V. Erkennen und Wirklichkeit
Begriffe
und Ideen sind es also, in denen wir das gegeben haben, was zugleich
über das Gegebene hinausführt. Damit aber ist die Möglichkeit
geboten, auch das Wesen der übrigen Erkenntnistätigkeit zu
bestimmen. Wir haben durch ein Postulat aus dem gegebenen Weltbilde
einen Teil ausgesondert, weil es in der Natur des Erkennens liegt, gerade
von diesem so gearteten Teile auszugehen. Diese Aussonderung wurde also
nur gemacht, um das Erkennen begreifen zu können. Damit müssen
wir uns aber auch zugleich klar darüber sein, daß wir die
Einheit des Weltbildes künstlich zerrissen haben. Wir müssen
einsehen, daß das von uns aus dem Gegebenen abgetrennte Segment,
abgesehen von unserer Forderung und außer derselben, in einer
notwendigen Verbindung mit dem Weltinhalte stehe. Damit ist der nächste
Schritt der Erkenntnistheorie gegeben. Er wird darinnen bestehen, die
Einheit, welche behufs Ermöglichung der Erkenntnis zerrissen worden
ist, wieder herzustellen. Diese Wiederherstellung geschieht in dem Denken
über die gegebene Welt. In der denkenden Weltbetrachtung vollzieht
sich tatsächlich die Vereinigung der zwei Teile des Weltinhalts:
dessen, den wir als Gegebenes auf dem Horizonte unserer Erlebnisse überblicken,
und dessen, der im Erkenntnisakt produziert werden muß, um auch
gegeben zu sein. Der Erkenntnisakt ist die Synthese dieser beiden Elemente.
Und zwar erscheint in jedem einzelnen Erkenntnisakte das eine derselben
als ein im Akte selbst Produziertes, durch ihn zu dem bloß Gegebenen
Hinzugebrachtes. Nur im Anfang der Erkenntnistheorie selbst erscheint
das sonst stets Produzierte als ein Gegebenes.
Die gegebene
Welt mit Begriffen und Ideen durchdringen, ist aber denkende Betrachtung
der Dinge. Das Denken ist somit tatsächlich der Akt, wodurch die
Erkenntnis vermittelt wird. Nur wenn das Denken von sich aus den Inhalt
des Weltbildes ordnet, kann Erkenntnis zustande kommen. Das Denken selbst
ist ein Tun, das einen eigenen Inhalt im Momente des Erkennens hervorbringt.
Soweit also der erkannte Inhalt aus dem Denken allein fließt,
bietet er für das Erkennen keine Schwierigkeit. Hier brauchen wir
bloß zu beobachten; und wir haben das Wesen unmittelbar gegeben.
Die Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens.
In der Tat war auch die Logik nie etwas anderes als eine Beschreibung
der Denkformen, nie eine beweisende Wissenschaft. Der Beweis tritt erst
ein, wenn eine Synthesis des Gedachten mit anderweitigem Weltinhalte
stattfindet. Mit Recht sagt daher Gideon Spikcker in seinem Buche:
«Lessings Weltanschauung»
[ 33 ]
(S.5): «Daß
das Denken an sich richtig sei, können wir nie erfahren, weder
empirisch, noch logisch.» Wir können hinzufügen: Beim
Denken hört alles Beweisen auf. Denn der Beweis setzt bereits das
Denken voraus. Man kann wohl ein einzelnes Faktum, nicht aber das Beweisen
selbst beweisen. Wir können nur beschreiben, was ein Beweis ist.
In der Logik ist alle Theorie nur Empirie; in dieser Wissenschaft gibt
es nur Beobachtung. Wenn wir aber außer unserem Denken etwas erkennen
wollen, so können wir das nur mit Hilfe des Denkens, d.h. das Denken
muß an ein Gegebenes herantreten und es aus der chaotischen Verbindung
in eine systematische mit dem Weltbilde bringen. Das Denken tritt also
als formendes Prinzip an den gegebenen Weltinhalt heran. Der Vorgang
dabei ist folgender: Es werden zunächst gedanklich gewisse Einzelheiten
aus der Gesamtheit des Weltganzen herausgehoben. Denn im Gegebenen ist
eigentlich kein Einzelnes, sondern alles in kontinuierlicher Verbindung.
