VII. Erkenntnistheoretische Schlussbetrachtung
Wir haben
die Erkenntnistheorie begründet als die Wissenschaft von der Bedeutung
alles menschlichen Wissens. Durch sie erst verschaffen wir uns Aufklärung
über das Verhältnis des Inhaltes der einzelnen Wissenschaften
zur Welt. Sie macht es uns möglich, mit Hilfe der Wissenschaften
zur Weltanschauung zu kommen. Positives Wissen erwerben wir durch die
einzelnen Erkenntnisse; den Wert des Wissens für die Wirklichkeit
erfahren wir durch die Erkenntnistheorie. Dadurch, daß wir streng
an diesem Grundsatze festgehalten haben und keinerlei Einzelwissen in
unseren Auseinandersetzungen verwertet haben, dadurch haben wir alle
einseitigen Weltanschauungen überwunden. Die Einseitigkeit entspringt
gewöhnlich daher, daß die Untersuchung, statt sich an den
Erkenntnisprozeß selbst zu machen, sogleich an irgendwelche Objekte
dieses Prozesses herantritt. Nach unseren Auseinandersetzungen muß
der Dogmatismus sein «Ding an sich», der subjektive Idealismus
sein «Ich» als Urprinzip fallen lassen, denn diese sind
ihrem gegenseitigen Verhältnis nach wesentlich erst im Denken bestimmt.
«Ding an sich» und «Ich» sind nicht so zu bestimmen,
daß man das eine von dem anderen ableitet, sondern beide müssen
vom Denken aus nach ihrem Charakter und Verhältnis bestimmt werden.
Der Skeptizismus muß von seinem Zweifel an der Erkennbarkeit der
Welt ablassen, denn an dem «Gegebenen» ist nichts zu bezweifeln,
weil es von allen durch das Erkennen erteilten Prädikaten noch
unberührt ist. Wollte er aber behaupten, daß das denkende
Erkennen nie an die Dinge herankommen könne, so könnte er
das nur durch denkende Überlegung selbst tun, womit er sich aber
auch selbst widerlegt. Denn wer durch Denken den Zweifel begründen
will, der gibt implizite zu, daß dem Denken eine für das
Stützen einer Überzeugung hinreichende Kraft zukommt. Unsere
Erkenntnistheorie, endlich, überwindet den einseitigen Empirismus
und den einseitigen Rationalismus, indem sie beide auf einer höheren
Stufe vereinigt. Auf diese Weise wird sie beiden gerecht. Dem Empiriker
werden wir gerecht, indem wir zeigen, daß alle inhaltlichen Erkenntnisse
über das Gegebene nur in unmittelbarer Berührung mit diesem
selbst erlangt werden können. Auch der Rationalist findet bei unseren
Auseinandersetzungen seine Rechnung, da wir das Denken für den
notwendigen und einzigen Vermittler des Erkennens erklären.
Am nächsten
berührt sich unsere Weltanschauung, wie wir sie erkenntnistheoretisch
begründet haben, mit der von A. E. Biedermann vertretenen.
[ 46 ]
Aber Biedermann braucht zur Begründung seines Standpunktes Feststellungen,
die durchaus nicht in die Erkenntnistheorie gehören. So operiert
er mit den Begriffen: Sein, Substanz, Raum, Zeit usw., ohne vorher den
Erkenntnisprozeß für sich untersucht zu haben. Statt festzustellen,
daß im Erkenntnisprozeß zunächst nur die beiden Elemente
Gegebenes und Denken vorhanden sind, spricht er von Seinsweisen der
Wirklichkeit.
So sagt
er z. B. § 15: «In allem Bewußtseinsinhalt sind zwei
Grundtatsachen enthalten: 1. es ist uns darin zweierlei Sein gegeben,
welchen Seinsgegensatz wir als sinnliches und geistiges, dingliches
und ideelles Sein bezeichnen.» Und §19: «Was räumlich-zeitliches
Dasein hat, existiert als etwas Materielles; was Grund alles Daseinsprozesses
und Subjekt des Lebens ist, das existiert ideell, ist real als ein Ideell-Seiendes.»
Solche Erwägungen gehören nicht in die Erkenntnistheorie,
sondern in die Metaphysik, die erst mit Hilfe der Erkenntnistheorie
begründet werden kann. Zugegeben werden muß, daß Biedermanns
Behauptungen den unseren vielfach ähnlich sind; unsere Methode
aber berührt sich mit der seinigen durchaus nicht. Daher fanden
wir auch nirgends Veranlassung, uns direkt mit ihm auseinanderzusetzen.
Biedermann sucht mit Hilfe einiger metaphysischer Axiome einen erkenntnistheoretischen
Standpunkt zu gewinnen. Wir suchen durch Betrachtung des Erkenntnisprozesses
zu einer Ansicht über die Wirklichkeit zu kommen.
Und wir
glauben in der Tat gezeigt zu haben, daß aller Streit der Weltanschauungen
daher kommt, daß man ein Wissen über ein Objektives (Ding,
Ich, Bewußtsein usw.) zu erwerben trachtet, ohne vorher dasjenige
genau zu kennen, was allein erst über alles andere Wissen Aufschluß
geben kann: die Natur des Wissens selbst.
Notes:
46. Christliche Dogmatik. Die
erkenntnistheoretischen Untersuchungen im 1. Band. Eine erschöpfende
Auseinandersetzung über diesen Standpunkt hat Eduard von Hartmann
geliefert, siehe «Kritische Wanderungen durch die Philosophie
der Gegenwart» S.200 ff.
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