in das einzelne Lebewesen ein; er
identifiziert sich mit ihm.
Eine Organik muß daher, wenn sie in dem Sinne Wissenschaft sein
will, wie es die Mechanik oder die Physik ist, den Typus als
allgemeinste Form und dann auch in verschiedenen ideellen
Sondergestalten zeigen. Die Mechanik ist ja auch eine Zusammenstellung
der verschiedenen Naturgesetze, wobei die realen Bedingungen durchweg
hypothetisch angenommen sind. Nicht anders müßte es in der
Organik sein. Auch hier müßte man hypothetisch bestimmte
Formen, in denen sich der Typus ausbildet, annehmen, wenn man eine
rationelle Wissenschaft haben wollte. Man müßte dann zeigen, wie
diese hypothetischen Gestaltungen stets auf eine bestimmte, unserer
Beobachtung vorliegende Form gebracht werden können.
Wie wir im Unorganischen eine Erscheinung auf ein Gesetz
zurückführen, so entwickeln wir hier eine Spezialform aus der
Urform. Nicht durch äußerliche Gegenüberstellung von Allgemeinem
und Besonderem kommt die organische Wissenschaft zustande, sondern
durch Entwicklung der einen Form aus der andern.
Wie die Mechanik ein System von Naturgesetzen ist, so soll die Organik
eine Folge von Entwicklungsformen des Typus sein. Nur daß wir
dort die einzelnen Gesetze zusammenstellen und zu einem Ganzen
ordnen, während wir hier die einzelnen Formen lebendig auseinander
hervorgehen lassen müssen.
Da ist ein Einwand möglich. Wenn die typische Form etwas durchaus
Flüssiges ist, wie ist es da überhaupt möglich, eine Kette
aneinandergereihter besonderer Typen als den Inhalt einer Organik
aufzustellen? Man kann sich wohl vorstellen, daß man in jedem
besonderen Falle, den man beobachtet, eine spezielle Form des Typus
erkennt, aber man kann doch zum Behufe der Wissenschaft nicht
bloß solche wirklich beobachtete Fälle zusammentragen.
Man kann aber etwas anderes. Man kann den Typus seine Reihe der
Möglichkeiten durchlaufen lassen und dann immer diese oder jene Form
(hypothetisch) festhalten. So erlangt man eine Reihe von gedanklich
aus dem Typus abgeleiteten Formen als den Inhalt einer rationellen
Organik.
Es ist eine Organik möglich, die ganz in dem strengsten Sinne
Wissenschaft ist wie die Mechanik. Ihre Methode ist nur eine andere.
Die Methode der Mechanik ist die beweisende. Jeder Beweis stützt sich
auf eine gewisse Regel. Es besteht immer eine bestimmte Voraussetzung
(d. h. es sind erfahrungsmögliche Bedingungen angegeben) und dann wird
bestimmt, was eintritt, wenn diese Voraussetzungen statthaben. Wir
begreifen dann eine einzelne Erscheinung unter Zugrundelegung des
Gesetzes. Wir denken so: unter diesen Bedingungen tritt eine
Erscheinung ein; die Bedingungen sind da, deswegen muß die
Erscheinung eintreten. Das ist unser Gedankenprozeß, wenn wir an
ein Ereignis der unorganischen Welt herantreten, um es zu erklären.
Das ist die beweisende Methode. Sie ist wissenschaftlich, weil sie
eine Erscheinung vollständig mit dem Begriffe durchtränkt, weil sich
durch sie Wahrnehmung und Denken decken.