Diese gesonderten Einzelheiten bezieht nun das Denken nach Maßgabe
der von ihm produzierten Formen aufeinander und bestimmt zuletzt, was
sich aus dieser Beziehung ergibt. Dadurch, daß das Denken einen
Bezug zwischen zwei abgesonderten Partien des Weltinhaltes herstellt,
hat es gar nichts von sich aus über dieselben bestimmt. Es wartet
ja ab, was sich infolge der Herstellung des Bezuges von selbst ergibt.
Dieses Ergebnis erst ist eine Erkenntnis über die betreffenden
Teile des Weltinhaltes. Läge es in der Natur des letzteren, durch
jenen Bezug überhaupt nichts über sich zu äußern:
nun, dann müßte eben der Denkversuch mißlingen und
ein neuer an seine Stelle treten. Alle Erkenntnisse beruhen darauf,
daß der Mensch zwei oder mehrere Elemente der Wirklichkeit in die
richtige Verbindung bringt und das sich hieraus Ergebende erfaßt.
Es ist
zweifellos, daß wir nicht nur in den Wissenschaften, wo es uns
die Geschichte derselben sattsam lehrt, sondern auch im gewöhnlichen
Leben viele solche vergebliche Denkversuche machen; nur tritt in den
einfachen Fällen, die uns doch zumeist begegnen, der richtige so
rasch an die Stelle der falschen, daß uns diese letzteren gar
nicht oder nur selten zum Bewußtsein kommen.
Kant schwebte
diese von uns abgeleitete Tätigkeit des Denkens zum Behufe der
systematischen Gliederung des Weltinhaltes bei seiner «synthetischen
Einheit der Apperzeption» vor. Aber wie wenig sich derselbe die
eigentliche Aufgabe des Denkens dabei zum Bewußtsein gebracht
hat, geht daraus hervor, daß er glaubt, aus den Regeln, nach denen
sich diese Synthesis vollzieht, lassen sich die Gesetze a priori der
reinen Naturwissenschaft ableiten. Er hat dabei nicht bedacht, daß
die synthetische Tätigkeit des Denkens nur eine solche ist, welche
die Gewinnung der eigentlichen Naturgesetze vorbereitet. Denken wir
uns, wir lösen irgend einen Inhalt a aus dem Weltbilde los, und
ebenso einen andern b. Wenn es zur Erkenntnis eines gesetzmäßigen
Zusammenhanges zwischen a und b kommen soll, so hat das Denken zunächst
a in ein solches Verhältnis zu b zu bringen, durch das es möglich
wird, daß sich uns die bestehende Abhängigkeit als gegebene
darstellt. Der eigentliche Inhalt eines Naturgesetzes resultiert also
aus dem Gegebenen, und dem Denken kommt es bloß zu, die Gelegenheit
herbeizuführen, durch die die Teile des Weltbildes in solche Verhältnisse
gebracht werden, daß ihre Gesetzmäßigkeit ersichtlich
wird. Aus der bloßen synthetischen Tätigkeit des Denkens
folgen also keinerlei objektive Gesetze.
Wir müssen
uns nun fragen, welchen Anteil hat das Denken bei der Herstellung unseres
wissenschaftlichen Weltbildes im Gegensatz zum bloß gegebenen
Weltbilde? Aus unserer Darstellung folgt, daß es die Form der
Gesetzmäßigkeit besorgt. Nehmen wir in unserem obigen Schema
an, daß a die Ursache, b die Wirkung sei. Es könnte der kausale
Zusammenhang von a und b nie Erkenntnis werden, wenn das Denken nicht
in der Lage wäre, den Begriff der Kausalität zu bilden. Aber
um im gegebenen Falle a als Ursache, b als Wirkung zu erkennen, dazu
ist notwendig, daß jene beiden dem entsprechen, was unter Ursache
und Wirkung verstanden wird. Ebenso steht es mit anderen Kategorien
des Denkens.
Es wird
zweckmäßig sein, hier auf die Ausführungen Humes
[ 34 ]
über den Begriff der Kausalität mit einigen Worten hinzuweisen.
