21. Erkennen und künstlerisches Schaffen
Unsere Erkenntnistheorie hat das Erkennen des bloß passiven
Charakters, den man ihm oft beilegt, entkleidet und es als
Tätigkeit des menschlichen Geistes aufgefaßt. Gewöhnlich
glaubt man, der Inhalt der Wissenschaft sei ein von außen
aufgenommener; ja man meint, der Wissenschaft die Objektivität in
einem um so höheren Grad wahren zu können, als sich der Geist jeder
eigenen Zutat zu dem aufgefaßten Stoff enthält. Unsere
Ausführungen haben gezeigt, daß der wahre Inhalt der
Wissenschaft überhaupt nicht der wahrgenommene äußere Stoff ist,
sondern die im Geiste erfaßte Idee, welche uns tiefer in das
Weltgetriebe einführt, als alles Zerlegen und Beobachten der
Außenwelt als bloßer Erfahrung. Die Idee ist Inhalt der
Wissenschaft. Gegenüber der passiv aufgenommenen Wahrnehmung ist die
Wissenschaft somit ein Produkt der Tätigkeit des menschlichen
Geistes.
Damit haben wir das Erkennen dem künstlerischen Schaffen genähert, das
ja auch ein tätiges Hervorbringen des Menschen ist. Zugleich haben wir
aber auch die Notwendigkeit herbeigeführt, die gegenseitige Beziehung
beider klarzustellen.
Sowohl die erkennende wie die künstlerische Tätigkeit beruhen darauf,
daß der Mensch von der Wirklichkeit als Produkt sich zu ihr als
Produzenten erhebt; daß er von dem Geschaffenen zum Schaffen,
von der Zufälligkeit zur Notwendigkeit aufsteigt. Indem uns die
äußere Wirklichkeit stets nur ein Geschöpf der schaffenden Natur
zeigt, erheben wir uns im Geiste zu der Natureinheit, die uns als die
Schöpferin erscheint. Jeder Gegenstand der Wirklichkeit stellt uns
eine von den unendlichen Möglichkeiten dar, die im Schoße
der schaffenden Natur verborgen liegen. Unser Geist erhebt sich zur
Anschauung jenes Quelles, in dem alle diese Möglichkeiten
enthalten sind. Wissenschaft und Kunst sind nun die Objekte, denen der
Mensch einprägt, was ihm diese Anschauung bietet. In der Wissenschaft
geschieht es nur in der Form der Idee, das heißt in dem
unmittelbar geistigen Medium; in der Kunst in einem sinnenfällig oder
geistig wahrnehmbaren Objekte. In der Wissenschaft erscheint
die Natur als «das alles Einzelne Umfassende» rein ideell; in der
Kunst erscheint ein Objekt der Außenwelt dieses Umfassende
darstellend. Das Unendliche, das die Wissenschaft im Endlichen
sucht und in der Idee darzustellen sucht, prägt die Kunst einem aus
der Seinswelt genommenen Stoffe ein. Was in der Wissenschaft als Idee
erscheint, ist in der Kunst Bild. Es ist dasselbe Unendliche, das
Gegenstand der Wissenschaft wie der Kunst ist, nur daß es dort
anders als hier erscheint. Die Art der Darstellung ist eine
verschiedene. Goethe tadelte es daher, daß man von einer Idee
des Schönen spricht, als ob das Schöne nicht einfach der sinnliche
Abglanz der Idee wäre.
Hier zeigt sich, wie der wahre Künstler unmittelbar aus dem Urquell
alles Seins schöpfen muß, wie er seinen Werken das Notwendige
einprägt, das wir ideell in Natur und Geist in der Wissenschaft
suchen. Die Wissenschaft lauscht der Natur ihre Gesetzlichkeit ab; die
Kunst nicht minder, nur daß sie die letztere noch dem rohen
Stoffe einpflanzt. Ein Kunstprodukt ist nicht minder Natur als ein
Naturprodukt, nur daß ihm die Naturgesetzlichkeit schon so
eingegossen wurde, wie sie dem Menschengeist erschienen ist. Die
großen Kunstwerke, die Goethe in Italien sah, erschienen ihm
als der unmittelbare Abdruck des Notwendigen, das der Mensch in der
Natur gewahr wird. Ihm ist daher auch die Kunst eine Manifestation
geheimer Naturgesetze.
Alles kommt beim Kunstwerke darauf an, inwiefern der Künstler dem
Stoffe die Idee eingepflanzt hat. Nicht was er behandelt,
sondern wie er es behandelt, darauf kommt es an. Hat in der
Wissenschaft der von außen wahrgenommene Stoff völlig
unterzutauchen, so daß nur sein Wesen, die Idee
zurückbleibt, so hat er in dem Kunstprodukte zu verbleiben, nur
daß seine Eigentümlichkeit, seine Zufälligkeit vollkommen durch
die künstlerische Behandlung zu überwinden ist. Das Objekt muß
ganz aus der Sphäre des Zufälligen herausgehoben und in jene des
Notwendigen versetzt werden. Es darf im Kunstschönen nichts
zurückbleiben, dem nicht der Künstler seinen Geist aufgedrückt
hätte. Das Was muß durch das Wie besiegt werden.
Überwindung der Sinnlichkeit durch den Geist ist das Ziel von Kunst
und Wissenschaft. Diese überwindet die Sinnlichkeit, indem sie sie
ganz in Geist auflöst; jene, indem sie ihr den Geist einpflanzt. Die
Wissenschaft blickt durch die Sinnlichkeit auf die Idee,
die Kunst erblickt die Idee in der Sinnlichkeit. Ein diese
Wahrheiten in umfassender Weise ausdrückender Satz Goethes mag unsere
Betrachtungen abschließen: «Ich denke, Wissenschaft könnte man
die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wissen; Kunst
dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet; Wissenschaft wäre
Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus, deshalb man sie auch praktische
Wissenschaft nennen könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das
Theorem, Kunst das Problem.»
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