15. Die unorganische Natur
Als die einfachste Art von Naturwirksamkeit erscheint uns jene, bei
der ein Vorgang ganz das Ergebnis von Faktoren ist, die einander
äußerlich gegenüberstehen. Da ist ein Ereignis oder eine
Beziehung zwischen zwei Objekten nicht bedingt von einem Wesen, das
sich in den äußeren Erscheinungsformen darlebt, von einer
Individualität, die ihre inneren Fähigkeiten und ihren Charakter in
einer Wirkung nach außen kundgibt. Sie sind allein dadurch
hervorgerufen, daß ein Ding in seinem Geschehen einen gewissen
Einfluß auf das andere ausübt, seine eigenen Zustände auf
andere überträgt. Es erscheinen die Zustände des einen Dinges als
Folge jener des anderen. Das System von Wirksamkeiten, die in dieser
Weise erfolgen, daß immer eine Tatsache die Folge von anderen
ihr gleichartigen ist, nennt man unorganische Natur.
Es hängt hier der Verlauf eines Vorganges oder das Charakteristische
eines Verhältnisses von äußeren Bedingungen ab; die Tatsachen
tragen Merkmale an sich, die das Resultat jener Bedingungen sind.
Ändert sich die Art, in der diese äußeren Faktoren
zusammentreten, so ändert sich natürlich auch die Folge ihres
Zusammenbestehens; es ändert sich das herbeigeführte Phänomen.
Wie ist nun diese Weise des Zusammenbestehens bei der unorganischen
Natur, so wie sie unmittelbar in das Feld unserer Beobachtungen
eintritt? Sie trägt ganz jenen Charakter, den wir oben als den der
unmittelbaren Erfahrung kennzeichneten. Wir haben es hier nur
mit einem Spezialfall jener «Erfahrung im allgemeinen» zu tun. Es
kommt hier auf die Verbindungen der sinnenfälligen Tatsachen an. Diese
Verbindungen aber sind es gerade, die uns in der Erfahrung unklar,
undurchsichtig erscheinen. Eine Tatsache a tritt uns gegenüber,
gleichzeitig aber zahlreiche andere. Wenn wir unseren Blick über die
hier gebotene Mannigfaltigkeit schweifen lassen, sind wir völlig im
unklaren, welche von den anderen Tatsachen mit der in Rede stehenden a
in näherer, welche in entfernterer Beziehung stehen. Es können
solche da sein, ohne die das Ereignis gar nicht eintreten kann; und
wieder solche, die es nur modifizieren, ohne die es also ganz wohl
eintreten könnte, nur hätte es dann unter anderen Nebenumständen eine
andere Gestalt.
Damit ist uns zugleich der Weg gewiesen, den das Erkennen auf diesem
Felde zu nehmen hat. Genügt uns die Kombination der Tatsachen in der
unmittelbaren Erfahrung nicht, dann müssen wir zu einer anderen, unser
Erklärungsbedürfnis befriedigenden fortschreiten. Wir haben
Bedingungen zu schaffen, auf daß uns ein Vorgang in
durchsichtiger Klarheit als die notwendige Folge dieser Bedingungen
erscheine.
Wir erinnern uns, warum eigentlich das Denken in unmittelbarer
Erfahrung bereits sein Wesen enthält. Weil wir innerhalb, nicht
außerhalb jenes Prozesses stehen, der aus den einzelnen
Gedankenelementen Gedankenverbindungen schafft. Dadurch ist uns nicht
allein der vollendete Prozeß, das Bewirkte gegeben, sondern das
Wirkende. Und darauf kommt es an, daß wir in irgendeinem
Vorgange der Außenwelt, der uns gegenübertritt, zuerst die
treibenden Gewalten sehen, die ihn vom Mittelpunkte des Weltganzen
heraus an die Peripherie bringen. Die Undurchsichtigkeit und
Unklarheit einer Erscheinung oder eines Verhältnisses der Sinnenwelt
kann nur überwunden werden, wenn wir ganz genau ersehen, daß sie
das Ergebnis einer bestimmten Tatsachenkonstellation sind. Wir
müssen wissen, der Vorgang, den wir jetzt sehen, entsteht durch das
Zusammenwirken dieses und jenes Elementes der Sinnenwelt. Dann
muß eben die Weise dieses Zusammenwirkens unserm Verstande
vollkommen durchdringlich sein. Das Verhältnis, in das die Tatsachen
gebracht werden, muß ein ideelles, ein unserem Geiste
gemäßes sein. Die Dinge werden sich natürlich, in den
Verhältnissen, in die sie durch den Verstand gebracht werden,
ihrer Natur gemäß verhalten.
