XII
Die Moralische Phantasie
(Darwinismus und Sittlichkeit)
Der freie Geist
handelt nach seinen Impulsen, das sind Intuitionen, die aus
dem Ganzen seiner Ideenwelt durch das Denken ausgewählt
sind. Für den unfreien Geist liegt der Grund,
warum er aus seiner Ideenwelt eine bestimmte Intuition
aussondert, um sie einer Handlung zugrunde zu legen, in der
ihm gegebenen Wahrnehmungswelt, das heißt in seinen
bisherigen Erlebnissen. Er erinnert sich, bevor er zu einem
Entschluß kommt, daran, was jemand in einem dem seinigen
analogen Falle getan oder zu tun für gut geheißen
hat, oder was Gott für diesen Fall befohlen hat und so
weiter, und danach handelt er. Dem freien Geist sind diese
Vorbedingungen nicht einzige Antriebe des Handelns. Er
faßt einen schlechthin ersten Entschluß.
Es kümmert ihn — dabei ebensowenig, was andere in
diesem Falle getan, noch was sie dafür befohlen haben.
Er hat rein ideelle Gründe, die ihn bewegen, aus der
Summe seiner Begriffe gerade einen bestimmten herauszuheben
und ihn in Handlung umzusetzen. Seine Handlung wird aber der
wahrnehmbaren Wirklichkeit angehören. Was er vollbringt,
wird also mit einem ganz bestimmten Wahrnehmungsinhalte
identisch sein. Der Begriff wird sich in einem konkreten
Einzelgeschehnis zu verwirklichen haben. Er wird als Begriff
diesen Einzelfall nicht enthalten können. Er wird sich
darauf nur in der Art beziehen können, wie
überhaupt ein Begriff sich auf eine Wahrnehmung bezieht,
zum Beispiel wie der Begriff des Löwen auf einen
einzelnen Löwen. Das Mittelglied zwischen Begriff und
Wahrnehmung ist die Vorstellung (vgl. 5. 107 f.).
Dem unfreien Geist ist dieses Mittelglied von vornherein
gegeben. Die Motive sind von vornherein als Vorstellungen in
seinem Bewußtsein vorhanden. Wenn er etwas
ausführen will, so macht er das so, wie er es gesehen
hat, oder wie es ihm für den einzelnen Fall befohlen
wird. Die Autorität wirkt daher am besten durch
Beispiele, das heißt durch Überlieferung
ganz bestimmter Einzelhandlungen an das Bewußtsein des
unfreien Geistes. Der Christ handelt weniger nach den Lehren
als nach dem Vorbilde des Erlösers. Regeln
haben für das positive Handeln weniger Wert als für
das Unterlassen bestimmter Handlungen. Gesetze treten nur
dann in die allgemeine Begriffsform, wenn sie Handlungen
verbieten, nicht aber wenn sie sie zu tun gebieten. Gesetze
über das, was er tun soll, müssen dem unfreien
Geiste in ganz konkreter Form gegeben werden: Reinige die
Straße vor deinem Haustore! Zahle deine Steuern in
dieser bestimmten Höhe bei dem Steueramte X! und so
weiter. Begriffsform haben die Gesetze zur Verhinderung von
Handlungen: Du sollst nicht stehlen! Du sollst
nicht ehebrechen! Diese Gesetze wirken auf den
unfreien Geist aber auch nur durch den Hinweis auf eine
konkrete Vorstellung, zum Beispiel die der entsprechenden
zeitlichen Strafen, oder der Gewissensqual, oder der ewigen
Verdammnis, und so weiter.
Sobald der Antrieb zu einer Handlung in der
allgemein-begrifflichen Form vorhanden ist (zum Beispiel: du
sollst deinen Mitmenschen Gutes tun! du sollst so leben,
daß du dein Wohlsein am besten beförderst!), dann
muß in jedem einzelnen Fall die konkrete Vorstellung des
Handelns (die Beziehung des Begriffes auf einen
Wahrnehmungsinhalt) erst gefunden werden. Bei dem freien
Geiste, den kein Vorbild und keine Furcht vor Strafe
usw. treibt, ist diese Umsetzung des Begriffes in die
Vorstellung immer notwendig.
