Vorrede zur 1. Auflage 1892
Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden
Kant-Glauben. Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zu seiner Überwindung
sein. Frevelhaft wäre es, die unsterblichen Verdienste dieses Mannes
um die Entwickelung der deutschen Wissenschaft herabwürdigen zu
wollen. Aber wir müssen endlich einsehen, daß wir nur dann
den Grund zu einer wahrhaft befriedigenden Welt- und Lebensanschauung
legen können, wenn wir uns in entschiedenen Gegensatz zu diesem
Geiste stellen. Was hat Kant geleistet? Er hat gezeigt, daß der
jenseits unserer Sinnen- und Vernunftwelt liegende Urgrund der Dinge,
den seine Vorgänger mit Hilfe falsch verstandener Begriffsschablonen
suchten, für unser Erkenntnisvermögen unzugänglich ist.
Daraus hat er gefolgert, daß unser wissenschaftliches Bestreben
sich innerhalb des erfahrungsmäßig Erreichbaren halten müsse
und an die Erkenntnis des übersinnlichen Urgrundes, des Dinges
an sich», nicht herankommen könne. Wie aber, wenn dieses
«Ding an sich» samt dem jenseitigen Urgrund der Dinge nur
ein Phantom wäre! Leicht ist einzusehen, daß sich die Sache
so verhält. Nach dem tiefsten Wesen der Dinge, nach den Urprinzipien
derselben zu forschen, ist ein von der Menschennatur untrennbarer Trieb.
Er liegt allem wissenschaftlichen Treiben zugrunde. Nicht die geringste
Veranlassung aber ist, diesen Urgrund außerhalb der uns gegebenen
sinnlichen und geistigen Welt zu suchen, solange nicht ein allseitiges
Durchforschen dieser Welt ergibt, daß sich innerhalb derselben
Elemente finden, die deutlich auf einen Einfluß von außen
hinweisen.
Unsere
Schrift sucht nun den Beweis zu führen, daß für unser
Denken alles erreichbar ist, was zur Erklärung und Ergründung
der Welt herbeigezogen werden muß. Die Annahme von außerhalb
unserer Welt liegenden Prinzipien derselben zeigt sich als das Vorurteil
einer abgestorbenen, in eitlem Dogmenwahn lebenden Philosophie. Zu diesem
Ergebnisse hätte Kant kommen müssen, wenn er wirklich untersucht
hätte, wozu unser Denken veranlagt ist. Statt dessen bewies er
in der umständlichsten Art, daß wir zu den letzten Prinzipien,
die jenseits unserer Erfahrung liegen, wegen der Einrichtung unseres
Erkenntnisvermögens nicht gelangen können. Vernünftigerweise
dürfen wir sie aber gar nicht in ein solches Jenseits verlegen.
Kant hat wohl die «dogmatische» Philosophie widerlegt, aber
er hat nichts an deren Stelle gesetzt. Die zeitlich an ihn anknüpfende
deutsche Philosophie entwickelte sich daher überall im Gegensatz
zu Kant. Fichte, Schelling, Hegel kümmerten sich nicht weiter um
die von ihrem Vorgänger abgesteckten Grenzen unseres Erkennens
und suchten die Urprinzipien der Dinge innerhalb des Diesseits der menschlichen
Vernunft. Selbst Schopenhauer, der doch behauptet, die Resultate der
Kantschen Vernunftkritik seien ewig unumstößliche Wahrheiten,
kann nicht umhin, von denen seines Meisters abweichende Wege zur Erkenntnis
der letzten Weltursachen einzuschlagen. Das Verhängnis dieser Denker
war, daß sie Erkenntnisse der höchsten Wahrheiten suchten,
ohne für solches Beginnen durch eine Untersuchung der Natur des
Erkennens selbst den Grund gelegt zu haben. Die stolzen Gedankengebäude
Fichtes, Schellings und Hegels stehen daher ohne Fundament da. Der Mangel
eines solchen wirkte aber auch schädigend auf die Gedankengänge
der Philosophen. Ohne Kenntnis der Bedeutung der reinen Ideenwelt und
ihrer Beziehung zum Gebiet der Sinneswahmehmung bauten dieselben Irrtum
auf Irrtum, Einseitigkeit auf Einseitigkeit. Kein Wunder, daß
die allzukühnen Systeme den Stürmen einer philosophiefeindlichen
Zeit nicht zu trotzen vermochten, und viel Gutes, das sie enthielten,
mit dem Schlechten erbarmungslos hinweggeweht worden ist.
Einem
hiemit angedeuteten Mangel sollen die folgenden Untersuchungen abhelfen.
Nicht wie Kant es tat, wollen sie darlegen, was das Erkenntnisvermögen
nicht vermag; sondern ihr Zweck ist, zu zeigen, was es wirklich imstande
ist.
Das Resultat
dieser Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich
annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern
ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends
existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe
der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in
begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet
zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst
die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit
des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen
eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen
gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch
ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer,
der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne
sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer
des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus
des Universums.