Mit dieser beweisenden Methode können wir aber in der Wissenschaft des
Organischen nichts anfangen. Der Typus bestimmt eben nicht, daß
unter gewissen Bedingungen eine bestimmte Erscheinung eintritt; er
setzt nichts über ein Verhältnis von Gliedern, die einander fremd,
äußerlich gegenüberstehen, fest. Er bestimmt nur die
Gesetzmäßigkeit seiner eigenen Teile. Er weist nicht wie
das Naturgesetz über sich hinaus. Es können die besonderen organischen
Formen also nur aus der allgemeinen Typusgestalt heraus
entwickelt werden, und die in der Erfahrung auftretenden
organischen Wesen müssen mit irgendeiner solchen Ableitungsform des
Typus zusammenfallen. An die Stelle der beweisenden Methode muß
hier die entwickelnde treten. Nicht daß die äußeren
Bedingungen in dieser Weise aufeinander wirken und daher ein
bestimmtes Ergebnis haben, wird hier festgestellt, sondern daß
sich unter bestimmten äußeren Verhältnissen eine besondere
Gestalt aus dem Typus herausgebildet hat. Das ist der durchgreifende
Unterschied zwischen unorganischer und organischer Wissenschaft.
Keiner Forschungsweise liegt er in so konsequenter Weise zugrunde wie
der Goetheschen. Niemand hat so wie Goethe erkannt, daß eine
organische Wissenschaft ohne allen dunklen Mystizismus, ohne
Teleologie, ohne Annahme besonderer Schöpfungsgedanken möglich sein
muß. Keiner aber auch hat bestimmter die Zumutung von sich
gewiesen, mit den Methoden der unorganischen Naturwissenschaft hier
etwas anzufangen.
Der Typus ist, wie wir gesehen haben, eine vollere wissenschaftliche
Form als das Urphänomen. Er setzt auch eine intensivere Tätigkeit
unseres Geistes voraus als jenes. Bei dem Nachdenken über die Dinge
der unorganischen Natur gibt uns die Wahrnehmung der Sinne den Inhalt
an die Hand. Es ist unsere sinnliche Organisation, die uns hier schon
das liefert, was wir im Organischen nur durch den Geist empfangen. Um
Süß, Sauer, Wärme, Kälte, Licht, Farbe usw. wahrzunehmen,
braucht man nur gesunde Sinne. Wir haben da im Denken zu dem
Stoffe nur die Form zu finden. Im Typus aber sind Inhalt und Form
enge aneinander gebunden. Deshalb bestimmt der Typus ja nicht rein
formell wie das Gesetz den Inhalt, sondern er durchdringt ihn
lebendig, von innen heraus, als seinen eigenen. An unseren Geist tritt
die Aufgabe heran, zugleich mit dem Formellen produktiv an der
Erzeugung des Inhaltlichen teilzunehmen.
Man hat von jeher eine Denkungsart, welcher der Inhalt mit dem
Formellen in unmittelbarem Zusammenhange erscheint, eine intuitive
genannt.
Wiederholt tritt die Intuition als wissenschaftliches Prinzip auf.
Der englische Philosoph Reid nennt eine Intuition, daß wir aus
der Wahrnehmung der äußeren Erscheinungen (Sinneseindrücke)
zugleich die Überzeugung von dem Sein derselben schöpften.
Jacobi vermeinte, in unserem Gefühle von Gott sei uns nicht nur dieses
selbst, sondern zugleich die Bürgschaft dafür gegeben, daß Gott
ist. Auch dieses Urteil nennt man intuitiv. Das
Charakteristische ist, wie man sieht, immer, daß in dem
Inhaltlichen stets mehr gegeben sein soll als dieses selbst, daß
man von einer gedanklichen Bestimmung weiß, ohne Beweis,
bloß durch unmittelbare Überzeugung. Man glaubt, daß
man die Gedankenbestimmungen «Sein» usw. von dem
Wahrnehmungsstoffe nicht beweisen zu müssen glaubt, sondern daß
man sie in ungetrennter Einheit mit dem Inhalte besitzt.
