VI. Die voraussetzunglose Erkenntnistheorie
und Fichte’s Wissenschaftslehre
Mit den
bisherigen Ausführungen haben wir die Idee der Erkenntnis festgestellt.
Unmittelbar gegeben ist diese Idee nun im menschlichen Bewußtsein,
insofern es sich erkennend verhält. Dem «Ich» als Mittelpunkt
des Bewußtseins ist die äußere und innere Wahrnehmung
und sein eigenes Dasein unmittelbar gegeben. (Es braucht wohl kaum gesagt
zu werden, daß wir mit der Bezeichnung «Mittelpunkt»
hier nicht eine theoretische Ansicht über die Natur des Bewußtseins
verknüpft wissen wollen, sondern daß wir sie nur als stilistische
Abkürzung für die Gesamtphysiognomie des Bewußtseins
gebrauchen.) Das Ich fühlt den Drang, in diesem Gegebenen mehr
zu finden, als was unmittelbar gegeben ist. Es geht ihm gegenüber
der gegebenen Welt die zweite, die des Denkens auf, und es verbindet
die beiden dadurch, daß es aus freiem Entschluß das verwirklicht,
was wir als Idee des Erkennens festgestellt haben. Hierin liegt nun
ein Grundunterschied zwischen der Art, wie sich im Objekt des menschlichen
Bewußtseins selbst Begriff und Unmittelbar-Gegebenes zur totalen
Wirklichkeit verbunden zeigen, und jener, die dem übrigen Weltinhalte
gegenüber Geltung hat. Bei jedem andern Teil des Weltbildes müssen
wir uns vorstellen, daß die Verbindung das Ursprüngliche,
von vornherein Notwendige ist, und daß nur am Beginne des Erkennens
für die Erkenntnis eine künstliche Trennung eingetreten ist,
die aber zuletzt durch das Erkennen, der ursprünglichen Wesenheit
des Objektiven gemäß, wieder aufgehoben wird. Beim menschlichen
Bewußtsein ist das anders. Hier ist die Verbindung nur vorhanden,
wenn sie in wirklicher Tätigkeit vom Bewußtsein vollzogen
wird. Bei jedem andern Objekte hat die Trennung für das Objekt
keine Bedeutung, sondern nur für die Erkenntnis. Die Verbindung
ist hier das erste, die Trennung das Abgeleitete. Das Erkennen vollzieht
nur die Trennung, weil es sich auf seine Art nicht in den Besitz der
Verbindung setzen kann, wenn es nicht vorher getrennt hat. Begriff und
gegebene Wirklichkeit des Bewußtseins aber sind ursprünglich
getrennt, die Verbindung ist das Abgeleitete, und deswegen ist das Erkennen
so beschaffen, wie wir es geschildert haben. Weil im Bewußtsein
notwendig Idee und Gegebenes getrennt auftreten, deswegen spaltet sich
für dasselbe die gesamte Wirklichkeit in diese zwei Teile, und
weil das Bewußtsein nur durch eigene Tätigkeit die Verbindung
der beiden genannten Elemente bewirken kann, deshalb gelangt es nur
durch Verwirklichung des Erkenntnisaktes zur vollen Wirklichkeit. Die
übrigen Kategorien (Ideen) wären auch dann notwendig mit den
entsprechenden Formen des Gegebenen verknüpft, wenn sie nicht in
die Erkenntnis aufgenommen würden; die Idee des Erkennens kann
mit dem ihr entsprechenden Gegebenen nur durch die Tätigkeit des
Bewußtseins vereinigt werden. Ein wirkliches Bewußtsein
existiert nur, wenn es sich selbst verwirklicht. Damit glauben wir genügend
vorbereitet zu sein, um den Grundfehler von Fichtes «Wissenschaftslehre»
bloßzulegen und zugleich den Schlüssel zu ihrem Verständnis
zu liefern. Fichte ist derjenige Philosoph, welcher unter Kants Nachfolgern
am lebhaftesten gefühlt hat, daß eine Grundlegung aller Wissenschaften
nur in einer Theorie des Bewußtseins bestehen könne; aber
er kam nie zur Erkenntnis, warum das so ist. Er empfand, daß dasjenige,
was wir als zweiten Schritt der Erkenntnistheorie bezeichnen, und dem
wir die Form eines Postulates geben, von dem «Ich» wirklich
ausgeführt werden müsse. Wir ersehen dies z. B. aus seinen
folgenden Worten: «Die Wissenschaftslehre entsteht also, insofern
sie eine systematische Wissenschaft sein soll, geradeso wie alle möglichen
Wissenschaften, insofern sie systematisch sein sollen, durch eine Bestimmung
der Freiheit, welche letztere hier insbesondere bestimmt ist, die Handlungsart
der Intelligenz überhaupt zum Bewußtsein zu erheben; ...
