XIII
Der Wert des Lebens
(Pessimismus und Optimismus)
Ein Gegenstück zu der Frage nach dem Zwecke
oder der Bestimmung des Lebens (vgl. S. 184 ff.) ist die nach
dessen Wert. Zwei entgegengesetzten Ansichten begegnen wir in
dieser Beziehung, und dazwischen allen denkbaren
Vermittlungsversuchen. Eine Ansicht sagt: Die Welt ist die
denkbar beste, die es geben kann, und das Leben und Handeln
in derselben ein Gut von unschätzbarem Werte. Alles
bietet sich als harmonisches und zweckmäßiges
Zusammenwirken dar und ist der Bewunderung wert. Auch das
scheinbar Böse und Üble ist von einem höheren
Standpunkte als gut erkennbar; denn es stellt einen
wohltuenden Gegensatz zum Guten dar; wir können dies um
so besser schätzen, wenn es sich von jenem abhebt. Auch
ist das Übel kein wahrhaft wirkliches; wir empfinden nur
einen geringeren Grad des Wohles als Übel. Das Übel
ist Abwesenheit des Guten; nichts was an sich Bedeutung
hat.
Die andere Ansicht ist die, welche behauptet: das
Leben ist voll Qual und Elend, die Unlust überwiegt
überall die Lust, der Schmerz die Freude. Das Dasein ist
eine Last, und das Nichtsein wäre dem Sein unter allen
Umständen vorzuziehen.
Als die Hauptvertreter der ersteren Ansicht, des
Optimismus, haben wir Shaftesbury und
Leibniz, als die der zweiten, des Pessimismus,
Schopenhauer und Eduard von Hartmann
aufzufassen.
Leibniz meint, die Welt ist die beste, die
es geben kann. Eine bessere ist unmöglich. Denn Gott ist
gut und weise. Ein guter Gott will die beste der
Welten schaffen; ein weiser kennt sie; er kann sie
von allen anderen möglichen schlechteren unterscheiden.
Nur ein böser oder unweiser Gott könnte eine
schlechtere als die bestmögliche Welt schaffen.
Wer von diesem Gesichtspunkte ausgeht, wird leicht
dem menschlichen Handeln die Richtung vorzeichnen
können, die es einschlagen muß, um zum Besten der
Welt das Seinige beizutragen. Der Mensch wird nur die
Ratschlüsse Gottes zu erforschen und sich danach zu
benehmen haben. Wenn er weiß, was Gott mit der Welt und
dem Menschengeschlecht für Absichten hat, dann wird er
auch das Richtige tun. Und er wird sich glücklich
fühlen, zu dem andern Guten auch das Seinige
hinzuzufügen. Vom optimistischen Standpunkt aus ist also
das Leben des Lebens wert. Es muß uns zur mitwirkenden
Anteilnahme anregen.
Anders stellt sich Schopenhauer die Sache
vor. Er denkt sich den Weltengrund nicht als allweises und
allgütiges Wesen, sondern als blinden Drang oder Willen.
Ewiges Streben, unaufhörliches Schmachten nach
Befriedigung, die doch nie erreicht werden kann, ist der
Grundzug alles Wollens. Denn ist ein erstrebtes Ziel
erreicht, so entsteht ein neues Bedürfnis und so weiter.
Die Befriedigung kann immer nur von verschwindend kleiner
Dauer sein. Der ganze übrige Inhalt unseres Lebens ist
unbefriedigtes Drängen, das ist Unzufriedenheit, Leiden.
Stumpft sich der blinde Drang endlich ab, so fehlt uns
jeglicher Inhalt; eine unendliche Langeweile erfüllt
unser Dasein. Daher ist das relativ Beste, Wünsche und
Bedürfnisse in sich zu ersticken, das Wollen zu
ertöten. Der Schopenhauersche Pessimismus führt zur
Tatenlosigkeit, sein sittliches Ziel ist
Universalfaulheit.
In wesentlich anderer Art sucht Hartmann
den Pessimismus zu begründen und für die Ethik
auszunutzen. Hartmann sucht, einem Lieblingsstreben unserer
Zeit folgend, seine Weltanschauung auf Erfahrung zu
begründen. Aus der Beobachtung des Lebens will
er Aufschluß darüber gewinnen, ob die Lust oder die
Unlust in der Welt überwiege. Er läßt, was den
Menschen als Gut und Glück erscheint, vor der Vernunft
Revue passieren, um zu zeigen, daß alle vermeintliche
Befriedigung bei genauerem Zusehen sich als Illusion
erweist. Illusion ist es, wenn wir glauben, in Gesundheit,
Jugend, Freiheit, auskömmlicher Existenz, Liebe (Ge
schlechtsgenuß), Mitleid, Freundschaft und
Familienleben, Ehrgefühl, Ehre, Ruhm, Herrschaft,
religiöser Erbauung, Wissenschafts, und Kunstbetrieb,
Hoffnung auf jenseitiges Leben, Beteiligung am
Kulturfortschritt-Quellen des Glükkes und der
Befriedigung zu haben. Vor einer nüchternen Betrachtung
bringt jeder Genuß viel mehr Übel und Elend als
Lust in die Welt. Die Unbehaglichkeit des Katzenjammers
ist stets größer als die Behaglichkeit des
Rausches. Die Unlust überwiegt bei weitem in der
Welt. Kein Mensch, auch der relativ glücklichste,
würde, gefragt, das elende Leben ein zweites Mal
durchmachen wollen. Da nun aber Hartmann die Anwesenheit des
Ideellen (der Weisheit) in der Welt nicht leugnet, ihm
vielmehr eine gleiche Berechtigung neben dem blinden Drange
(Willen) zugesteht, so kann er seinem Urwesen die
Schöpfung der Welt nur zumuten, wenn er den Schmerz der
Welt in einen weisen Weltzweck auslaufen läßt. Der
Schmerz der Weltwesen sei aber kein anderer als der
Gottesschmerz selbst, denn das Leben der Welt als Ganzes ist
identisch mit dem Leben Gottes. Ein allweises Wesen kann aber
sein Ziel nur in der Befreiung vom Leid sehen, und da alles
Dasein Leid ist, in der Befreiung vom Dasein. Das Sein in das
weit bessere Nichtsein überzuführen, ist der Zweck
der Weltschöpfung. Der Weltprozeß ist ein
fortwährendes Ankämpfen gegen den Gottesschmerz,
das zuletzt mit der Vernichtung alles Daseins endet. Das
sittliche Leben der Menschen wird also sein: Teilnahme an der
Vernichtung des Daseins. Gott hat die Welt erschaffen, damit
er sich durch dieselbe von seinem unendlichen Schmerze
befreie. Diese ist «gewissermaßen wie ein juckender
Ausschlag am Absoluten zu betrachten», durch den dessen
unbewußte Heilkraft sich von einer innern Krankheit
befreit, «oder auch als ein schmerzhaftes Zugpflaster,
welches das all-eine Wesen sich selbst appliziert, um einen
innern Schmerz zunächst nach außen abzulenken und
für die Folge zu beseitigen». Die Menschen sind
Glieder der Welt. In ihnen leidet Gott. Er hat sie
geschaffen, um seinen unendlichen Schmerz zu zersplittern.