Konkrete Vorstellungen aus der Summe seiner Ideen
heraus produziert der Mensch zunächst durch die
Phantasie. Was der freie Geist nötig hat, um seine Ideen
zu verwirklichen, um sich durchzusetzen, ist also die
moralische Phantasie. Sie ist die Quelle für
das Handeln des freien Geistes. Deshalb sind auch nur
Menschen mit moralischer Phantasie eigentlich sittlich
produktiv. Die bloßen Moralprediger, das ist: die Leute,
die sittliche Regeln ausspinnen, ohne sie zu konkreten
Vorstellungen verdichten zu können, sind moralisch
unproduktiv. Sie gleichen den Kritikern, die verständig
auseinanderzusetzen wissen, wie ein Kunstwerk beschaffen sein
soll, selbst aber auch nicht das geringste zustande bringen
können.
Die moralische Phantasie muß, um ihre
Vorstellung zu verwirklichen, in ein bestimmtes Gebiet von
Wahrnehmungen eingreifen. Die Handlung des Menschen schafft
keine Wahrnehmungen, sondern prägt die Wahrnehmungen,
die bereits vorhanden sind, um, erteilt ihnen eine neue
Gestalt. Um ein bestimmtes Wahrnehmungsobjekt oder eine Summe
von solchen, einer moralischen Vorstellung gemäß,
umbilden zu können, muß man den
gesetzmäßigen Inhalt (die bisherige Wirkungsweise,
die man neu gestalten oder der man eine neue Richtung geben
will) dieses Wahrnehmungsbildes begriffen haben. Man muß
ferner den Modus finden, nach dem sich diese
Gesetzmäßigkeit in eine neue verwandeln
läßt. Dieser Teil der moralischen Wirksamkeit
beruht auf Kenntnis der Erscheinungswelt, mit der man es zu
tun hat. Er ist also zu suchen in einem Zweige der
wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt. Das moralische
Handeln setzt also voraus neben dem moralischen
Ideenvermögen[1] und der
moralischen Phantasie die Fähigkeit, die Welt der
Wahrnehmungen umzuformen, ohne ihren naturgesetzlichen
Zusammenhang zu durchbrechen. Diese Fähigkeit ist
moralische Technik. Sie ist in dem Sinne lernbar,
wie Wissenschaft überhaupt lernbar ist. Im allgemeinen
sind Menschen nämlich geeigneter, die Begriffe für
die schon fertige Welt zu finden, als produktiv aus der
Phantasie die noch nicht vorhandenen zukünftigen
Handlungen zu bestimmen. Deshalb ist es sehr wohl
möglich, daß Menschen ohne moralische Phantasie die
moralischen Vorstellungen von andern empfangen und diese
geschickt der Wirklichkeit einprägen. Auch der
umgekehrte Fall kann vorkommen, daß Menschen mit
moralischer Phantasie ohne die technische Geschicklichkeit
sind und sich dann anderer Menschen zur Verwirklichung ihrer
Vorstellungen bedienen müssen.
Insofern zum moralischen Handeln die Kenntnis der
Objekte unseres Handelnsgebietes notwendig ist, beruht unser
Handeln auf dieser Kenntnis. Was hier in Betracht kommt, sind
Naturgesetze. Wir haben es mit Naturwissenschaft zu
tun, nicht mit Ethik.
Die moralische Phantasie und das moralische
Ideenvermögen können erst Gegenstand des Wissens
werden, nachdem sie vom Individuum produziert sind.
Dann aber regeln sie nicht mehr das Leben, sondern haben es
bereits geregelt. Sie sind als wirkende Ursachen wie alle
andern aufzufassen (Zwecke sind sie bloß für das
Subjekt). Wir beschäftigen uns mit ihnen als mit einer
Naturlehre der moralischen Vorstellungen.
Eine Ethik als Normwissenschaft kann es daneben
nicht geben.