Durch diese freie Handlung wird nun etwas, das schon an sich Form ist,
die notwendige Handlung der Intelligenz, als Gehalt in eine neue Form
des Wissens oder Bewußtseins aufgenommen...»
[ 35 ]
Was ist hier unter Handlungsart der «Intelligenz» zu verstehen,
wenn man das, was dunkel gefühlt ist, in klaren Begriffen ausspricht?
Nichts anderes als die im Bewußtsein sich vollziehende Verwirklichung
der Idee des Erkennens. Wäre Fichte sich dessen vollkommen klar
bewußt gewesen, dann hätte er den obigen Satz einfach so
formulieren müssen: Die Wissenschaftslehre hat das Erkennen, insofern
es noch unbewußte Tätigkeit des «Ich ist, zum
Bewußtsein zu erheben; sie hat zu zeigen, daß im
«Ich» als notwendige Handlung die Objektivierung der
Idee des Erkennens ausgeführt wird.
Fichte
will die Tätigkeit des «Ich» bestimmen. Er findet:
«Dasjenige, dessen Seyn (Wesen) bloß darin besteht, daß
es sich selbst als seyend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt».
[ 36 ]
Dieses Setzen des Ich ist für Fichte die erste unbedingte Tathandlung,
die allem übrigen «Bewußtseyn zum Grunde liegt».
[ 37 ]
Das Ich kann also im Sinne Fichtes auch nur durch einen absoluten Entschluß
alle seine Tätigkeit beginnen. Aber für Fichte ist es unmöglich,
dieser seiner vom Ich absolut gesetzten Tätigkeit zu irgendeinem
Inhalte ihres Tuns zu verhelfen. Denn er hat nichts, worauf sich diese
Tätigkeit richten, wonach sie sich bestimmen soll. Sein Ich soll
eine Tathandlung vollziehen; aber was soll es tun? Weil Fichte den Begriff
der Erkenntnis nicht aufstellte, den das Ich verwirklichen soll, deshalb
rang er vergeblich, irgendeinen Fortgang von seiner absoluten Tathandlung
zu den weiteren Bestimmungen des Ich zu finden. Ja, er erklärt
zuletzt in bezug auf einen solchen Fortgang, daß die Untersuchung
hierüber außerhalb der Grenzen der Theorie liege. Er geht
in seiner Deduktion der Vorstellung weder von einer absoluten Tätigkeit
des Ich noch des Nicht-Ich, sondern von einem Bestimmten aus, das zugleich
Bestimmen ist, weil im Bewußtsein unmittelbar nichts anderes enthalten
ist noch enthalten sein kann. Was diese Bestimmung wieder bestimmt,
bleibt in der Theorie vollständig unentschieden; und durch diese
Unbestimmtheit werden wir denn auch über die Theorie hinaus in
den praktischen Teil der Wissenschaftslehre getrieben.