Hume sagt, die Begriffe von Ursache und Wirkung haben ihren Ursprung
lediglich in unserer Gewohnheit. Wir beobachten öfters, daß
auf ein gewisses Ereignis ein anderes folgt, und gewöhnen uns daran,
die beiden in Kausalverbindung zu denken, so daß wir erwarten,
daß das zweite eintritt, wenn wir das erste bemerken. Diese Auffassung
geht aber von einer ganz irrigen Vorstellung von dem Kausalitätsverhältnis
aus. Begegne ich durch eine Reihe von Tagen immer demselben Menschen,
wenn ich aus dem Tore meines Wohnhauses trete, so werde ich mich zwar
nach und nach gewöhnen, die zeitliche Folge der beiden Ereignisse
zu erwarten, aber es wird mir gar nicht einfallen, hier einen Kausalzusammenhang
zwischen meinem und des andern Menschen Erscheinen an demselben Orte
zu konstatieren. Ich werde noch wesentlich andere Teile des Weltinhaltes
aufsuchen, um die unmittelbare Folge der angeführten Tatsachen
zu erklären. Wir bestimmen den Kausalzusammenhang eben durchaus
nicht nach der zeitlichen Folge, sondern nach der inhaltlichen Bedeutung
der als Ursache und Wirkung bezeichneten Teile des Weltinhaltes.
Daraus,
daß das Denken nur eine formale Tätigkeit beim Zustandebringen
unseres wissenschaftlichen Weltbildes ausübt, folgt: der Inhalt
eines jeden Erkenntnisses kann kein a priori vor der Beobachtung (Auseinandersetzung
des Denkens mit dem Gegebenen) feststehender sein, sondern muß
restlos aus der letzteren hervorgehen. In diesem Sinne sind alle unsere
Erkenntnisse empirisch. Es ist aber auch gar nicht zu begreifen, wie
das anders sein sollte. Denn die Kantschen Urteile a priori sind im
Grunde gar keine Erkenntnisse, sondern nur Postulate. Man kann im Kantschen
Sinne immer nur sagen: wenn ein Ding Objekt einer möglichen Erfahrung
werden soll, dann muß es sich diesen Gesetzen fügen. Das
sind also Vorschriften, die das Subjekt den Objekten macht. Man sollte
aber doch glauben, wenn uns Erkenntnisse von dem Gegebenen zuteil werden
sollen, so müssen dieselben nicht aus der Subjektivität, sondern
aus der Objektivität fließen.
Das Denken
sagt nichts a priori über das Gegebene aus, aber es stellt jene
Formen her, durch deren Zugrundelegung a posterion die Gesetzmäßigkeit
der Erscheinungen zum Vorschein kommt.
Es ist
klar, daß diese Ansicht über die Grade der Gewißheit,
die ein gewonnenes Erkenntnisurteil hat, a priori nichts ausmachen kann.
Denn auch die Gewißheit kann aus nichts anderem denn aus dem Gegebenen
selbst gewonnen werden. Es läßt sich dagegen einwenden, daß
die Beobachtung nie etwas anderes sage, als daß einmal irgendein
Zusammenhang der Erscheinungen stattfindet, nicht aber, daß er
stattfinden muß und in gleichem Falle immer stattfinden wird.
Aber auch diese Annahme ist eine irrtümliche. Denn wenn ich einen
gewissen Zusammenhang zwischen Teilen des Weltbildes erkenne, so ist
er in unserem Sinne nichts anderes, als was aus diesen Teilen selbst
sich ergibt, es ist nichts, was ich zu diesen Teilen hinzudenke, sondern
etwas, was wesentlich zu denselben gehört, was also notwendig dann
immer da sein muß, wenn sie selbst da sind.
Nur eine
Ansicht, die davon ausgeht, daß alles wissenschaftliche Treiben
nur darinnen bestehe, die Tatsachen der Erfahrung nach außer denselben
liegenden, subjektiven Maximen zu verknüpfen, kann glauben, daß
a und b heute nach diesem, morgen nach jenem Gesetze verknüpft
sein können (J. St. Mill). Wer aber einsieht, daß die Naturgesetze
aus dem Gegebenen stammen, somit dasjenige sind, was den Zusammenhang
der Erscheinungen ausmacht und bestimmt, dem wird es gar nicht einfallen,
von einer bloß komparativen Allgemeinheit der aus der Beobachtung
gewonnenen Gesetze zu sprechen. Damit wollen wir natürlich nicht
behaupten, daß die von uns einmal als richtig angenommenen Naturgesetze
auch unbedingt gültig sein müssen. Aber wenn ein späterer
Fall ein aufgestelltes Gesetz umstößt, dann rührt dies
nicht davon her, daß dasselbe das erstemal nur mit komparativer
Allgemeinheit hat gefolgert werden können, sondern davon, daß
es auch dazumal nicht vollkommen richtig gefolgert war. Ein echtes Naturgesetz
ist nichts anderes als der Ausdruck eines Zusammenhanges im gegebenen
Weltbilde, und es ist ebensowenig ohne die Tatsachen da, die es regelt,
wie diese ohne jenes da sind.