Man hat den normativen Charakter der moralischen
Gesetze wenigstens insofern halten wollen, daß man die
Ethik im Sinne der Diätetik auffaßte, welche aus
den Lebensbedingungen des Organismus allgemeine Regeln
ableitet, um auf Grund derselben dann den Körper im
besonderen zu beeinflussen (Paulsen, System der Ethik).
Dieser Vergleich ist falsch, weil unser moralisches Leben
sich nicht mit dem Leben des Organismus vergleichen
läßt. Die Wirksamkeit des Organismus ist ohne unser
Zutun da; wir finden dessen Gesetze in der Welt fertig vor,
können sie also suchen, und dann die gefundenen
anwenden. Die moralischen Gesetze werden aber von uns erst
geschaffen. Wir können sie nicht anwenden,
bevor sie geschaffen sind. Der Irrtum entsteht dadurch,
daß die moralischen Gesetze nicht in jedem Momente
inhaltlich neu geschaffen werden, sondern sich forterben. Die
von den Vorfahren übernommenen erscheinen dann gegeben
wie die Naturgesetze des Organismus. Sie werden aber durchaus
nicht mit demselben Rechte von einer späteren Generation
wie diätetische Regeln angewendet. Denn sie gehen auf
das Individuum und nicht wie das Naturgesetz auf das Exemplar
einer Gattung. Als Organismus bin ich ein solches
Gattungsexemplar, und ich werde naturgemäß leben,
wenn ich die Naturgesetze der Gattung in meinem besonderen
Falle anwende; als sittliches Wesen bin ich Individuum und
habe meine ganz eigenen Gesetze.[2]
Die hier vertretene Ansicht scheint in Widerspruch
zu stehen mit jener Grundlehre der modernen
Naturwissenschaft, die man als Entwickelungstheorie
bezeichnet. Aber sie scheint es nur. Unter
Entwickelung wird verstanden das reale
Hervorgehen des Späteren aus dem Früheren auf
naturgesetzlichem Wege. Unter Entwickelung in der organischen
Welt versteht man den Umstand, daß die späteren
(vollkommeneren) organischen Formen reale Abkömmlinge
der früheren (unvollkommenen) sind und auf
naturgesetzliche Weise aus ihnen hervorgegangen sind. Die
Bekenner der organischen Entwickelungstheorie
müßten sich eigentlich vorstellen, daß es auf
der Erde einmal eine Zeitepoche gegeben hat, wo ein Wesen das
allmähliche Hervorgehen der Reptilien aus den Uramnioten
mit Augen hätte verfolgen können, wenn er damals
als Beobachter hätte dabei sein können und mit
entsprechend langer Lebensdauer ausgestattet gewesen
wäre. Ebenso müßten sich die
Entwickelungstheoretiker vorstellen, daß ein Wesen das
Hervorgehen des Sonnensystems aus dem Kant-Laplaceschen
Urnebel hätte beobachten können, wenn es
während der unendlich langen Zeit frei im Gebiet des
Weltäthers sich an einem entsprechenden Orte hätte
aufhalten können. Daß bei solcher Vorstellung
sowohl die Wesenheit der Uramnioten wie auch die des
Kant-Laplaceschen Weltnebels anders gedacht werden
müßte als die materialistischen Denker dies tun,
kommt hier nicht in Betracht. Keinem Entwickelungstheoretiker
sollte es aber einfallen, zu behaupten, daß er aus
seinem Begriffe des Uramniontieres den des Reptils mit allen
seinen Eigenschaften herausholen kann, auch wenn er nie ein
Reptil gesehen hat. Ebensowenig sollte aus dem Begriff des
KantLaplaceschen Urnebels das Sonnensystem abgeleitet werden,
wenn dieser Begriff des Urnebels direkt nur an der
Wahrnehmung des Urnebels bestimmt gedacht ist. Das heißt
mit anderenWorten: derEntwickelungstheoretiker muß,wenn
er konsequent denkt, behaupten, daß aus früheren
Entwickelungsphasen spätere sich real ergeben, daß
wir, wenn wir den Begriff des Unvollkommenen und den
des Vollkommenen gegeben haben, den Zusammenhang einsehen
können; keineswegs aber sollte er zugeben, daß der
an dem Früheren erlangte Begriff hinreicht, um das
Spätere daraus zu entwickeln. Daraus folgt für den
Ethiker, daß er zwar den Zusammenhang späterer
moralischer Begriffe mit früheren einsehen kann; aber
nicht, daß auch nur eine einzige neue moralischeldee aus
früheren geholt werden kann.Als moralisches Wesen
produziert das Individuum seinen Inhalt. Dieser produzierte
Inhalt ist für den Ethiker gerade so ein Gegebenes, wie
für den Naturforscher die Reptilien ein Gegebenes sind.