[ 38 ]
Durch diese Erklärung vernichtet aber Fichte überhaupt alles
Erkennen. Denn die praktische Tätigkeit des Ich gehört in
ein ganz anderes Gebiet. Daß das von uns oben aufgestellte Postulat
nur durch eine freie Handlung des Ich realisiert werden kann, ist ja
klar; aber wenn das Ich sich erkennend verhalten soll, so kommt es gerade
darauf an, daß die Entschließung desselben dahin geht, die
Idee des Erkennens zu verwirklichen. Es ist ja gewiß richtig,
daß das Ich aus freiem Entschluß noch vieles andere vollführen
kann. Aber nicht auf eine Charakteristik des «freien», sondern
auf eine solche des «erkennenden» Ich kommt es bei der erkenntnis-theoretischen
Grundlegung aller Wissenschaften an. Fichte hat sich aber von seinem
subjektiven Hange, die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit
in das hellste Licht zu stellen, allzusehr beeinflussen lassen. Mit
Recht bemerkt Harms in seiner Rede über die Philosophie Fichtes
(S.15): «Seine Weltansicht ist eine vorherrschend und ausschließlich
ethische, und seine Erkenntnistheorie trägt keinen anderen Charakter.»
[ 39 ]
Das Erkennen hätte absolut keine Aufgabe, wenn alle Gebiete der
Wirklichkeit in ihrer Totalität gegeben wären. Da nun aber
das Ich, solange es nicht vom Denken in das systematische Ganze des
Weltbildes eingefügt ist, auch nichts anderes ist als ein unmittelbar
Gegebenes, so genügt ein bloßes Aufzeigen seines Tuns durchaus
nicht. Fichte jedoch ist der Ansicht, daß beim Ich mit dem bloßen
Aufsuchen schon alles getan sei. «Wir haben den absolut-ersten,
schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen.
Beweisen oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absolut-erster
Grundsatz sein soll.»
[ 40 ]
Wir haben gesehen,
daß das Beweisen und Bestimmen einzig und allein dem Inhalte der
reinen Logik gegenüber nicht am Platze ist. Das Ich gehört
aber der Wirklichkeit an, und da ist es notwendig, das Vorhandensein
dieser oder jener Kategorie im Gegebenen festzustellen. Fichte tat das
nicht. Und hierinnen ist der Grund zu suchen, warum er seiner Wissenschaftslehre
eine so verfehlte Gestalt gab. Zeller bemerkt
[ 41 ],
daß die logischen Formeln, durch die Fichte zu dem Ich-Begriff
kommen will, nur schlecht den Umstand verhüllen, daß dieser
eigentlich um jeden Preis den schon vorgefaßten Zweck erreichen
wolle, zu diesem Anfangspunkte zu kommen. Diese Worte beziehen sich
auf die erste Gestalt, die Fichte 1794 seiner Wissenschaftslehre gab.
Wenn wir daran festhalten, daß Fichte in der Tat, der ganzen Anlage
seines Philosophierens nach, nichts wollen konnte, als die Wissenschaft
durch einen absoluten Machtspruch beginnen zu lassen, so gibt es ja
nur zwei Wege, die dieses Beginnen verständlich erscheinen lassen.
Der eine war der, das Bewußtsein bei irgendeiner seiner empirischen
Tätigkeiten anzufassen und durch allmähliche Losschälung
alles dessen, was nicht ursprünglich aus demselben folgt, den reinen
Begriff des Ich herauszukristallisieren. Der andere Weg aber war, gleich
bei der ursprünglichen Tätigkeit des «Ich»
einzusetzen und dessen Natur durch Selbstbesinnung und Selbstbeobachtung
aufzuzeigen. Den ersten Weg schlug Fichte am Beginne seines
Philosophierens ein; im Verlaufe desselben ging er jedoch allmählich
zum zweiten über.