Der Schmerz, den jeder einzelne von uns leidet, ist nur ein
Tropfen in dem unendlichen Meere des Gottesschmerzes
(Hartmann, Phä-nomenologie des sittlichen
Bewußtseins, S. 866 ff.).
Der Mensch hat sich mit der Erkenntnis zu
durchdringen, daß das Jagen nach individueller
Befriedigung (der Egoismus) eine Torheit ist, und hat sich
einzig von der Aufgabe leiten zu lassen, durch selbstlose
Hingabe an den Weltprozeß der Erlösung Gottes sich
zu widmen. Im Gegensatz zu dem Schopenhauers führt uns
Hartmanns Pessimismus zu einer hingebenden Tätigkeit
für eine erhabene Aufgabe.
Wie steht es aber mit der Begründung auf
Erfahrung?
Streben nach Befriedigung ist Hinausgreifen der
Lebenstätigkeit über den Lebensinhalt. Ein Wesen
ist hungrig, das heißt, es strebt nach Sättigung,
wenn seine organischen Funktionen zu ihrem weiteren Verlauf
Zuführung neuen Lebensinhaltes in Form von
Nahrungsmitteln verlangen. Das Streben nach Ehre besteht
darin, daß der Mensch sein persönliches Tun und
Lassen erst dann für wertvoll ansieht, wenn zu seiner
Betätigung die Anerkennung von außen kommt. Das
Streben nach Erkenntnis entsteht, wenn dem Menschen zu der
Welt, die er sehen, hören usw. kann, solange etwas
fehlt, als er sie nicht begriffen hat. Die Erfüllung des
Strebens erzeugt in dem strebenden Individuum Lust, die
Nichtbefriedigung Unlust. Es ist dabei wichtig zu beobachten,
daß Lust oder Unlust erst von der Erfüllung oder
Nichterfüllung meines Strebens abhängt. Das Streben
selbst kann keineswegs als Unlust gelten. Wenn es sich also
herausstellt, daß in dem Momente des Erfüllens
einer Bestrebung sich sogleich wieder eine neue einstellt, so
darf ich nicht sagen, die Lust hat für mich Unlust
geboren, weil unter allen Umständen der Genuß das
Begehren nach seiner Wiederholung oder nach einer neuen Lust
erzeugt. Erst wenn dieses Begehren auf die Unmöglichkeit
seiner Erfüllung stößt, kann ich von Unlust
sprechen. Selbst dann, wenn ein erlebter Genuß in mir
das Verlangen nach einem größeren oder
raffinierteren Lusterlebnis erzeugt, kann ich von einer durch
die erste Lust erzeugten Unlust erst in dem Augenblicke
sprechen, wenn mir die Mittel versagt sind, die
größere oder raffiniertere Lust zu erleben. Nur
dann, wenn als naturgesetzliche Folge des Genusses Unlust
eintritt, wie etwa beim Geschlechtsgenuß des Weibes
durch die Leiden des Wochenbettes und die Mühen der
Kinderpflege, kann ich in dem Genuß den Schöpfer
des Schmerzes finden. Wenn Streben als solches Unlust
hervorriefe, so müßte jede Beseitigung des Strebens
von Lust begleitet sein. Es ist aber das Gegenteil der Fall.
Der Mangel an Streben in unserem Lebensinhalte erzeugt
Langeweile, und diese ist mit Unlust verbunden. Da aber das
Streben naturgemäß lange Zeit dauern kann, bevor
ihm die Erfüllung zuteil wird und sich dann
vorläufig mit der Hoffnung auf dieselbe zufriedengibt,
so muß anerkannt werden, daß die Unlust mit dem
Streben als solchem gar nichts zu tun hat, sondern lediglich
an der Nichterfüllung desselben hängt. Schopenhauer
hat also unter allen Umständen unrecht, wenn er das
Begehren oder Streben (den Willen) an sich für den Quell
des Schmerzes hält.
In Wahrheit ist sogar das Gegenteil richtig.
Streben (Begehren) an sich macht Freude. Wer kennt nicht den
Genuß, den die Hoffnung auf ein entferntes, aber stark
begehrtes Ziel bereitet? Diese Freude ist die Begleiterin der
Arbeit, deren Früchte uns in Zukunft erst zuteil werden
sollen. Diese Lust ist ganz unabhängig von der
Erreichung des Zieles. Wenn dann das Ziel erreicht ist, dann
kommt zu der Lust des Strebens die der Erfüllung als
etwas Neues hinzu. Wer aber sagen wollte: zur Unlust durch
ein nichtbefriedigtes Ziel kommt auch noch die über die
getäuschte Hoffnung und mache zuletzt die Unlust an der
Nichterfüllung doch größer, als die etwaige
Lust an der Erfüllung, dem ist zu erwidern: es kann auch
das Gegenteil der Fall sein; der Rückblick auf den
Genuß in der Zeit des unerfüllten Begehrens wird
ebenso oft lindernd auf die Unlust durch Nichterfüllung
wirken. Wer im Anblicke gescheiterter Hoffnungen ausruft: Ich
habe das Meinige getan! der ist ein Beweisobjekt für
diese Behauptung. Das beseligende Gefühl, nach
Kräften das Beste gewollt zu haben, übersehen
diejenigen, welche an jedes nichterfüllte Begehren die
Behauptung knüpfen, daß nicht nur allein die Freude
an der Erfüllung ausgeblieben, sondern auch der
Genuß des Begehrens selbst zerstört ist.