Die Reptilien sind aus den Uramnioten hervorgegangen; aber
der Naturforscher kann aus dem Begriff derUramnioten den
derReptilien nicht herausholen. Spätere moralische Ideen
entwickeln sich aus früheren; der Ethiker kann aber aus
den sittlichen Begriffen einer früheren Kulturperiode
die der späteren nicht herausholen. Die Verwirrung wird
dadurch hervorgerufen, daß wir als Naturforscher die
Tatsachen bereits vor uns haben und hinterher sie erst
erkennend betrachten; während wir beim sittlichen
Handeln selbst erst die Tatsachen schaffen, die wir hinterher
erkennen. Beim Entwickelungsprozeß der sittlichen
Weltordnung verrichten wir das, was die Natur auf niedrigerer
Stufe verrichtet: wir verändern ein Wahrnehmbares. Die
ethische Norm kann also zunächst nicht wie ein
Naturgesetz erkannt, sondern sie muß geschaffen
werden. Erst wenn sie da ist, kann sie Gegenstand des
Erkennens werden.
Aber können wir denn nicht das Neue an dem
Alten messen? Wird nicht jeder Mensch gezwungen sein, das
durch seine moralische Phantasie Produzierte an den
hergebrachten sittlichen Lehren zu bemessen? Für
dasjenige, was als sittlich Produktives sich offenbaren soll,
ist das ein ebensolches Unding, wie es das andere wäre,
wenn man eine neue Naturform an der alten bemessen wollte und
sagte: weil die Reptilien mit den Uramnioten nicht
übereinstimmen, sind sie eine unberechtigte (krankhafte)
Form.
Der ethische Individualismus steht also nicht im
Gegensatz zu einer recht verstandenen Entwickelungstheorie,
sondern folgt direkt aus ihr. Der Haeckelsche Stammbaum von
denUrtieren bis hinauf zum Menschen als organisches Wesen
müßte sich ohne Unterbrechung der natürlichen
Gesetzlichkeit und ohne eine Durchbrechung der einheitlichen
Entwickelung heraufverfolgen lassen bis zu dem Individuum als
einem im bestimmten Sinne sittlichen Wesen. Nirgends aber
würde aus dem Wesen einer Vorfahrenart das
Wesen einer nachfolgenden Art sich ableiten lassen.
So wahr es aber ist, daß die sittlichen Ideen des
Individuums wahrnehmbar aus denen seiner Vorfahren
hervorgegangen sind, so wahr ist es auch, daß dasselbe
sittlich unfruchtbar ist, wenn es nicht selbst moralische
Ideen hat.
Derselbe ethische Individualismus, den ich auf
Grund der vorangehenden Anschauungen entwickelt habe,
würde sich auch aus der Entwickelungstheorie ableiten
lassen. Die schließliche Überzeugung wäre
dieselbe; nur der Weg ein anderer, auf dem sie erlangt
ist.