An die
Synthesis der «transzendentalen Apperzeption» bei Kant anknüpfend,
fand Fichte, daß alle Tätigkeit des Ich in der Zusammenfügung
des Stoffes der Erfahrung nach den Formen des Urteils bestehe. Das Urteilen
besteht in dem Verknüpfen des Prädikats mit dem Subjekte,
was in rein formaler Weise durch den Satz ausgedrückt wird: a =
a. Dieser Satz wäre unmöglich, wenn das x, das beide a verbindet,
nicht auf einem Vermögen schlechthin zu setzen beruhte. Denn der
Satz bedeutet ja nicht: a ist, sondern: wenn a ist, so ist a. Also von
einem absoluten Setzen des a kann nicht die Rede sein. So bleibt denn
nichts, um überhaupt zu einem absoluten, schlechthin Gültigen
zu kommen, als das Setzen selbst für absolut zu erklären.
Während das a bedingt ist, ist das Setzen des a unbedingt. Dieses
Setzen ist aber eine Tathandlung des Ich. Dem Ich kommt somit eine Fähigkeit
zu, schlechthin und unbedingt zu setzen. In dem Satze a = a wird das
eine a nur gesetzt, indem das andere vorausgesetzt wird; und zwar wird
es durch das Ich gesetzt. «Wenn a im Ich gesetzt ist, so ist es
gesetzt.»
[ 42 ]
Dieser Zusammenhang ist nur
unter der Bedingung möglich, daß im Ich etwas sich immer
Gleichbleibendes sei, etwas, was von einem a zum andern hinüberfahrt.
Und das oben erwähnte x beruht auf diesem Gleichbleibenden. Das
Ich, welches das eine a setzt, ist dasselbe wie jenes, welches das andere
setzt. Das heißt aber Ich Ich. Dieser Satz in Form des Urteils
ausgedrückt: Wenn Ich ist, so ist es - hat keinen Sinn. Das Ich
wird ja nicht unter der Voraussetzung eines andern gesetzt, sondern
es setzt sich selbst voraus. Das heißt aber: es ist schlechthin
und unbedingt. Die hypothetische Form des Urteils, die ohne die Voraussetzung
des absoluten Ich allem Urteilen zukommt, verwandelt sich hier in die
Form des absoluten Existenzialsatzes: Ich bin schlechtweg. Fichte drückt
dies auch noch folgendermaßen aus: «Das Ich setzt ursprünglich
schlechthin sein eigenes Sein.»
[ 43 ]
Wir sehen, daß diese ganze Ableitung Fichtes nichts ist als eine Art
pädagogischer Auseinandersetzung, um seine Leser dahin zu führen,
wo ihnen die Erkenntnis der unbedingten Tätigkeit des Ich aufgeht.
Es soll denselben jene Handlung des Ich klar vor Augen gebracht werden,
ohne deren Vollzug überhaupt gar kein Ich ist.
Wir wollen
nun auf Fichtes Gedankengang noch einmal zurückblicken. Bei schärferem
Zusehen stellt sich nämlich heraus, daß in demselben ein
Sprung ist, und zwar ein solcher, der die Richtigkeit der Anschauung
von der ursprünglichen Tathandlung in Frage stellt. Was ist denn
eigentlich wirklich absolut in dem Setzen des Ich? Es wird geurteilt:
Wenn a ist, so ist a. Das a wird vom Ich gesetzt. Über dieses Setzen
kann also kein Zweifel obwalten. Aber wenn auch als Tätigkeit unbedingt,
so kann das Ich doch nur irgend etwas setzen. Es kann nicht die «Tätigkeit
an und für sich», sondern nur eine bestimmte Tätigkeit
setzen. Kurz: das Setzen muß einen Inhalt haben. Diesen kann es
aber nicht aus sich selbst nehmen, denn sonst könnte es nichts
weiter als ewig nur das Setzen setzen. Es muß also für das
Setzen, für die absolute Tätigkeit des Ich etwas geben, das
durch sie realisiert wird. Ohne daß das Ich zu einem Gegebenen
greift, das es setzt, kann es überhaupt «nichts, folglich
nicht setzen.» Das zeigt auch der Fichtesche Satz: Das Ich setzt
sein Sein. Dieses Sein ist eine Kategorie. Wir sind wieder bei unserm
Satze: Die Tätigkeit des Ich beruht darauf, daß das Ich aus
eigenem freiem Entschlusse die Begriffe und Ideen des Gegebenen setzt.