Erfüllung eines Begehrens ruft Lust und
Nichterfüllung eines solchen Unlust hervor. Daraus darf
nicht geschlossen werden: Lust ist Befriedigung eines
Begehrens, Unlust Nichtbefriedigung. Sowohl Lust wie Unlust
können sich in einem Wesen einstellen, auch ohne
daß sie Folgen eines Begehrens sind. Krankheit ist
Unlust, der kein Begehren vorausgeht. Wer behaupten wollte:
Krankheit sei unbefriedigtes Begehren nach Gesundheit, der
beginge den Fehler, daß er den selbstverständlichen
und nicht zum Bewußtsein gebrachten Wunsch, nicht krank
zu werden, für ein positives Begehren hielte. Wenn
jemand von einem reichen Verwandten, von dessen Existenz er
nicht die geringste Ahnung hatte, eine Erbschaft macht, so
erfüllt ihn diese Tatsache ohne vorangegangenes Begehren
mit Lust.
Wer also untersuchen will, ob auf Seite der Lust
oder der Unlust ein Überschuß zu finden ist, der
muß in Rechnung bringen: die Lust am Begehren, die an
der Erfüllung des Begehrens, und diejenige, die uns
unerstrebt zuteil wird. Auf die andere Seite des Kontobuches
wird zu stehen kommen: Unlust aus Langeweile, solche aus
nicht erfülltem Streben, und endlich solche, die ohne
unser Begehren an uns herantritt. Zu der letzteren Gattung
gehört auch die Unlust, die uns aufgedrängte, nicht
selbst gewählte Arbeit verursacht.
Nun entsteht die Frage: welches ist das rechte
Mittel, um aus diesem Soll und Haben die
Bilanz zu erhalten? Eduard von Hartmann ist der
Meinung, daß es die abwägende Vernunft ist. Er sagt
zwar (Philosophie des Unbewußten, 7. Auflage II. Band,
S. 290): «Schmerz und Lust sind nur, insofern
sie empfunden werden.» Hieraus folgt, daß
es für die Lust keinen andern Maßstab gibt als den
subjektiven des Gefühles. Ich muß
empfinden, ob die Summe meiner Unlustgefühle
zusammengestellt mit meinen Lustgefühlen in mir einen
Überschuß von Freude oder Schmerz ergibt. Dessen
ungeachtet behauptet Hartmann: «Wenn ... der
Lebenswert jedes Wesens nur nach seinem eigenen subjektiven
Maßstabe in Anschlag gebracht werden kann ..., so ist
doch damit keineswegs gesagt, daß jedes Wesen aus den
sämtlichen Affektionen seines Lebens die
richtige algebraische Summe ziehe, oder mit anderen
Worten, daß sein Gesamturteil über sein
eigenes Leben ein in bezug auf seine subjektiven Erlebnisse
richtiges sei.» Damit wird doch wieder die
vernunftgemäße Beurteilung des
Gefühles zum Wertschätzer gemacht[1].
Wer sich der Vorstellungsrichtung solcher Denker
wie Eduard von Hartmann mehr oder weniger genau
anschließt, der kann glauben, er müsse, um zu einer
richtigen Bewertung des Lebens zu kommen, die Faktoren aus
dem Wege räumen, die unser Urteil über die
Lust, und Unlustbilanz verfälschen. Er kann das auf zwei
Wegen zu erreichen suchen. Erstens indem er
nachweist, daß unser Begehren (Trieb, Wille) sich
störend in unsere nüchterne Beurteilung des
Gefühlswertes einmischt. Während wir uns zum
Beispiel sagen müßten, daß der
Geschlechtsgenuß eine Quelle des Übels ist,
verführt uns der Umstand, daß der Geschlechtstrieb
in uns mächtig ist, dazu, uns eine Lust vorzugaukeln,
die in dem Maße gar nicht da ist. Wir wollen
genießen; deshalb gestehen wir uns nicht, daß wir
unter dem Genusse leiden. Zweitens indem er die
Gefühle einer Kritik unterwirft und nachzuweisen sucht,
daß die Gegenstände, an die sich die Gefühle
knüpfen, vor der Vernunfterkenntnis sich als Illusionen
erweisen, und daß sie in dem Augenblicke
zerstört werden, wenn unsere stets wachsende Intelligenz
die Illusionen durchschaut.
Er kann sich die Sache folgendermaßen denken.
Wenn ein Ehrgeiziger sich darüber klar werden will, ob
bis zu dem Augenblicke, in dem er seine Betrachtung anstellt,
die Lust oder die Unlust den überwiegenden Anteil an
seinem Leben gehabt hat, dann muß er sich von zwei
Fehlerquellen bei seiner Beurteilung frei machen. Da er
ehrgeizig ist, wird dieser Grundzug seines Charakters ihm die
Freuden über Anerkennung seiner Leistungen durch ein
Vergrößerungsglas, die Kränkungen durch
Zurücksetzungen aber durch ein Verkleinerungsglas
zeigen. Damals, als er die Zurücksetzungen erfuhr,
fühlte er die Kränkungen, gerade weil er ehrgeizig
ist; in der Erinnerung erscheinen sie in milderem Lichte,
während sich die Freuden über Anerkennungen,
für die er so zugänglich ist, um so tiefer
einprägen. Nun ist es zwar für den Ehrgeizigen eine
wahre Wohltat, daß es so ist. Die Täuschung
vermindert sein Unlustgefühl in dem Augenblicke der
Selbstbeobachtung. Dennoch ist seine Beurteilung eine
falsche. Die Leiden, über die sich ihm ein Schleier
breitet, hat er wirklich durchmachen müssen in ihrer
ganzen Stärke, und er setzt sie somit in das Kontobuch
seines Lebens tatsächlich falsch ein. Um zu einem
richtigen Urteile zu kommen, müßte der Ehrgeizige
für den Moment seiner Betrachtung sich seines Ehrgeizes
entledigen. Er müßte ohne Gläser vor seinem
geistigen Auge sein bisher abgelaufenes Leben betrachten. Er
gleicht sonst dem Kaufmanne, der beim Abschluß seiner
Bücher seinen Geschäftseifer mit auf die
Einnahmeseite setzt.