Das Hervortreten völlig neuer sittlicher Ideen
aus der moralischen Phantasie ist für die
Entwickelungstheorie gerade so wenig wunderbar, wie das
Hervorgehen einer neuen Tierart aus einer andern. Nur
muß diese Theorie als monistische Weltanschauung im
sittlichen Leben ebenso wie im natürlichen jeden
bloß erschlossenen, nicht ideell erlebbaren jenseitigen
(metaphysischen) Einfluß abweisen. Sie folgt dabei
demselben Prinzip, das sie antreibt, wenn sie die Ursachen
neuer organischer Formen sucht und dabei nicht auf das
Eingreifen eines außerweltlichen Wesens sich beruft, das
jede neue Art nach einem neuen Schöpfungsgedanken durch
übernatürlichen Einfluß hervorruft. So wie der
Monismus zur Erklärung des Lebewesens keinen
übernatürlichen Schöpfungsgedanken brauchen
kann, so ist es ihm auch unmöglich, die sittliche
Weltordnung von Ursachen abzuleiten, die nicht innerhalb der
erlebbaren Welt liegen. Er kann das Wesen eines Wollens als
eines sittlichen nicht damit erschöpft finden, daß
er es auf einen fortdauernden übernatürlichen
Einfluß auf das sittliche Leben (göttliche
Weltregierung von außen) zurückführt, oder auf
eine zeitliche besondere Offenbarung (Erteilung der zehn
Gebote) oder auf die Erscheinung Gottes auf der Erde
(Christi). Was durch alles dieses geschieht an und in dem
Menschen, wird erst zum Sittlichen, wenn es im menschlichen
Erlebnis zu einem individuellen Eigenen wird. Die sittlichen
Prozesse sind dem Monismus Weltprodukte wie alles andere
Bestehende und ihre Ursachen müssen in der
Welt, das heißt, weil der Mensch der Träger der
Sittlichkeit ist, im Menschen gesucht werden.
Der ethische Individualismus ist somit die
Krönung des Gebäudes, das Darwin und
Haeckel für die Naturwissenschaft erstrebt
haben. Er ist vergeistigte Entwickelungslehre auf das
sittliche Leben übertragen.
Wer dem Begriff des Natürlichen von
vornherein in engherziger Weise ein willkürlich
begrenztes Gebiet anweist, der kann dann leicht dazu kommen,
für die freie individuelle Handlung keinen Raum darin zu
finden. Der konsequent verfahrende Entwickelungstheoretiker
kann in solche Engherzigkeit nicht verfallen. Er kann die
natürliche Entwickelungsweise beim Affen nicht
abschließen und dem Menschen einen
«übernatürlichen» Ursprung zugestehen; er
muß, auch indem er die natürlichen Vorfahren des
Menschen sucht, in der Natur schon den Geist suchen; er kann
auch bei den organischen Verrichtungen des Menschen nicht
stehen bleiben und nur diese natürlich finden, sondern
er muß auch das sittlich-freie Leben als geistige
Fortsetzung des organischen ansehen.
Der Entwickelungstheoretiker kann, seiner
Grundauffassung gemäß, nur behaupten, daß das
gegenwärtige sittliche Handeln aus anderen Arten des
Weltgeschehens hervorgeht; die Charakteristik des Handelns,
das ist seine Bestimmung als eines freien, muß
er der unmittelbaren Beobachtung des
Handelns überlassen. Er behauptet ja auch nur, daß
Menschen aus noch nicht menschlichen Vorfahren sich
entwickelt haben. Wie die Menschen beschaffen sind, das
muß durch Beobachtung dieser selbst festgestellt werden.
Die Ergebnisse dieser Beobachtung können nicht in
Widerspruch geraten mit einer richtig angesehenen
Entwickelungsgeschichte. Nur die Behauptung, daß die
Ergebnisse solche sind, die eine natürliche Weltordnung
ausschließen, könnte nicht in Übereinstimmung
mit der neueren Richtung der Naturwissenschaft gebracht
werden.[3]
Von einer sich selbst verstehenden
Naturwissenschaft hat der ethische Individualismus nichts zu
fürchten: die Beobachtung ergibt als Charakteristikum
der vollkommenen Form des menschlichen Handelns die
Freiheit. Diese Freiheit muß dem menschlichen
Wollen zugesprochen werden, insoferne dieses rein ideelle
Intuitionen verwirklicht. Denn diese sind nicht Ergebnisse
einer von außen auf sie wirkenden Notwendigkeit, sondern
ein auf sich selbst Stehendes. Findet der Mensch, daß
eine Handlung das Abbild einer solchen ideellen
Intuition ist, so empfindet er sie als eine freie.