Für
die Gesetze unseres Handelns, für unsere sittlichen Ideale hat
diese Anschauung die wichtige Konsequenz, daß auch diese nicht
als das Abbild von etwas außer uns Befindlichem angesehen werden
können, sondern als ein nur in uns Vorhandenes. Eine Macht, als
deren Gebote wir unsere Sittengesetze ansehen müßten, ist
damit ebenfalls abgewiesen. Einen «kategorischen Imperativ»,
gleichsam eine Stimme aus dem Jenseits, die uns vorschriebe, was wir
zu tun oder zu lassen haben, kennen wir nicht. Unsere sittlichen Ideale
sind unser eigenes freies Erzeugnis. Wir haben nur auszuführen,
was wir uns selbst als Norm unseres Handelns vorschreiben. Die Anschauung
von der Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch eine
Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommen freie Persönlichkeit
ist.
Diese
Sätze gelten natürlich nur von jenem Teil unseres Handelns,
dessen Gesetze wir in vollkommener Erkenntnis ideell durchdringen. Solange
die letzteren bloß natürliche oder begrifflich noch unklare
Motive sind, kann wohl ein geistig Höherstehender erkennen, inwiefern
diese Gesetze unseres Tuns innerhalb unserer Individualität
begründet sind, wir selbst aber empfinden sie als von außen
auf uns wirkend, uns zwingend. Jedesmal, wenn es uns gelingt, ein solches
Motiv klar erkennend zu durchdringen, machen wir eine Eroberung im Gebiet
der Freiheit.
Wie sich
unsere Anschauungen zu der bedeutendsten philosophischen Erscheinung
der Gegenwart, zur Weltauffassung Eduard von Hartmanns, verhalten, wird
der Leser aus unserer Schrift in ausführlicher Weise, soweit das
Erkenntnisproblem in Frage kommt, ersehen.
Eine
Philosophie der Freiheit ist es, wozu wir mit dem Gegenwärtigen
ein Vorspiel geschaffen haben. Diese selbst in ausführlicher Gestalt
soll bald nachfolgen.
Die Erhöhung
des Daseinswertes der menschlichen Persönlichkeit ist doch das
Endziel aller Wissenschaft. Wer letztere nicht in dieser Absicht betreibt,
der arbeitet nur, weil er von seinem Meister solches gesehen hat, er
«forscht», weil er das gerade zufällig gelernt hat.
Ein «freier Denker» kann er nicht genannt werden.
Was den
Wissenschaften erst den wahren Wert verleiht, ist die philosophische
Darlegung der menschlichen Bedeutung ihrer Resultate. Einen Beitrag
zu dieser Darlegung wollte ich liefern. Aber vielleicht verlangt die
Wissenschaft der Gegenwart gar nicht nach ihrer philosophischen
Rechtfertigung! Dann ist zweierlei gewiß: erstens, daß
ich eine unnötige Schrift geliefert habe, zweitens, daß
die moderne Gelehrsamkeit im Trüben fischt und nicht weiß,
was sie will.
Am Schlusse dieser
Vorrede kann ich eine persönliche Bemerkung nicht unterdrücken.
Ich habe meine philosophischen Anschauungen bisher immer anknüpfend
an die Goethesche Weltanschauung dargelegt, in die ich durch meinen
über alles verehrten Lehrer Karl Julius Schröer
[ 1 ]
zuerst eingeführt worden bin, der mir
in der Goetheforschung so hoch steht, weil sein Blick immer über
das Einzelne hinaus auf die Ideen geht.
Mit dieser Schrift
hoffe ich aber nun gezeigt zu haben, daß mein Gedankengebäude
eine in sich selbst begründete Ganzheit ist, die nicht aus der
Goetheschen Weltanschauung abgeleitet zu werden braucht. Meine Gedanken,
wie sie hier vorliegen und weiter als «Philosophie der
Freiheit» nachfolgen werden, sind im Laufe vieler Jahre entstanden.
Und es geht nur aus einem tiefen Dankesgefühl hervor, wenn ich noch
sage, daß die liebevolle Art, mit der mir das Haus Specht
[ 2 ]
in Wien entgegenkam während der Zeit, in der ich die Erziehung
der Kinder desselben zu besorgen hatte, ein einzig wünschenswertes
«Milieu» zum Ausbau meiner Ideen darbot
[ 3 ];
ferner daß ich die Stimmung zum letzten Abrunden manches Gedankens
meiner vorläufig auf S.86 bis 88 keimartig skizzierten
«Freiheitsphilosophie» den anregenden Gesprächen
mit meiner hochgeschätzten Freundin Rosa Mayreder
[ 4 ]
in Wien verdanke, deren literarische
Arbeiten, die aus einer feinsinnigen, vornehmen Künstlernatur entspringen,
voraussichtlich bald der Öffentlichkeit übergeben sein werden.
Geschrieben zu Wien, Anfang Dezember 1891.
Dr. Rudolf Steiner
Notes:
1. Siehe Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 1
2. Siehe Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 2
3. Siehe Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 3
4. Siehe Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 4
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