Er kann aber noch weiter gehen. Er kann sagen: Der
Ehrgeizige wird sich auch klarmachen, daß die
Anerkennungen, nach denen er jagt, wertlose Dinge sind. Er
wird selbst zur Einsicht kommen, oder von andern dazu
gebracht werden, daß einem vernünftigen Menschen an
der Anerkennung von seiten der Menschen nichts liegen
könne, da man ja «in allen solchen Sachen, die
nicht Lebensfragen der Entwickelung, oder gar von der
Wissenschaft schon endgültig gelöst sind»,
immer darauf schwören kann, «daß die
Majoritäten unrecht und die Minoritäten recht
haben». «Einem solchen Urteile gibt derjenige sein
Lebensglück in die Hände, welcher den Ehrgeiz zu
seinem Leitstern macht.» (Philosophie des
Unbewußten, II. Band, S. 332.) Wenn sich der Ehrgeizige
das alles sagt, dann muß er als eine Illusion
bezeichnen, was ihm sein Ehrgeiz als Wirklichkeit vorgestellt
hat, folglich auch die Gefühle, die sich an die
entsprechenden Illusionen seines Ehrgeizes knüpfen. Aus
diesem Grunde könnte dann gesagt werden: es muß
auch noch das aus dem Konto der Lebenswerte gestrichen
werden, was sich an Lustgefühlen aus Illusionen ergibt;
was dann übrig bleibt, stelle die illusionsfreie
Lustsumme des Lebens dar, und diese sei gegen die Unlustsumme
so klein, daß das Leben kein Genuß, und Nichtsein
dem Sein vorzuziehen sei.
Aber während es unmittelbar einleuchtend ist,
daß die durch Einmischung des ehrgeizigen Triebes
bewirkte Täuschung bei Aufstellung der Lustbilanz ein
falsches Resultat bewirkt, muß das von der Erkenntnis
des illusorischen Charakters der Gegenstände der Lust
Gesagte jedoch bestritten werden. Ein Ausscheiden aller an
wirkliche oder vermeintliche Illusionen sich knüpfenden
Lustgefühle von der Lustbilanz des Lebens würde die
letztere geradezu verfälschen. Denn der Ehrgeizige hat
über die Anerkennung der Menge wirklich seine Freude
gehabt, ganz gleichgültig, ob er selbst später,
oder ein anderer diese Anerkennung als Illusion erkennt.
Damit wird die genossene freudige Empfindung nicht um das
geringste kleiner gemacht. Die Ausscheidung aller solchen
«illusorischen» Gefühle aus der Lebensbilanz
stellt nicht etwa unser Urteil über die Gefühle
richtig, sondern löscht wirklich vorhandene Gefühle
aus dem Leben aus.
Und warum sollen diese Gefühle ausgeschieden
werden? Wer sie hat, bei dem sind sie eben lustbereitend; wer
sie überwunden hat, bei dem tritt durch das Erlebnis der
Überwindung (nicht durch die selbstgefällige
Empfindung: Was bin ich doch für ein Mensch! — sondern
durch die objektiven Lustquellen, die in der Überwindung
liegen) eine allerdings vergeistigte, aber darum nicht minder
bedeutsame Lust ein. Wenn Gefühle aus der Lustbilanz
gestrichen werden, weil sie sich an Gegenstände heften,
die sich als Illusionen entpuppen, so wird der Wert des
Lebens nicht von der Menge der Lust, sondern von der
Qualität der Lust und diese von dem Werte der die Lust
verursachenden Dinge abhängig gemacht. Wenn ich den Wert
des Lebens aber erst aus der Menge der Lust oder Unlust
bestimmen will, das es mir bringt, dann darf ich nicht etwas
anderes voraussetzen, wodurch ich erst wieder den Wert oder
Unwert der Lust bestimme. Wenn ich sage: ich will die
Lustmenge mit der Unlustmenge vergleichen und sehen, welche
größer ist, dann muß ich auch alle Lust und
Unlust in ihren wirklichen Größen in Rechnung
bringen, ganz abgesehen davon, ob ihnen eine Illusion
zugrunde liegt oder nicht. Wer einer auf Illusion beruhenden
Lust einen geringeren Wert für das Leben zuschreibt, als
einer solchen, die sich vor der Vernunft rechtfertigen
läßt, der macht eben den Wert des Lebens noch von
anderen Faktoren abhängig als von der Lust.
Wer die Lust deshalb geringer veranschlägt,
weil sie sich an einen eitlen Gegenstand knüpft, der
gleicht einem Kaufmanne, der das bedeutende Erträgnis
einer Spielwarenfabrik deshalb mit dem Viertel des Betrages
in sein Konto einsetzt, weil in derselben Gegenstände
zur Tändelei für Kinder produziert werden.
Wenn es sich bloß darum handelt, die Lust, und
Unlustmenge gegeneinander abzuwägen, dann ist also der
illusorische Charakter der Gegenstände gewisser
Lustempfindungen völlig aus dem Spiele zu lassen.
Der von Hartmann empfohlene Weg vernünftiger
Betrachtung der vom Leben erzeugten Lust, und Unlustmenge hat
uns also bisher so weit geführt, daß wir wissen,
wie wir die Rechnung aufzustellen haben, was wir auf die
eine, was auf die andere Seite unseres Kontobuches zu setzen
haben. Wie soll aber nun die Rechnung gemacht werden? Ist die
Vernunft auch geeignet, die Bilanz zu bestimmen?
Der Kaufmann hat in seiner Rechnung einen Fehler
gemacht, wenn der berechnete Gewinn sich mit den
durch das Geschäft nachweislich genossenen oder noch zu
genießenden Gütern nicht deckt. Auch der Philosoph
wird unbedingt einen Fehler in seiner Beurteilung gemacht
haben, wenn er den etwa ausgeklügelten
Überschuß an Lust beziehungsweise Unlust in der
Empfindung nicht nachweisen kann.
Ich will vorläufig die Rechnung der auf
vernunftgemäße Weltbetrachtung sich stütz
enden Pessimisten nicht kontrollieren; wer aber sich
entscheiden soll, ob er das Lebensgeschäft
weiterführen soll oder nicht, der wird erst den Nachweis
verlangen, wo der berechnete Überschuß an Unlust
steckt.
Hiermit haben wir den Punkt berührt, wo die
Vernunft nicht in der Lage ist, den
Überschuß an Lust oder Unlust allein von sich aus
zu bestimmen, sondern wo sie diesen Überschuß im
Leben als Wahrnehmung zeigen muß. Nicht in dem Begriff
allein, sondern in dem durch das Denken vermittelten
Ineinandergreifen von Begriff und Wahrnehmung (und
Gefühl ist Wahrnehmung) ist dem Menschen das Wirkliche
erreichbar (vgl. S. 88ff.). Der Kaufmann wird ja auch sein
Geschäft erst dann aufgeben, wenn der von seinem
Buchhalter berechnete Verlust an Gütern sich durch die
Tatsachen bestätigt. Wenn das nicht der Fall ist, dann
läßt er den Buchhalter die Rechnung nochmals
machen. Genau in derselben Weise wird es der im Leben
stehende Mensch machen. Wenn der Philosoph ihm beweisen will,
daß die Unlust weit größer ist als die Lust,
er jedoch das nicht empfindet, dann wird er sagen: du hast
dich in deinem Grübeln geirrt, denke die Sache nochmals
durch. Sind aber in einem Geschäfte zu einem bestimmten
Zeitpunkte wirklich solche Verluste vorhanden, daß kein
Kredit mehr ausreicht, um die Gläubiger zu befriedigen,
so tritt auch dann der Bankerott ein, wenn der Kaufmann es
vermeidet, durch Führung der Bücher Klarheit
über seine Angelegenheiten zu haben. Ebenso
müßte es, wenn das Unlustquantum bei einem Menschen
in einem bestimmten Zeitpunkte so groß würde,
daß keine Hoffnung (Kredit) auf künftige Lust ihn
über den Schmerz hinwegsetzen könnte, zum Bankerott
des Lebensgeschäftes führen.