Nur dadurch, daß Fichte unbewußt darauf ausgeht, das Ich
als «Seiendes» nachzuweisen, kommt er zu seinem Resultate.
Hätte er den Begriff des Erkennens entwickelt, so wäre er
zu dem wahren Ausgangspunkte der Erkenntnistheorie gekommen: Das Ich
setzt das Erkennen. Da Fichte sich nicht klarmachte, wodurch die Tätigkeit
des Ich bestimmt wird, bezeichnete er einfach das Setzen des Seins als
Charakter dieser Tätigkeit. Damit hatte er aber auch die absolute
Tätigkeit des Ich beschränkt. Denn ist nur das «Sein-Setzen»des
Ich unbedingt, dann ist ja alles andere, was vom Ich ausgeht, bedingt.
Aber es ist auch jeder Weg abgeschnitten, um vom Unbedingten zum Bedingten
zu kommen. Wenn das Ich nur nach der bezeichneten Richtung hin unbedingt
ist, dann hört sofort die Möglichkeit für dasselbe auf,
etwas anderes als sein eigenes Sein durch einen ursprünglichen
Akt zu setzen. Es tritt somit die Notwendigkeit ein, den Grund für
alle andere Tätigkeit des Ich anzugeben. Fichte suchte nach einem
solchen vergebens, wie wir oben bereits gesehen haben.
Daher
wandte er sich zu dem andern der oben bezeichneten Wege behufs Ableitung
des Ich. Schon 1797 in der «Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre»
empfiehlt er die Selbstbeobachtung als das Richtige, um das Ich in seinem
ureigenen Charakter zu erkennen. «Merke auf dich selbst, kehre
deinen Blick von allem, was dich umgibt, ab und in dein Inneres - ist
die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut. Es
ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich
von dir selbst.»
[ 44 ]
Diese
Art, die Wissenschaftslehre einzuleiten, hat allerdings vor der andern
einen großen Vorzug. Denn die Selbst-beobachtung liefert ja die
Tätigkeit des Ich in der Tat nicht einseitig nach einer bestimmten
Richtung hin, sie zeigt es nicht bloß Sein-setzend, sondern sie
zeigt es in seiner allseitigen Entfaltung, wie es denkend den unmittelbar
gegebenen Weltinhalt zu begreifen sucht. Der Selbstbeobachtung zeigt
sich das Ich wie es sich das Weltbild aus dem Zusammenfügen von
Gegebenem und Begriff aufbaut. Aber für denjenigen, der unsere
obige Betrachtung nicht mit durchgemacht hat der also nicht weiß,
daß das Ich nur dann zum ganzen Inhalte der Wirklichkeit kommt,
wenn es mit seinen Denkformen an das Gegebene herantritt -, für
den erscheint der Erkenntnisprozeß als ein Herausspinnen der Welt
aus dem Ich. Für Fichte wird das Weltbild daher immer mehr zu einer
Konstruktion des Ich. Er betont immer stärker, daß es in
der Wissenschaftslehre darauf ankomme, den Sinn zu erwecken, der imstande
ist, das Ich bei diesem Konstruieren der Welt zu belauschen. Wer dies
vermag, erscheint ihm auf einer höheren Wissensstufe als derjenige,
der nur das Konstruierte, das fertige Sein sieht. Wer nur die Welt der
Objekte betrachtet, der erkennt nicht, daß sie vom Ich erst geschaffen
werden. Wer aber das Ich in seinem Konstruieren betrachtet, der sieht
den Grund des fertigen Weltbildes; er weiß, wodurch es geworden,
es erscheint ihm als Folge, zu dem ihm die Voraussetzungen gegeben sind.