Wir haben
es oben als die Natur des Erkenntnisaktes bestimmt, daß das gegebene
Weltbild denkend mit Begriffen und Ideen durchsetzt wird. Was folgt
aus dieser Tatsache? Wäre in dem Unmittelbar-Gegebenen eine abgeschlossene
Ganzheit enthalten, dann wäre eine solche Bearbeitung desselben
im Erkennen unmöglich und auch unnötig. Wir würden dann
einfach das Gegebene hinnehmen, wie es ist, und wären in dieser
Gestalt davon befriedigt. Nur wenn in dem Gegebenen etwas verborgen
liegt, was noch nicht erscheint, wenn wir es in seiner Unmittelbarkeit
betrachten, sondern erst mit Hilfe der vom Denken hineingebrachten Ordnung,
dann ist der Erkenntnisakt möglich. Was in dem Gegebenen vor der
gedanklichen Verarbeitung liegt, ist nicht dessen volle Ganzheit.
Dies wird
sogleich noch deutlicher, wenn wir auf die im Erkenntnisakt in Betracht
kommenden Faktoren näher eingehen. Der erste derselben ist das
Gegebene. Das Gegebensein ist keine Eigenschaft des Gegebenen, sondern
nur ein Ausdruck für dessen Verhältnis zu dem zweiten Faktor
des Erkenntnisaktes. Was das Gegebene seiner eigenen Natur nach ist,
bleibt also durch diese Bestimmung völlig im Dunkeln. Den zweiten
Faktor, den begrifflichen Inhalt des Gegebenen, findet das Denken im
Erkenntnisakte als notwendig mit dem Gegebenen verbunden. Wir fragen
uns nun:
- Wo besteht die Trennung von Gegebenem und Begriff?
- Wo liegt die Vereinigung derselben?
Die Beantwortung
dieser beiden Fragen ist ohne Zweifel in unseren vorangehenden Untersuchungen
gegeben. Die Trennung besteht lediglich im Erkenntnisakte, die Verbindung
liegt im Gegebenen. Daraus geht mit Notwendigkeit hervor, daß
der begriffliche Inhalt nur ein Teil des Gegebenen ist, und daß
der Erkenntnisakt darin besteht, die für ihn zunächst getrennt
gegebenen Bestandteile des Weltbildes miteinander zu vereinigen. Das
gegebene Weltbild wird somit erst vollständig durch jene mittelbare
Art Gegebenseins, die durch das Denken herbeigeführt wird. Durch
die Form der Unmittelbarkeit zeigt sich das Weltbild zuerst in einer
ganz unvollständigen Gestalt.
Wäre
in dem Weltinhalte von vornherein der Gedankeninhalt mit dem Gegebenen
vereinigt; dann gäbe es kein Erkennen. Denn es könnte nirgends
das Bedürfnis entstehen, über das Gegebene hinauszugehen.
Würden wir aber mit dem Denken und in demselben allen Inhalt der
Welt erzeugen, dann gäbe es ebensowenig ein Erkennen. Denn was
wir selbst produzieren, brauchen wir nicht zu er kennen. Das Erkennen
beruht also darauf, daß uns der Weltinhalt ursprünglich in
einer Form gegeben ist, die unvollständig ist, die ihn nicht ganz
enthält, sondern die außer dem, was sie unmittelbar darbietet,
noch eine zweite wesentliche Seite hat. Diese zweite, ursprünglich
nicht gegebene Seite des Weltinhaltes wird durch die Erkenntnis enthüllt.
Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen,
sondern eine Summe von Bestimmungen (Kategorien), die aber für
den übrigen Weltinhalt Form sind. Erst die durch die Erkenntnis
gewonnene Gestalt des Weitinhaltes, in der beide aufgezeigte Seiten
desselben vereinigt sind, kann Wirklichkeit genannt werden.
Notes:
33. Siehe
Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 10
34. Siehe
Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 11
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