In diesem Kennzeichen einer Handlung liegt die Freiheit.
Wie steht es nun, von diesem Standpunkte aus, mit
der bereits oben (5. 22 und 16) erwähnten Unterscheidung
zwischen den beiden Sätzen: Frei sein heißt tun
können, was man will-und dem andern: Nach Belieben
begehren können und nicht begehren können sei der
eigentliche Sinn des Dogmas vorn freien Willen?
Hamerling begründet gerade seine Ansicht vom
freien Willen auf diese Unterscheidung, indem er das erste
für richtig, das zweite für eine absurde Tautologie
erklärt. Er sagt: Ich kann tun, was ich will.
Aber zu sagen: ich kann wollen, was ich will, ist eine leere
Tautologie. — Ob ich tun, das heißt, in Wirklichkeit
umsetzen kann, was ich will, was ich mir also als Idee meines
Tuns vorgesetzt habe, das hängt von äußeren
Umständen und von meiner technischen Geschicklichkeit
(vgl. S. 193 f.) ab. Frei sein heißt die dem Handeln
zugrunde liegenden Vorstellungen (Beweggründe) durch die
moralische Phantasie von sich aus bestimmen können.
Freiheit ist unmöglich, wenn etwas außer mir
(mechanischer Prozeß oder nur erschlossener
außerweltlicher Gott) meine moralischen Vorstellungen
bestimmt. Ich bin also nur dann frei, wenn ich
selbst diese Vorstellungen produziere, nicht, wenn ich die
Beweggründe, die ein anderes Wesen in mich gesetzt hat,
ausführen kann. Ein freies Wesen ist dasjenige,
welches wollen kann, was es selbst für richtig
hält. Wer etwas anderes tut, als er will, der muß
zu diesem anderen durch Motive getrieben werden, die nicht in
ihm liegen. Ein solcher handelt unfrei. Nach Belieben wollen
können, was man für richtig oder nicht richtig
hält, heißt also: nach Belieben frei oder unfrei
sein können. Das ist natürlich ebenso absurd, wie
die Freiheit in dem Vermögen zu sehen, tun zu
können, was man wollen muß. Das letztere aber
behauptet Hamerling, wenn er sagt: Es ist vollkommen wahr,
daß der Wille immer durch Beweggründe bestimmt
wird, aber es ist absurd zu sagen, daß er deshalb unfrei
sei; denn eine größere Freiheit läßt sich
für ihn weder wünschen noch denken, als die, sich
nach Maßgabe seiner eigenen Stärke und
Entschiedenheit zu verwirklichen. — Jawohl: es
läßt sich eine größere Freiheit
wünschen, und das ist erst die wahre. Nämlich die:
sich die Gründe seines Wollens selbst zu bestimmen.
Von der Ausführung dessen abzusehen, was er
will, dazu läßt sich der Mensch unter
Umständen bewegen. Sich vorschreiben zu lassen, was er
tun soll, das ist, zu wollen, was ein andrer und
nicht er für richtig hält, dazu ist er nur zu
haben, insofern er sich nicht frei fühlt.
Die äußeren Gewalten können mich
hindern, zu tun, was ich will. Dann verdammen sie mich
einfach zum Nichtstun oder zur Unfreiheit. Erst wenn sie
meinen Geist knechten und mir meine Beweggründe aus dem
Kopfe jagen und an deren Stelle die ihrigen setzen wollen,
dann beabsichtigen sie meine Unfreiheit. Die Kirche wendet
sich daher nicht bloß gegen das Tun, sondern
namentlich gegen die unreinen Gedanken, das ist: die
Beweggründe meines Handelns. Unfrei macht sie mich, wenn
ihr alle Beweggründe, die sie nicht angibt, als unrein
erscheinen. Eine Kirche oder eine andere Gemeinschaft erzeugt
dann Unfreiheit, wenn ihre Priester oder Lehrer sich zu
Gewissensgebietern machen, das ist, wenn die Gläubigen
sich von ihnen (aus dem Beichtstuhle) die Beweggründe
ihres Handelns holen müssen.