Das gewöhnliche Bewußtsein sieht nur dasjenige, was gesetzt
ist, was in dieser oder jener Weise bestimmt ist. Es fehlt ihm die Einsicht
in die Vordersätze, in die Gründe: warum es gerade so gesetzt
ist und nicht anders. Das Wissen um diese Vordersätze zu vermitteln,
ist nach Fichte die Aufgabe eines ganz neuen Sinnes. Am deutlichsten
ausgesprochen finde ich dies in den «Einleitungsvorlesungen in
die Wissenschaftslehre. Vorgelesen im Herbste 1813 auf der Universität
zu Berlin»:
«Diese
Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch welches
eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen
gar nicht vorhanden ist.» Oder: «Die Welt des neuen Sinnes
und dadurch er selbst ist vorläufig klar bestimmt: sie ist das
Sehen der Vordersätze, auf die das Urteil: es ist etwas, sich gründet;
der Grund des Seins, der eben darum, weil er dies ist, nicht selbst
wieder ist und ein Sein ist.»
[ 45 ]
Die klare
Einsicht in den Inhalt der vom Ich ausgeführten Tätigkeit
fehlt aber Fichte auch hier. Er ist nie zu derselben durchgedrungen.
Deshalb konnte seine Wissenschaftslehre das nicht werden, was sie sonst,
ihrer ganzen Anlage nach, hätte werden müssen: eine Erkenntnistheorie
als philosophische Grundwissenschaft. War nämlich einmal erkannt,
daß die Tätigkeit des Ich von diesem selbst gesetzt werden
muß, so lag nahe, daran zu denken, daß sie auch vom Ich
ihre Bestimmung erhält. Wie kann das aber anders geschehen, als
indem man dem rein formellen Tun des Ich einen Inhalt gibt. Soll dieser
aber wirklich durch das Ich in dessen sonst ganz unbestimmte Tätigkeit
hineingelegt werden, so muß derselbe auch seiner Natur nach bestimmt
werden. Sonst könnte er doch höchstens durch ein im Ich liegendes
«Ding an sich», dessen Werkzeug das Ich ist, nicht aber
durch letzteres selbst realisiert werden. Hätte Fichte diese Bestimmung
versucht, dann wäre er aber zum Begriffe der Erkenntnis gekommen,
der von dem Ich verwirklicht werden soll. Fichtes Wissenschaftslehre
ist ein Beleg dafür, daß es selbst dem scharfsinnigsten Denken
nicht gelingt, auf irgendeinem Felde fruchtbringend einzuwirken, wenn
man nicht zu der richtigen Gedankenform (Kategorie, Idee) kommt, die,
mit dem Gegebenen ergänzt, die Wirklichkeit gibt. Es geht einem
solchen Betrachter so, wie jenem Menschen, dem die herrlichsten Melodien
geboten werden, und der sie gar nicht hört, weil er keine Empfindung
für Melodie hat. Das Bewußtsein, als Gegebenes, kann nur
der charakterisieren, der sich in den Besitz der «Idee des
Bewußtseins» zu setzen weiß.
Fichte
ist einmal sogar der richtigen Einsicht ganz nahe. Er findet 1797 in
den «Einleitungen zur Wissenschaftslehre», es gäbe
zwei theoretische Systeme, den Dogmatismus, der das Ich von den Dingen,
und den Idealismus, der die Dinge vom Ich bestimmt sein läßt.
Beide stehen, nach seiner Ansicht, als mögliche Weltanschauungen
fest. Der eine wie der andere gestatte eine konsequente Durchführung.