Nun ist aber die Zahl der Selbstmörder doch
eine relativ geringe im Verhältnis zu der Menge
derjenigen, die mutig weiterleben. Die wenigsten Menschen
stellen das Lebensgeschäft der vorhandenen Unlust willen
ein. Was folgt daraus? Entweder, daß es nicht richtig
ist, zu sagen, die Unlustmenge sei größer als die
Lustmenge, oder daß wir unser Weiterleben gar nicht von
der empfundenen Lust-oder Unlustmenge abhängig
machen.
Auf eine ganz eigenartige Weise kommt der
Pessimismus Eduard von Hartmanns dazu, das Leben wertlos zu
erklären, weil darinnen der Schmerz überwiegt, und
doch die Notwendigkeit zu behaupten, es durchzumachen. Diese
Notwendigkeit liegt darin, daß der oben (S. 207ff.)
angegebene Weltzweck nur durch rastlose, hingebungsvolle
Arbeit der Menschen erreicht werden kann. Solange aber die
Menschen noch ihren egoistischen Gelüsten nachgehen,
sind sie zu solcher selbstlosen Arbeit untauglich. Erst wenn
sie sich durch Erfahrung und Vernunft überzeugt haben,
daß die vom Egoismus erstrebten Lebensgenüsse nicht
erlangt werden können, widmen sie sich ihrer
eigentlichen Aufgabe. Auf diese Weise soll die pessimistische
Überzeugung der Quell der Selbstlosigkeit sein. Eine
Erziehung auf Grund des Pessimismus soll den Egoismus dadurch
ausrotten, daß sie ihm seine Aussichtslosigkeit vor
Augen stellt.
Nach dieser Ansicht liegt also das Streben nach
Lust ursprünglich in der Menschennatur begründet.
Nur aus Einsicht in die Unmöglichkeit der Erfüllung
dankt dieses Streben zugunsten höherer
Menschheitsaufgaben ab.
Von der sittlichen Weltanschauung, die von der
Anerkennung des Pessimismus die Hingabe an unegoistische
Lebensziele erhofft, kann nicht gesagt werden, daß sie
den Egoismus im wahren Sinne des Wortes überwinde. Die
sittlichen Ideale sollen erst dann stark genug sein, sich des
Willens zu bemächtigen, wenn der Mensch eingesehen hat,
daß das selbstsüchtige Streben nach Lust zu keiner
Befriedigung führen kann. Der Mensch, dessen Selbstsucht
nach den Trauben der Lust begehrt, findet sie sauer, weil er
sie nicht erreichen kann: er geht von ihnen und widmet sich
einem selbstlosen Lebenswandel. Die sittlichen Ideale sind,
nach der Meinung der Pessimisten, nicht stark genug, den
Egoismus zu überwinden; aber sie errichten ihre
Herrschaft auf dem Boden, den ihnen vorher die Erkenntnis von
der Aussichtslosigkeit der Selbstsucht frei gemacht hat.
Wenn die Menschen ihrer Naturanlage nach die Lust
erstrebten, sie aber unmöglich erreichen können,
dann wäre Vernichtung des Daseins und Erlösung
durch das Nichtsein das einzig vernünftige Ziel. Und
wenn man der Ansicht ist, daß der eigentliche
Träger des Weltschmerzes Gott sei, so müßten
die Menschen es sich zur Aufgabe machen, die Erlösung
Gottes herbeizuführen. Durch den Selbstmord des
einzelnen wird die Erreichung dieses Zieles nicht
gefördert, sondern beeinträchtigt. Gott kann
vernünftigerweise die Menschen nur geschaffen haben,
damit sie durch ihr Handeln seine Erlösung
herbeiführen. Sonst wäre die Schöpfung
zwecklos. Und an außermenschliche Zwecke denkt eine
solche Weltansicht. Jeder muß in dem allgemeinen
Erlösungswerke seine bestimmte Arbeit verrichten.
Entzieht er sich derselben durch den Selbstmord, so muß
die ihm zugedachte Arbeit von einem andern verrichtet werden.
Dieser muß statt ihm die Daseinsqual ertragen. Und da in
jedem Wesen Gott steckt als der eigentliche
Schmerzträger, so hat der Selbstmörder die Menge
des Gottesschmerzes nicht im geringsten vermindert, vielmehr
Gott die neue Schwierigkeit auferlegt, für ihn einen
Ersatzmann zu schaffen.
Dies alles setzt voraus, daß die Lust ein
Wertmaßstab für das Leben sei. Das Leben
äußert sich durch eine Summe von Trieben
(Bedürfnissen). Wenn der Wert des Lebens davon abhinge,
ob es mehr Lust oder Unlust bringt, dann ist der Trieb als
wertlos zu bezeichnen, der seinem Träger einen
Überschuß der letzteren einträgt. Wir wollen
einmal Trieb und Lust daraufhin ansehen, ob der erste durch
die zweite gemessen werden kann. Um nicht den Verdacht zu
erwecken, das Leben erst mit der Sphäre der
«Geistesaristokratie» anfangen zu lassen, beginnen
wir mit einem «rein tierischen» Bedürfnis, dem
Hunger.
Der Hunger entsteht, wenn unsere Organe ohne neue
Stoffzufuhr nicht weiter ihrem Wesen gemäß
funktionieren können. Was der Hungrige zunächst
erstrebt, ist die Sättigung. Sobald die Nahrungszufuhr
in dem Maße erfolgt ist, daß der Hunger
aufhört, ist alles erreicht, was der
Ernährungstrieb erstrebt. Der Genuß, der sich an
die Sättigung knüpft, besteht fürs erste in
der Beseitigung des Schmerzes, den der Hunger bereitet. Zu
dem bloßen Ernährungstriebe tritt ein anderes
Bedürfnis. Der Mensch will durch die Nahrungsaufnahme
nicht bloß seine gestörten Organfunktionen wieder
in Ordnung bringen, beziehungsweise den Schmerz des Hungers
überwinden: er sucht dies auch unter Begleitung
angenehmer Geschmacksempfindungen zu bewerkstelligen. Er kann
sogar, wenn er Hunger hat und eine halbe Stunde vor einer
genußreichen Mahlzeit steht, es vermeiden, durch
minderwertige Kost, die ihn früher befriedigen
könnte, sich die Lust für das Bessere zu verderben.