Wir sehen sogleich, was damit gewonnen wird. Blicke ich aufs
Geratewohl in die Sinnenwelt, so sehe ich Vorgänge, die durch das
Zusammenwirken so vieler Faktoren hervorgebracht sind, daß es
mir unmöglich ist, unmittelbar zu sehen, was eigentlich als Wirkendes
hinter dieser Wirkung steht. Ich sehe einen Vorgang und zugleich die
Tatsachen a, b, c und d. Wie soll ich da sogleich wissen,
welche von diesen Tatsachen mehr, welche weniger an dem Vorgang
beteiligt sind? Die Sache wird durchsichtig, wenn ich erst
untersuche, welche von den vier Tatsachen unbedingt notwendig
sind, damit der Prozeß überhaupt eintrete. Ich finde zum
Beispiel, daß a und c unbedingt nötig sind. Hernach finde
ich, daß ohne d der Prozeß zwar eintrete, aber mit
erheblicher Änderung, wogegen ich ersehe, daß b gar
keine wesentliche Bedeutung hat und auch durch anderes ersetzt werden
könnte. Im Vorstehenden soll I die Gruppierung der Elemente für
die bloße Sinneswahrnehmung, II die für den Geist
symbolisch dargestellt werden. Der Geist gruppiert also die Tatsachen
der unorganischen Welt so, daß er in einem Geschehen oder einer
Beziehung die Folge der Verhältnisse der Tatsachen erblickt. So bringt
der Geist die Notwendigkeit in die Zufälligkeit. Wir wollen das an
einigen Beispielen klarlegen. Wenn ich ein Dreieck a b c vor
mir habe, so ersehe ich auf den ersten Blick wohl nicht, daß die
Summe der drei Winkel stets einem gestreckten gleichkommt. Es wird
dies sogleich klar, wenn ich die Tatsachen in folgender Weise
gruppiere. Aus den nachstehenden Figuren ergibt sich wohl sogleich,
daß die Winkel a'= a; b'= b sind.
(AB und CD respektive A'B' und C'D' sind parallel).
Habe ich nun ein Dreieck vor mir und ziehe ich durch die Spitze C
eine parallele Gerade zur Grundlinie AB, so finde ich, wenn
ich obiges anwende, in bezug auf die Winkel a' = a; b' = b.
Da nun c sich selbst gleich ist, so sind notwendig alle
drei Dreieckswinkel zusammen einem gestreckten Winkel gleich.
Ich habe hier einen komplizierten Tatsachenzusammenhang dadurch
erklärt, daß ich ihn auf solche einfache Tatsachen
zurückführte, durch die aus dem Verhältnisse, das dem Geiste gegeben
ist, die entsprechende Beziehung mit Notwendigkeit aus der Natur der
gegebenen Dinge folgt.
Ein anderes Beispiel ist folgendes: Ich werfe einen Stein in
waagerechter Richtung. Er beschreibt eine Bahn, die wir in der Linie
ll' abgebildet haben. Wenn ich mir die treibenden Kräfte betrachte, die
hier in Betracht kommen, so finde ich: 1. die Stoßkraft, die ich
ausgeübt; 2. die Kraft, mit der die Erde den Stein anzieht; 3. die
Kraft des Luftwiderstandes.
Ich finde bei näherer Überlegung, daß die beiden ersten Kräfte
die wesentlichen, die Eigentümlichkeit der Bahn bewirkenden
sind, während die dritte nebensächlich ist. Wirkten nur die beiden
ersten, so beschriebe der Stein die Bahn LL'. Die letztere
finde ich, wenn ich von der dritten Kraft ganz absehe und nur die
beiden ersten in Zusammenhang bringe. Das tatsächlich
auszuführen, ist weder möglich noch nötig. Ich kann nicht allen
Widerstand beseitigen. Ich brauche dafür aber nur das Wesen der
beiden ersten Kräfte gedanklich zu erfassen, sie dann in die
notwendige Beziehung ebenfalls nur gedanklich zu bringen; und es
ergibt sich die Bahn LL' als jene, die notwendig erfolgen
müßte, wenn nur die zwei Kräfte zusammenwirkten.
In dieser Weise löst der Geist alle Phänomene der unorganischen
Natur in solche auf wo ihm die Wirkung unmittelbar mit Notwendigkeit
aus dem Bewirkenden hervorzugehen scheint.
Bringt man dann, wenn man das Bewegungsgesetz des Steines infolge der
beiden ersten Kräfte hat, noch die dritte Kraft hinzu, so ergibt sich
die Bahn ll'. Weitere Bedingungen könnten die Sache noch mehr
komplizieren. Jeder zusammengesetzte Vorgang der Sinnenwelt erscheint
als ein Gewebe jener einfachen, vom Geiste durchdrungenen Tatsachen
und ist in dieselben auflösbar.