Das ist aber beim Typus wirklich der Fall. Daher kann er kein Mittel
des Beweises liefern, sondern bloß die Möglichkeit an die Hand
geben, jede besondere Form aus sich zu entwickeln. Unser Geist
muß demnach in dem Erfassen des Typus viel intensiver wirken als
beim Erfassen des Naturgesetzes. Er muß mit der Form den Inhalt
erzeugen. Er muß eine Tätigkeit auf sich nehmen, die in der
unorganischen Naturwissenschaft die Sinne besorgen und die wir
Anschauung nennen. Auf dieser höheren Stufe muß also der - Geist
selbst anschauend sein. Unsere Urteilskraft muß denkend
anschauen und anschauend denken. Wir haben es hier, wie
Goethe zum erstenmal auseinandergesetzt, mit einer anschauenden
Urteilskraft zu tun. Goethe hat hiermit im menschlichen Geiste das
als notwendige Auffassungsform nachgewiesen, wovon Kant bewiesen
haben wollte, daß es dem Menschen seiner ganzen Anlage nach
nicht zukomme.
Vertritt der Typus in der organischen Natur das Naturgesetz
(Urphänomen) der unorganischen, so vertritt die Intuition
(anschauende Urteilskraft) die beweisende (reflektierende)
Urteilskraft. Wie man geglaubt hat, dieselben Gesetze auf die
organische Natur anwenden zu können, die für eine niedere
Erkenntnisstufe maßgebend sind, so vermeinte man auch, dieselbe
Methode gelte hier wie dort. Beides ist ein Irrtum.
Man hat die Intuition oft sehr geringschätzend in der Wissenschaft
behandelt. Man hat es für einen Mangel des Goetheschen Geistes
angesehen, daß er mit der Intuition wissenschaftliche Wahrheiten
erreichen wollte. Was auf intuitivem Wege erreicht wird, halten viele
zwar für sehr wichtig, wenn es sich um eine wissenschaftliche
Entdeckung handelt. Da, sagt man, führt ein Einfall oft
weiter als methodisch geschultes Denken. Denn man nennt es ja häufig
Intuition, wenn jemand durch Zufall ein Richtiges getroffen, von
dessen Wahrheit sich der Forscher erst auf Umwegen überzeugt. Stets
wird aber geleugnet, daß die Intuition selbst ein Prinzip der
Wissenschaft sein könne. Was der Intuition beigefallen, müsse
nachträglich erst erwiesen werden - so denkt man - wenn es
wissenschaftlichen Wert haben soll.
So hat man auch Goethes wissenschaftliche Errungenschaften für
geistreiche Einfälle gehalten, die erst nachher durch die strenge
Wissenschaft ihre Beglaubigung erhalten haben.
Für die organische Wissenschaft ist aber die Intuition die richtige
Methode. Aus unseren Ausführungen geht, denken wir, ganz deutlich
hervor, daß Goethes Geist gerade deshalb, weil er auf Intuition
angelegt war, im Organischen den rechten Weg gefunden hat. Die der
Organik eigene Methode fiel zusammen mit der Konstitution seines
Geistes. Dadurch wurde ihm nur um so klarer, inwiefern sie sich von
der unorganischen Naturwissenschaft unterscheidet. Das eine wurde ihm
am andern klar. Er zeichnete daher auch mit scharfen Strichen das
Wesen des Unorganischen.
Zu der geringschätzenden Art, mit der man die Intuition behandelt,
trägt nicht wenig bei, daß man ihren Errungenschaften nicht
jenen Grad von Glaubwürdigkeit beilegen zu können meint wie den der
beweisenden Wissenschaften. Man nennt oft allein, was man bewiesen
hat, Wissen, alles übrige Glaube.