Er braucht den Hunger, um von seiner Mahlzeit den vollen
Genuß zu haben. Dadurch wird ihm der Hunger zugleich zum
Veranlasser der Lust. Wenn nun aller in der Welt vorhandene
Hunger gestillt werden könnte, dann ergäbe sich die
volle Genußmenge, die dem Vorhandensein des
Nahrungsbedürfnisses zu verdanken ist. Hinzuzurechnen
wäre noch der besondere Genuß, den
Leckermäuler durch eine über das Gewöhnliche
hinausgehende Kultur ihrer Geschmacksnerven erzielen.
Den denkbar größten Wert hätte diese
Genußmenge, wenn kein auf die in Betracht kommende
Genußart hinzielendes Bedürfnis unbefriedigt
bliebe, und wenn mit dem Genuß nicht zugleich eine
gewisse Menge Unlust in den Kauf genommen werden
müßte.
Die moderne Naturwissenschaft ist der Ansicht,
daß die Natur mehr Leben erzeugt, als sie erhalten kann,
das heißt, auch mehr Hunger hervorbringt, als sie zu
befriedigen in der Lage ist. Der Überschuß an
Leben, der erzeugt wird, muß unter Schmerzen im Kampf
ums Dasein zugrunde gehen. Zugegeben: die
Lebensbedürfnisse seien in jedem Augenblicke des
Weltgeschehens größer, als den vorhandenen
Befriedigungsmitteln entspricht, und der Lebensgenuß
werde dadurch beeinträchtigt. Der wirklich vorhandene
einzelne Lebensgenuß wird aber nicht um das geringste
kleiner gemacht. Wo Befriedigung des Begehrens eintritt, da
ist die entsprechende Genußmenge vorhanden, auch wenn es
in dem begehrenden Wesen selbst oder in andern daneben eine
reiche Zahl unbefriedigter Triebe gibt. Was aber dadurch
vermindert wird, ist der Wert des Lebensgenusses.
Wenn nur ein Teil der Bedürfnisse eines Lebewesens
Befriedigung findet, so hat dieses einen dementsprechenden
Genuß. Dieser hat einen um so geringeren Wert, je
kleiner er ist im Verhältnis zur Gesamtforderung des
Lebens im Gebiete der in Frage kommenden Begierden. Man kann
sich diesen Wert durch einen Bruch dargestellt denken, dessen
Zähler der wirklich vorhandene Genuß und dessen
Nenner die Bedürfnissumme ist. Der Bruch hat den Wert 1,
wenn Zähler und Nenner gleich sind, das heißt, wenn
alle Bedürfnisse auch befriedigt werden. Er wird
größer als 1, wenn in einem Lebewesen mehr Lust
vorhanden ist, als seine Begierden fordern; und er ist
kleiner als 1, wenn die Genußmenge hinter der Summe der
Begierden zurückbleibt. Der Bruch kann aber nie
Null werden, solange der Zähler auch nur den
geringsten Wert hat. Wenn ein Mensch vor seinem Tode den
Rechnungsabschluß machte, und die auf einen bestimmten
Trieb (zum Beispiel den Hunger) kommende Menge des Genusses
sich über das ganze Leben mit allen Forderungen dieses
Triebes verteilt dächte, so hätte die erlebte Lust
vielleicht nur einen geringen Wert; wertlos aber kann sie nie
werden. Bei gleichbleibender Genußmenge nimmt mit der
Vermehrung der Bedürfnisse eines Lebewesens der Wert der
Lebenslust ab. Ein gleiches gilt für die Summe alles
Lebens in der Natur. Je größer die Zahl der
Lebewesen ist im Verhältnis zu der Zahl derer, die
volleBefriedigung ihrer Triebe finden können, desto
geringer ist der durchschnittliche Lustwert des Lebens. Die
Wechsel auf den Lebensgenuß, die uns in unseren Trieben
ausgestellt sind, werden eben billiger, wenn man nicht hoffen
kann, sie für den vollen Betrag einzulösen. Wenn
ich drei Tage lang genug zu essen habe und dafür dann
weitere drei Tage hungern muß, so wird der Genuß an
den drei Eßtagen dadurch nicht geringer. Aber ich
muß mir ihn dann auf sechs Tage verteilt denken, wodurch
sein Wert für meinen Ernährungstrieb auf
die Hälfte herabgemindert wird. Ebenso verhält es
sich mit der Größe der Lust im Verhältnis zum
Grade meines Bedürfnisses. Wenn ich Hunger
für zwei Butterbrote habe, und nur eines bekommen kann,
so hat der aus dem einen gezogene Genuß nur die
Hälfte des Wertes, den er haben würde, wenn ich
nach der Aufzehrung satt wäre. Dies ist die Art, wie im
Leben der Wert einer Lust bestimmt wird. Sie wird bemessen an
den Bedürfnissen des Lebens. Unsere Begierden sind der
Maßstab; die Lust ist das Gemessene. Der
Sättigungsgenuß erhält nur dadurch einen Wert,
daß Hunger vorhanden ist; und er erhält einen Wert
von bestimmter Größe durch das Verhältnis, in
dem er zu der Größe des vorhandenen Hungers
steht.
Unerfüllte Forderungen unseres Lebens werfen
ihre Schatten auch auf die befriedigten Begierden und
beeinträchtigen den Wert genußreicher
Stunden. Man kann aber auch von dem gegenwärtigen
Wert eines Lustgefühles sprechen. Dieser Wert ist
um so geringer, je kleiner die Lust im Verhältnis zur
Dauer und Stärke unserer Begierde ist.
Vollen Wert hat für uns eine Lustmenge, die an
Dauer und Grad genau mit unserer Begierde übereinstimmt.