Ein solches Phänomen nun, bei dem der Charakter des Vorganges
unmittelbar aus der Natur der in Betracht kommenden Faktoren in
durchsichtig klarer Weise folgt, nennen wir ein Urphänomen oder
eine Grundtatsache.
Dieses Urphänomen ist identisch mit dem objektiven Naturgesetz. Denn
es ist in demselben nicht allein ausgesprochen, daß ein Vorgang
unter bestimmten Verhältnissen erfolgt ist, sondern daß er
erfolgen mußte. Man hat eingesehen, daß er bei der
Natur dessen, was da in Betracht kam, erfolgen mußte. Man
fordert heute so allgemein den äußeren Empirismus, da man
glaubt, mit jeder Annahme, die das empirisch Gegebene überschreitet,
tappe man im Unsichern herum. Wir sehen, daß wir ganz
innerhalb der Phänomene stehen bleiben können und doch das
Notwendige antreffen. Die induktive Methode, die heute vielfach
vertreten ist, kann das nie. Sie geht im wesentlichen in folgender
Weise vor. Sie sieht ein Phänomen, das unter gegebenen Bedingungen in
einer bestimmten Weise erfolgt. Ein zweites Mal sieht sie unter
ähnlichen Bedingungen dasselbe Phänomen eintreten. Daraus folgert sie,
daß ein allgemeines Gesetz bestehe, wonach dieses Ereignis
eintreten müsse, und spricht dieses Gesetz als solches aus. Eine
solche Methode bleibt den Erscheinungen vollkommen äußerlich.
Sie dringt nicht in die Tiefe. Ihre Gesetze sind Verallgemeinerungen
von einzelnen Tatsachen. Sie muß immer erst von den einzelnen
Tatsachen die Bestätigung der Regel abwarten. Unsere Methode
weiß, daß ihre Gesetze einfach Tatsachen sind, die aus dem
Wirrsal der Zufälligkeit herausgerissen und zu notwendigen gemacht
sind. Wir wissen, daß, wenn die Faktoren a und b da sind,
notwendig eine bestimmte Wirkung eintreten muß. Wir gehen nicht
über die Erscheinungswelt hinaus. Der Inhalt der Wissenschaft, wie
wir ihn denken, ist nichts weiter als objektives Geschehen. Geändert
ist nur die Form der Zusammenstellung der Fakten. Aber durch diese ist
man gerade einen Schritt tiefer in die Objektivität hineingedrungen,
als ihn die Erfahrung möglich macht. Wir stellen die Fakten so
zusammen, daß sie ihrer eigenen Natur und nur dieser
gemäß wirken und daß diese Wirkung nicht durch diese oder
jene Verhältnisse modifiziert werde.
Wir legen den größten Wert darauf, daß diese Ausführungen
überall gerechtfertigt werden können, wo man in den wirklichen Betrieb
der Wissenschaft blickt. Es widersprechen ihnen nur die irrtümlichen
Ansichten, die man über die Tragweite und die Natur der
wissenschaftlichen Sätze hat. Während sich viele unserer Zeitgenossen
mit ihren eigenen Theorien in Widerspruch versetzen, wenn sie
das Feld der praktischen Forschung betreten, ließe sich die
Harmonie aller wahren Forschung mit unseren Auseinandersetzungen in
jedem einzelnen Falle leicht nachweisen.
Unsere Theorie fordert für jedes Naturgesetz eine bestimmte
Form. Es setzt einen Zusammenhang von Tatsachen voraus und stellt
fest, daß, wenn derselbe irgendwo in der Wirklichkeit eintrifft,
ein bestimmter Vorgang statthaben muß.
Jedes Naturgesetz hat daher die Form: Wenn dieses Faktum mit jenem
zusammenwirkt, so entsteht diese Erscheinung ... Es wäre leicht
nachzuweisen, daß alle Naturgesetze wirklich diese Form haben:
Wenn zwei Körper von ungleicher Temperatur aneinander grenzen, so
fließt so lange Wärme von dem wärmeren in den kälteren, bis die
Temperatur in beiden gleich ist. Wenn eine Flüssigkeit in zwei
Gefäßen ist, die miteinander in Verbindung stehen, so stellt
sich das Niveau in beiden Gefäßen gleich hoch. Wenn ein Körper
zwischen einer Lichtquelle und einem anderen Körper steht, so wirft
er auf denselben einen Schatten. Was in Mathematik, Physik und
Mechanik nicht bloße Beschreibung ist; das muß
Urphänomen sein.
