VIII. Praktische Schlussbetrachtung
Die Stellung unserer erkennenden Persönlichkeit zum objektiven
Weltwesen war es, worüber wir durch die vorhergehenden Betrachtungen
Aufschluß verlangten. Was bedeutet für uns der Besitz von
Erkenntnis und Wissenschaft? Das war die Frage, nach deren Beantwortung
wir suchten. Wir haben gesehen, daß sich in userem Wissen der
innerste Kern der Welt auslebt. Die gesetzmäßige Harmonie,
von der das Weltall beherrscht wird, kommt in der menschlichen Erkenntnis
zur Erscheinung. Es gehört somit zum Berufe des Menschen, die Grundgesetze
der Welt, die sonst zwar alles Dasein beherrschen, aber nie selbst zum
Dasein kommen würden, in das Gebiet der erscheinenden Wirklichkeit
zu versetzen. Das ist das Wesen des Wissens, daß sich in ihm der
in der objektiven Realität nie aufzufindende Weltengrund darstellt.
Unser Erkennen ist - bildlich gesprochen - ein stetiges Hineinleben
in den Weltengrund.
Eine solche Überzeugung muß auch Licht auf unsere praktische
Lebensauffassung werfen.
Unsere Lebensführung ist ihrem ganzen Charakter nach bestimmt durch
unsere sittlichen Ideale. Diese sind die Ideen, die wir von unseren
Aufgaben im Leben haben, oder mit anderen Worten, die wir von dem machen,
was wir durch unser Handeln vollbringen sollen.
Unser Handeln ist ein Teil des allgemeinen Weltgeschehens. Es steht
somit auch unter der allgemeinen Gesetzmäßigkeit dieses Geschehens.
Wenn nun irgendwo im Universum ein Geschehen auftritt, so ist an demselben
ein Zweifaches zu unterscheiden: der äußere Verlauf desselben
in Raum und Zeit und die innere Gesetzmäßigkeit davon.
Die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit für das menschliche
Handeln ist nur ein besonderer Fall des Erkennens. Die von uns über
die Natur der Erkenntnis abgeleiteten Anschauungen müssen also
auch hier anwendbar sein. Sich als handelnde Persönlichkeit erkennen
heißt somit: für sein Handeln die entsprechenden Gesetze,
d.h. die sittlichen Begriffe und Ideale als Wissen zu besitzen. Wenn
wir diese Gesetzmäßigkeit erkannt haben, dann ist unser Handeln
auch unser Werk. Die Gesetzmäßigkeit ist dann nicht als etwas
gegeben, was außerhalb des Objektes liegt, an dem das Geschehen
erscheint, sondern als der Inhalt des in lebendigem Tun begriffenen
Objektes selbst. Das Objekt ist in diesem Falle unser eigenes Ich. Hat
dies letztere sein Handeln dem Wesen nach wirklich erkennend durchdrungen,
dann fühlt es sich zugleich als den Beherrscher desselben. Solange
ein solches nicht stattfindet, stehen die Gesetze des Handelns uns als
etwas Fremdes gegenüber, sie beherrschen uns; was wir vollbringen,
steht unter dem Zwange, den sie auf uns ausüben. Sind sie aus solcher
fremden Wesenheit in das ureigene Tun unseres Ich verwandelt, dann hört
dieser Zwang auf. Das Zwingende ist unser eigenes Wesen geworden. Die
Gesetzmäßigkeit herrscht nicht mehr über uns, sondern
in uns über das von unserm Ich ausgehende Geschehen. Die Verwirklichung
eines Geschehens vermöge einer außer dem Verwirklicher stehenden
Gesetzmäßigkeit ist ein Akt der Unfreiheit, jene durch den
Verwirklicher selbst ein solcher der Freiheit. Die Gesetze seines Handelns
erkennen heißt sich seiner Freiheit bewußt sein. Der Erkenntnisprozeß
ist, nach unseren Ausführungen, der Entwicklungsprozeß zur
Freiheit.
Nicht alles menschliche Handeln trägt diesen Charakter. In vielen
Fällen besitzen wir die Gesetze für unser Handeln nicht als
Wissen. Dieser Teil unseres Handelns ist der unfreie Teil unseres Wirkens.
Ihm gegenüber steht derjenige, wo wir uns in diese Gesetze vollkommen
einleben. Das ist das freie Gebiet. Sofern unser Leben ihm angehört,
ist es allein als sittliches zu bezeichnen. Die Verwandlung des ersten
Gebietes in ein solches mit dem Charakter des zweiten ist die Aufgabe
jeder individuellen Entwicklung, wie auch jener der ganzen Menschheit.
Das
wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf
sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen.
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