Eine gegenüber unserem Begehren kleinere Lustmenge
vermindert den Lustwert; eine größere erzeugt einen
nicht verlangten Überschuß, der nur so lange als
Lust empfunden wird, als wir während des Genießens
unsere Begierde zu steigern vermögen. Sind wir nicht
imstande, in der Steigerung unseres Verlangens mit der
zunehmenden Lust gleichen Schritt zu halten, so verwandelt
sich die Lust in Unlust. Der Gegenstand, der uns sonst
befriedigen würde, stürmt auf uns ein, ohne
daß wir es wollen, und wir leiden darunter. Dies ist ein
Beweis dafür, daß die Lust nur so lange für
uns einen Wert hat, als wir sie an unserer Begierde messen
können. Ein Übermaß von angenehmem Gefühl
schlägt in Schmerz um. Wir können das besonders bei
Menschen beobachten, deren Verlangen nach irgendeiner Art von
Lust sehr gering ist. Leuten, deren Nahrungstrieb abgestumpft
ist, wird das Essen leicht zum Ekel. Auch daraus geht hervor,
daß die Begierde der Wertmesser der Lust ist.
Nun kann der Pessimismus sagen: der unbefriedigte
Nahrungstrieb bringe nicht nur die Unlust über den
entbehrten Genuß, sondern positive Schmerzen, Qual und
Elend in die Welt. Er kann sich hierbei berufen auf das
namenlose Elend der von Nahrungssorgen heimgesuchten
Menschen; auf die Summe von Unlust, die solchen Menschen
mittelbar aus dem Nahrungsmangel erwächst. Und wenn er
seine Behauptung auch auf die außermenschliche Natur
anwenden will, kann er hinweisen auf die Qualen der Tiere,
die in gewissen Jahreszeiten aus Nahrungsmangel verhungern.
Von diesen Übeln behauptet der Pessimist, daß sie
die durch den Nahrungstrieb in die Welt gesetzte
Genußmenge reichlich überwiegen.
Es ist ja zweifellos, daß man Lust
und Unlust miteinander vergleichen und den
Überschuß der einen oder der andern bestimmen kann,
wie das bei Gewinn und Verlust geschieht.
Wenn aber der Pessimismus glaubt, daß auf Seite der
Unlust sich ein Überschuß ergibt, und er daraus auf
die Wertlosigkeit des Lebens schließen zu können
meint, so ist er schon insofern im Irrtum, als er eine
Rechnung macht, die im wirklichen Leben nicht ausgeführt
wird.
Unsere Begierde richtet sich im einzelnen Falle auf
einen bestimmten Gegenstand. Der Lustwert der Befriedigung
wird, wie wir gesehen haben, um so größer sein, je
größer die Lustmenge im Verhältnis zur
Größe unseres Begehrens ist[2]. Von der Größe unseres Begehrens
hängt es aber auch ab, wie groß die Menge der
Unlust ist, die wir mit in Kauf nehmen wollen, um die Lust zu
erreichen. Wir vergleichen die Menge der Unlust nicht mit der
der Lust, sondern mit der Größe unserer Begierde.
Wer große Freude am Essen hat, der wird wegen des
Genusses in besseren Zeiten sich leichter über eine
Periode des Hungers hinweghelfen, als ein anderer, dem diese
Freude an der Befriedigung des Nahrungstriebes fehlt. Das
Weib, das ein Kind haben will, vergleicht nicht die Lust, die
ihm aus dessen Besitz erwächst, mit den Unlustmengen,
die aus Schwangerschaft, Kindbett, Kinderpflege und so weiter
sich ergeben, sondern mit seiner Begierde nach dem Besitz des
Kindes.
Wir erstreben niemals eine abstrakte Lust von
bestimmter Größe, sondern die konkrete Befriedigung
in einer ganz bestimmten Weise. Wenn wir nach einer Lust
streben, die durch einen bestimmten Gegenstand oder eine
bestimmte Empfindung befriedigt werden muß, so
können wir nicht dadurch befriedigt werden, daß uns
ein anderer Gegenstand oder eine andere Empfindung zuteil
wird, die uns eine Lust von gleicher Größe
bereitet. Wer nach Sättigung strebt, dem kann man die
Lust an derselben nicht durch eine gleich große, aber
durch einen Spaziergang erzeugte ersetzen. Nur wenn unsere
Begierde ganz allgemein nach einem bestimmten Lustquantum
strebte, dann müßte sie sofort verstummen, wenn
diese Lust nicht ohne ein sie an Größe
überragendes Unlustquantum zu erreichen wäre. Da
aber die Befriedigung auf eine bestimmte Art erstrebt wird,
so tritt die Lust mit der Erfüllung auch dann ein, wenn
mit ihr eine sie überwiegende Unlust in Kauf genommen
werden muß. Dadurch, daß sich die Triebe der
Lebewesen in einer bestimmten Richtung bewegen und auf ein
konkretes Ziel losgehen, hört die Möglichkeit auf,
die auf dem Wege zu diesem Ziele sich entgegenstellende
Unlustmenge als gleichgeltenden Faktor mit in Rechnung zu
bringen. Wenn die Begierde nur stark genug ist, um nach
Überwindung der Unlust — und sei sie absolut genommen
noch so groß — noch in irgendeinem Grade vorhanden zu
sein, so kann die Lust an der Befriedigung doch noch in
voller Größe durchgekostet werden. Die Begierde
bringt also die Unlust nicht direkt in Beziehung zu der
erreichten Lust, sondern indirekt, indem sie ihre eigene
Größe (im Verhältnis) zu der der Unlust in
eine Beziehung bringt. Nicht darum handelt es sich, ob die zu
erreichende Lust oder Unlust größer ist, sondern
darum, ob die Begierde nach dem erstrebten Ziele oder der
Widerstand der entgegentretenden Unlust größer ist.
Ist dieser Widerstand größer als die Begierde, dann
ergibt sich die letztere in das Unvermeidliche, erlahmt und
strebt nicht weiter. Dadurch, daß Befriedigung in einer
bestimmten Art verlangt wird, gewinnt die mit ihr
zusammenhängende Lust eine Bedeutung, die es
ermöglicht, nach eingetretener Befriedigung das
notwendige Unlustquantum nur insofern in die Rechnung
einzustellen, als es das Maß unserer Begierde verringert
hat. Wenn ich ein leidenschaftlicher Freund von Fernsichten
bin, so berechne ich niemals: wieviel Lust macht mir der
Blick von dem Berggipfel aus, direkt verglichen mit der
Unlust des mühseligen Auf, und Abstiegs. Ich
überlege aber: ob nach Überwindung der
Schwierigkeiten meine Begierde nach der Fernsicht noch
lebhaft genug sein wird. Nur mittelbar durch die
Größe der Begierde können Lust und Unlust
zusammen ein Ergebnis liefern. Es fragt sich also gar nicht,
ob Lust oder Unlust im Übermaße vorhanden ist,
sondern ob das Wollen der Lust stark genug ist, die Unlust zu
überwinden.