Aber wenn wir uns dem Dogmatismus ergeben, dann müssen wir eine
Selbständigkeit des Ich aufgeben und dasselbe vom Ding an sich
abhängig machen. Im umgekehrten Falle sind wir, wenn wir dem
Idealismus huldigen. Welches der Systeme der eine oder der andere
Philosoph wählen will, das stellt Fichte lediglich dem Belieben
des Ich anheim. Wenn dasselbe aber seine Selbständigkeit wahren
wolle, so hebe es den Glauben an die Dinge außer uns auf und
ergebe sich dem Idealismus.
Nun hätte
es nur noch der Überlegung bedurft, daß das Ich ja zu gar
keiner wirklichen, gegründeten Entscheidung und Bestimmung kommen
kann, wenn es nicht etwas voraussetzt, welches ihm zu einer solchen
verhilft. Alle Bestimmung vom Ich aus bliebe leer und inhaltlos, wenn
das Ich nicht etwas Inhaltsvolles, durch und durch Bestimmtes findet,
was ihm die Bestimmung des Gegebenen möglich macht und damit auch
zwischen Idealismus und Dogmatismus die Wahl treffen läßt.
Dieses durch und durch Inhaltsvolle ist aber die Welt des Denkens. Und das
Gegebene durch das Denken bestimmen heißt Erkennen. Wir mögen
Fichte anfassen, wo wir wollen: überall finden wir, daß sein
Gedankengang sofort Hand und Fuß gewinnt, wenn wir die bei ihm
ganz graue, leere Tätigkeit des Ich erfüllt und geregelt denken
von dem, was wir Erkenntnisprozeß genannt haben.
Der Umstand,
daß das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann,
macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die
Kategorie des Erkennens zu realisieren, während in der übrigen
Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen
korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen. Das Wesen der
freien Selbstbestimmung zu untersuchen, wird die Aufgabe einer auf unsere
Erkenntnistheorie gestützten Ethik und Metaphysik sein. Diese werden
auch die Frage zu erörtern haben, ob das Ich auch noch andere Ideen
außer der Erkenntnis zu realisieren vermag. Daß die Realisierung
des Erkennens durch Freiheit geschieht, geht aber aus den oben gemachten
Anmerkungen bereits klar hervor. Denn wenn das unmittelbar Gegebene
und die dazugehörige Form des Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß
vereinigt werden, so kann die Vereinigung der sonst immer getrennt im
Bewußtsein verbleibenden zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch
einen Akt der Freiheit geschehen.
Durch
unsere Ausführungen wird aber noch in ganz anderer Weise Licht
auf den kritischen Idealismus geworfen. Demjenigen, der sich eingehend
mit Fichtes System befaßt hat, erscheint es wie eine Herzensangelegenheit
dieses Philosophen, den Satz aufrechtzuerhalten, daß in das Ich
nichts von außen hineinkommen kann, daß nichts in demselben
auftritt, was nicht ursprünglich von demselben selbst gesetzt wird.
Nun ist aber außer Frage, daß kein Idealismus je imstande
sein wird, jene Form des Weltinhaltes aus dem Ich abzuleiten, die wir
als die unmittelbar gegebene bezeichnet haben. Diese Form kann eben
nur gegeben, niemals aus dem Denken heraus konstruiert werden. Man erwäge
doch nur, daß wir es nicht zustande brächten, selbst wenn
uns die ganze übrige Farbenskala gegeben wäre, auch nur eine
Farbennuance bloß vom Ich aus zu ergänzen. Wir können
uns ein Bild der entferntesten, von uns nie gesehenen Ländergebiete
machen, wenn wir die Elemente dazu als gegebene einmal individuell erlebt
haben. Wir kombinieren uns dann das Bild nach gegebener Anleitung aus
von uns erlebten Einzeltatsachen. Vergebens aber werden wir danach streben,
auch nur ein einziges Wahrnehmungselement, das nie im Bereich des uns
Gegebenen lag, aus uns herauszuspinnen. Ein anderes aber ist das bloße
Kennen der gegebenen Welt; ein anderes das Erkennen von deren Wesenheit.