Man muß bedenken, daß die Intuition etwas ganz anderes
bedeutet innerhalb unserer wissenschaftlichen Richtung, die
davon überzeugt ist, daß wir im Denken den Kern der Welt
wesenhaft erfassen, und jener, die den letzteren in ein uns
unerforschbares Jenseits verlegt. Wer in der uns vorliegenden Welt,
soweit wir sie entweder erfahren oder mit unserem Denken
durchdringen, nichts weiter sieht als einen Abglanz, ein Bild von
einem Jenseitigen, einem Unbekannten, Wirkenden, das hinter dieser
Hülle nicht nur für den
ersten Blick, sondern aller wissenschaftlichen Forschung zum
Trotz verborgen bleibt, der kann allerdings nur in der beweisenden
Methode einen Ersatz für die mangelnde Einsicht in das Wesen
der Dinge erblicken. Da er nicht bis zu der Ansicht durchdringt,
daß eine Gedankenverbindung unmittelbar durch den im Gedanken
gegebenen wesenhaften Inhalt, also durch die Sache selbst
zustande kommt, so glaubt er sie nur dadurch stützen zu können,
daß sie mit einigen Grundüberzeugungen (Axiomen) im Einklange
steht, die so einfach sind, daß sie eines Beweises weder fähig
sind, noch eines solchen bedürfen. Wird ihm dann eine
wissenschaftliche Behauptung ohne Beweis gegeben, ja eine solche, die
ihrer ganzen Natur nach die beweisende Methode ausschließt, dann
erscheint sie ihm als von außen aufgedrängt; es tritt eine
Wahrheit an ihn heran, ohne daß er erkennt, welches die Gründe
ihrer Gültigkeit sind. Er glaubt, nicht ein Wissen, nicht eine
Einsicht in die Sache zu haben, er glaubt, er könne sich nur
einem Glauben hingeben, daß außerhalb seines
Denkvermögens irgendwelche Gründe für ihre Gültigkeit bestehen.
Unsere Weltansicht ist der Gefahr nicht ausgesetzt, daß sie die
Grenzen der beweisenden Methode zugleich als die Grenzen
wissenschaftlicher Überzeugung ansehen muß. Sie hat uns zu der
Ansicht geführt, daß der Kern der Welt in unser Denken
einfließt, daß wir nicht nur über das Wesen der
Welt denken, sondern daß das Denken ein Zusammengehen mit dem
Wesen der Wirklichkeit ist. Uns wird mit der Intuition nicht eine
Wahrheit von außen aufgedrängt, weil es für unseren Standpunkt
ein Außen und Innen in jener Weise, wie es die von uns eben
gekennzeichnete, der unserigen entgegengesetzte wissenschaftliche
Richtung annimmt, nicht gibt. Für uns ist die Intuition ein
unmittelbares Innesein, ein Eindringen in die Wahrheit, die uns alles
gibt, was überhaupt in Ansehung ihrer in Betracht kommt. Sie geht ganz
in dem auf, was uns in unserem intuitiven Urteile gegeben ist. Das
Charakteristische, auf das es beim Glauben ankommt, daß
uns nur die fertige Wahrheit gegeben ist und nicht die Gründe, und
daß uns der durchdringende Einblick in die in Betracht kommende
Sache abgeht, fehlt hier gänzlich. Die auf dem Wege der Intuition
gewonnene Einsicht ist gerade so wissenschaftlich wie die
bewiesene.
Jeder Einzelorganismus ist die Ausgestaltung des Typus in einer
besonderen Form. Er ist eine Individualität, die sich aus einem
Zentrum heraus selbst regelt und bestimmt. Er ist eine in sich
geschlossene Ganzheit, was in der unorganischen Natur erst der
Kosmos ist.
Das Ideal der unorganischen Wissenschaft ist: die Totalität aller
Erscheinungen als einheitliches System zu erfassen, damit wir jeder
Einzelerscheinung mit dem Bewußtsein gegenübertreten: wir
erkennen sie als Glied des Kosmos. In der organischen Wissenschaft
muß dagegen Ideal sein, in dem Typus und seinen
Erscheinungsformen dasjenige in möglichster Vollkommenheit zu haben,
was wir in der Reihe der Einzelwesen sich entwickeln sehen. Die
Hindurchführung des Typus durch alle Erscheinungen ist hier das
Maßgebende. In der unorganischen Wissenschaft besteht das
System, in der Organik die Vergleichung (jeder einzelnen
Form mit dem Typus).
Die Spektralanalyse und die Vervollkommnung der Astronomie dehnen die
auf dem beschränkten Gebiete des Irdischen gewonnenen Wahrheiten auf
das Weltganze aus. Damit nähern sie sich dem ersten Ideal. Das zweite
wird erfüllt werden, wenn die von Goethe angewendete vergleichende
Methode in ihrer Tragweite erkannt wird.
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