Auf dem Gewahrwerden der Urphänomene beruht aller Fortschritt der
Wissenschaft. Wenn es gelingt, einen Vorgang aus den Verbindungen mit
anderen herauszulösen und ihn rein für die Folge bestimmter
Erfahrungselemente zu erklären, ist man einen Schritt tiefer in das
Weltgetriebe eingedrungen.
Wir haben gesehen, daß sich das Urphänomen rein im Gedanken
ergibt, wenn man die in Betracht kommenden Faktoren ihrem Wesen
gemäß im Denken in Zusammenhang bringt. Man kann aber die
notwendigen Bedingungen auch künstlich herstellen. Das geschieht beim
wissenschaftlichen Versuche. Da haben wir das Eintreten gewisser
Tatsachen in unserer Gewalt. Natürlich können wir nicht von allen
Nebenumständen absehen. Aber es gibt ein Mittel, doch über die
letzteren hinwegzukommen. Man stellt ein Phänomen in verschiedenen
Modifikationen her. Man läßt einmal die, einmal jene
Nebenumstände wirken. Dann findet man, daß sich ein Konstantes
durch alle diese Modifikationen hindurchzieht. Man muß das
Wesentliche eben in allen Kombinationen beibehalten. Man findet,
daß in allen diesen einzelnen Erfahrungen ein
Tatsachenbestandteil derselbe bleibt. Dieser ist höhere Erfahrung
in der Erfahrung. Er ist Grundtatsache oder
Urphänomen.
Der Versuch soll uns versichern, daß nichts anderes einen
bestimmten Vorgang beeinflußt, als was wir in Rechnung bringen.
Wir stellen gewisse Bedingungen zusammen, deren Natur wir kennen, und
warten ab, was daraus erfolgt. Da haben wir das objektive Phänomen auf
Grund subjektiver Schöpfung. Wir haben ein Objektives, das zugleich
durch und durch subjektiv ist. Der Versuch ist daher der wahre
Vermittler von Subjekt und Objekt in der unorganischen
Naturwissenschaft.
Die Keime zu der von uns hier entwickelten Ansicht finden sich in dem
Briefwechsel Goethes mit Schiller. Die Briefe Goethes und Schillers
vom Anfang des Jahres 1789 befassen sich damit. Sie bezeichnen diese
Methode als rationellen Empirismus, weil sie nichts als
objektive Vorgänge zum Inhalte der Wissenschaft macht; diese
objektiven Vorgänge aber zusammengehalten werden von einem Gewebe von
Begriffen (Gesetzen), das unser Geist in ihnen entdeckt. Die
sinnenfälligen Vorgänge in einem nur dem Denken faßbaren
Zusammenhange, das ist rationeller Empirismus. Hält man jene Briefe
zusammen mit Goethes Aufsatz: «Der Versuch als Vermittler von Subjekt
und Objekt», so wird man in der obigen Theorie die konsequente Folge
davon erblicken.
In der unorganischen Natur trifft also durchaus das allgemeine
Verhältnis, das wir zwischen Erfahrung und Wissenschaft festgestellt
haben, zu. Die gewöhnliche Erfahrung ist nur die halbe Wirklichkeit.
Für die Sinne ist nur diese eine Hälfte da. Die andere Hälfte ist nur
für unser geistiges Auffassungsvermögen vorhanden. Der Geist erhebt
die Erfahrung von einer «Erscheinung für die Sinne» zu seiner
eigenen. Wir haben gezeigt, wie es auf diesem Felde möglich ist, sich
vom Gewirkten zum Wirkenden zu erheben. Das letztere findet der
Geist, wenn er an das erstere herantritt.
Wissenschaftliche Befriedigung wird uns von einer Ansicht erst dann,
wenn sie uns in eine abgeschlossene Ganzheit einführt. Nun zeigt sich
aber die Sinnenwelt als unorganische an keinem ihrer Punkte als
abgeschlossen, nirgends tritt ein individuelles Ganzes auf. Immer
weist uns ein Vorgang auf einen andern, von dem er abhängt; dieser
auf einen dritten und so weiter. Wo ist hier ein Abschluß? Die
Sinnenwelt als unorganische bringt es nicht zur Individualität. Nur in
ihrer Allheit ist sie abgeschlossen. Wir müssen daher streben, um ein
Ganzes zu haben, die Gesamtheit des Unorganischen als ein
System zu begreifen. Ein solches System ist der Kosmos.
Das durchdringende Verständnis des Kosmos ist Ziel und Ideal der
unorganischen Naturwissenschaft. Jedes nicht bis dahin vordringende
wissenschaftliche Streben ist bloße Vorbereitung; ein Glied des
Ganzen, nicht das Ganze selbst.
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