Letztere wird uns, trotzdem sie innig mit dem Weltinhalte verknüpft
ist, nicht klar, ohne daß wir die Wirklichkeit aus Gegebenem und
Denken selbst erbauen. Das eigentliche «Was» des Gegebenen
wird für das Ich nur durch das letztere selbst gesetzt. Das Ich
hätte aber gar keine Veranlassung, das Wesen eines Gegebenen in
sich zu setzen, wenn es nicht die Sache zuerst in ganz bestimmungsloser
Weise sich gegenüber sähe. Was also als Wesen der Welt vom
Ich gesetzt wird, das wird nicht ohne das Ich, sondern durch dasselbe
gesetzt.
Nicht
die erste Gestalt, in der die Wirklichkeit an das Ich herantritt, ist
deren wahre, sondern die letzte, die das Ich aus derselben macht. Jene
erste Gestalt ist überhaupt ohne Bedeutung für die objektive
Welt und hat eine solche nur als Unterlage für den Erkenntnisprozeß.
Also nicht die Gestalt der Welt, welche die Theorie derselben gibt,
ist die subjektive, sondern vielmehr jene, welche dem Ich zuerst gegeben
ist. Will man nach dem Vorgange Volkelts u. a. diese gegebene Welt die
Erfahrung nennen, so muß man sagen: die Wissenschaft ergänzt
das infolge der Einrichtung unseres Bewußtseins in subjektiver
Form, als Erfahrung, auftretende Weltbild zu dem, was es wesentlich
ist.
Unsere
Erkenntnistheorie liefert die Grundlage für einen im wahren Sinne
des Wortes sich selbst verstehenden Idealismus. Sie begründet die
Überzeugung, daß im Denken die Essenz der Welt vermittelt
wird. Durch nichts anderes als durch das Denken kann das Verhältnis
der Teile des Weltinhaltes aufgezeigt werden, ob es nun das Verhältnis
der Sonnenwärme zum erwärmten Stein oder des Ich zur Außenwelt
ist. Im Denken allein ist das Element gegeben, welches alle Dinge in
ihren Verhältnissen zueinander bestimmt.
Der Einwand,
den der Kantianismus noch machen könnte, wäre der, daß
die oben charakterisierte Wesensbestimmung des Gegebenen doch nur eine
solche für das Ich sei. Demgegenüber müssen wir im Sinne
unserer Grundauffassung erwidern, daß ja auch die Spaltung des
Ich und der Außenwelt nur innerhalb des Gegebenen Bestand hat,
daß also jenes «für das Ich» der denkenden Betrachtung
gegenüber, die alle Gegensätze vereinigt, keine Bedeutung
hat. Das Ich als ein von der Außenwelt Abgetrenntes geht in der
denkenden Weltbetrachtung völlig unter; es hat also gar keinen
Sinn mehr, von Bestimmungen bloß für das Ich zu sprechen.
Notes:
35. Über den Begriff der Wissenschaftslehre
oder der sogenannten Philosophie. Sämtliche Werke, Berlin 1845,
Bd. I, S.71 f.
36. Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre.
Sämtl. Werke 1, S.97.
37. Sämtliche Werke I, S.91.
38. Sämtliche Werke I, S. 178.
39. Siehe
Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 12
40. Sämtliche Werke I, S.91.
41. Geschichte der deutschen Philosophie seit
Leibniz, München 1871 bis 1875, S.605.
42. Sämtliche Werke I,S.94.
43. Sämtliche Werke I , S.98.
44. Sämtliche Werke 1, S.422.
45. J. G. Fichtes nachgelassene Werke. Herausgegeben
von J. H. Fichte, Bd. 1, Bonn 1834, S.4 und S.16.
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