Zusatz zur Neuausgabe 1918. In diesen
Ausführungen über das menschliche Wollen ist
dargestellt, was der Mensch an seinen Handlungen erleben
kann, um durch dieses Erlebnis zu dem Bewußtsein zu
kommen: mein Wollen ist frei. Von besonderer Bedeutung ist,
daß die Berechtigung, ein Wollen als frei zu bezeichnen,
durch das Erlebnis erreicht wird: in dem Wollen verwirklicht
sich eine ideelle Intuition. Dies kann nur
Beobachtungsresultat sein, ist es aber in dem Sinne, in dem
das menschliche Wollen sich in einer
Entwickelungsströmung beobachtet, deren Ziel darin
liegt, solche von rein ideeller Intuition getragene
Möglichkeit des Wollens zu erreichen. Sie kann erreicht
werden, weil in der ideellen Intuition nichts als deren
eigene auf sich gebaute Wesenheit wirkt. Ist eine solche
Intuition im menschlichen Bewußtsein anwesend, dann ist
sie nicht aus den Vorgängen des Organismus heraus
entwickelt (s. S. 145 ff.), sondern die organische
Tätigkeit hat sich zurückgezogen, um der ideellen
Platz zu machen. Beobachte ich ein Wollen, das Abbild der
Intuition ist, dann ist auch aus diesem Wollen die organisch
notwendige Tätigkeit zurückgezogen. Das Wollen ist
frei. Diese Freiheit des Wollens wird der nicht beobachten
können, der nicht zu schauen vermag, wie das freie
Wollen darin besteht, daß erst durch das intuitive
Element das notwendige Wirken des menschlichen Organismus
abgelähmt, zurückgedrängt, und an seine Stelle
die geistige Tätigkeit des idee-erfüllten Willens
gesetzt wird. Nur wer diese Beobachtung der Zweigliedrigkeit
eines freien Wollens nicht machen kann, glaubt an die
Unfreiheit jedes Wollens. Wer sie machen kann, ringt sich zu
der Einsicht durch, daß der Mensch, insofern er den
Zurückdämmungsvorgang der organischen
Tätigkeit nicht zu Ende führen kann, unfrei ist;
daß aber diese Unfreiheit der Freiheit zustrebt, und
diese Freiheit keineswegs ein abstraktes Ideal ist, sondern
eine in der menschlichen Wesenheit liegende Richtkraft. Frei
ist der Mensch in dem Maße, als er in seinem Wollen
dieselbe Seelenstimmung verwirklichen kann, die in ihm lebt,
wenn er sich der Ausgestaltung rein ideeller (geistiger)
Intuitionen bewußt ist.
1. Nur
Oberflächlichkeit könnte im Gebrauch des Wortes
Vermögen an dieser und andern Stellen dieser Schrift
einen Rückfall in die Lehre der alten Psychologie
von den Seelenvermögen erblicken. Der Zusammenhang
mit dem 5. 95 f. Gesagten ergibt genau die Bedeutung des
Wortes.
2. Wenn Paulsen (5. 15
des angeführten Buches) sagt: «Verschiedene
Naturanlagen und Lebensbedingungen erfordern wie eine
verschiedene leibliche so auch eine verschiedene
geistig-moralische Diät«, so Ist er der
richtigen Erkenntnis ganz nahe, trifft aber den
entscheidenden Punkt doch nicht. Insofern ich Individuum
bin, brauche ich keine Diät. Diätetik
heißt die Kunst, das besondere Exemplar mit den
allgemeinen Gesetzen der Gattung in Einklang zu bringen.
Als Individuum bin ich aber kein Exemplar der
Gattung.
3. Daß wir
Gedanken (ethische Ideen) als Objekte der Beobachtung
bezeichnen, geschieht mit Recht. Denn wenn auch die
Gebilde des Denkens während der gedanklichen
Tätigkeit nicht mit ins Beobachtungsfeld eintreten,
so können sie doch nachher Gegenstand der
Beobachtung werden. Und auf diesem Wege haben wir unsere
Charakteristik des Handelns gewonnen.
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