Ein Beweis für die Richtigkeit dieser
Behauptung ist der Umstand, daß der Wert der Lust
höher angeschlagen wird, wenn sie durch große
Unlust erkauft werden muß, als dann, wenn sie uns
gleichsam wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß
fällt. Wenn Leiden und Qualen unsere Begierde
herabgestimmt haben, und dann das Ziel doch noch erreicht
wird, dann ist eben die Lust im Verhältnis zu
dem noch übriggebliebenen Quantum der Begierde um so
größer. Dieses Verhältnis stellt
aber, wie ich gezeigt habe, den Wert der Lust dar
(vgl. S. 221ff.). Ein weiterer Beweis ist dadurch gegeben,
daß die Lebewesen (einschließlich des Menschen)
ihre Triebe so lange zur Entfaltung bringen, als sie imstande
sind, die entgegenstehenden Schmerzen und Qualen zu ertragen.
Und der Kampf ums Dasein ist nur die Folge dieser Tatsache.
Das vorhandene Leben strebt nach Entfaltung, und nur
derjenige Teil gibt den Kampf auf, dessen Begierden durch die
Gewalt der sich auftürmenden Schwierigkeiten erstickt
werden. Jedes Lebewesen sucht so lange nach Nahrung, bis der
Nahrungsmangel sein Leben zerstört. Und auch der Mensch
legt erst Hand an sich selber, wenn er (mit Recht oder
Unrecht) glaubt, die ihm erstrebenswerten Lebensziele nicht
erreichen zu können. Solange er aber noch an die
Möglichkeit glaubt, das nach seiner Ansicht
Erstrebenswerte zu erreichen, kämpft er gegen alle
Qualen und Schmerzen an. Die Philosophie müßte dem
Menschen erst die Meinung beibringen, daß Wollen nur
dann einen Sinn hat, wenn die Lust größer als die
Unlust ist; seiner Natur nach will er die Gegenstände
seines Begehrens erreichen, wenn er die dabei notwendig
werdende Unlust ertragen kann, sei sie dann auch noch so
groß. Eine solche Philosophie wäre aber
irrtümlich, weil sie das menschliche Wollen von einem
Umstande abhängig macht (Überschuß der Lust
über die Unlust), der dem Menschen ursprünglich
fremd ist. Der ursprüngliche Maßstab des Wollens
ist die Begierde, und diese setzt sich durch, solange sie
kann. Man kann die Rechnung, welche das Leben, nicht
eine verstandesmäßige Philosophie, anstellt, wenn
Lust und Unlust bei Befriedigung eines Begehrens in Frage
kommen, mit dem folgenden vergleichen. Wenn ich gezwungen
bin, beim Einkaufe eines bestimmten Quantums Apfel doppelt so
viele schlechte als gute mitzunehmen — weil der
Verkäufer seinen Platz frei bekommen will — so werde
ich mich keinen Moment besinnen, die schlechten Apfel
mitzunehmen, wenn ich den Wert der geringeren Menge guter
für mich so hoch veranschlagen darf, daß ich zu dem
Kaufpreis auch noch die Auslagen für Hinwegschaffung der
schlechten Ware auf mich nehmen will. Dies Beispiel
veranschaulicht die Beziehung zwischen den durch einen Trieb
bereiteten Lust, und Unlustmengen. Ich bestimme den Wert der
guten Apfel nicht dadurch, daß ich ihre Summe von der
der schlechten subtrahiere, sondern danach, ob die ersteren
trotz des Vorhandenseins der letzteren noch einen Wert
behalten.
Ebenso wie ich bei dem Genuß der guten Apfel
die schlechten unberücksichtigt lasse, so gebe ich mich
der Befriedigung einer Begierde hin, nachdem ich die
notwendigen Qualen abgeschüttelt habe.
Wenn der Pessimismus auch recht hätte mit
seiner Behauptung, daß in der Welt mehr Unlust als Lust
vorhanden ist: auf das Wollen wäre das ohne
Einfluß, denn die Lebewesen streben nach der
übrigbleibenden Lust doch. Der empirische Nachweis,
daß der Schmerz die Freude überwiegt, wäre,
wenn er gelänge, zwar geeignet, die Aussichtslosigkeit
jener philosophischen Richtung zu zeigen, die den Wert des
Lebens in dem Überschuß der Lust sieht
(Eudämonismus), nicht aber das Wollen überhaupt als
unvernünftig hinzustellen; denn dieses geht nicht auf
einen Überschuß von Lust, sondern auf die nach
Abzug der Unlust noch übrigbleibende Lustmenge. Diese
erscheint noch immer als ein erstrebenswertes Ziel.
Man hat den Pessimismus dadurch zu widerlegen
versucht, daß man behauptete, es sei unmöglich, den
Überschuß von Lust oder Unlust in der Welt
auszurechnen. Die Möglichkeit einer jeden Berechnung
beruht darauf, daß die in Rechnung zu stellenden Dinge
ihrer Größe nach miteinander verglichen werden
können. Nun hat jede Unlust und jede Lust eine bestimmte
Größe (Stärke und Dauer). Auch
Lustempfindungen verschiedener Art können wir ihrer
Größe nach wenigstens schätzungsweise
vergleichen. Wir wissen, ob uns eine gute Zigarre oder ein
guter Witz mehr Vergnügen macht. Gegen die
Vergleichbarkeit verschiedener Lust, und Unlustsorten, ihrer
Größe nach, läßt sich somit nichts
einwenden. Und der Forscher, der es sich zur Aufgabe macht,
den Lust, oder Unlustüberschuß in der Welt zu
bestimmen, geht von durchaus berechtigten Voraussetzungen
aus. Man kann die Irrtümlichkeit der pessimistischen
Resultate behaupten, aber man darf die Möglichkeit einer
wissenschaftlichen Abschätzung derLust, und Unlustmengen
und damit die Bestimmung der Lustbilanz nicht anzweifeln.
Unrichtig aber ist es, wenn behauptet wird, daß aus dem
Ergebnisse dieser Rechnung für das menschliche Wollen
etwas folge. Die Fälle, wo wir den Wert unserer
Betätigung wirklich davon abhängig machen, ob die
Lust oder die Unlust einen Überschuß zeigt, sind
die, in denen uns die Gegenstände, auf die unser Tun
sich richtet, gleichgültig sind. Wenn es sich mir darum
handelt, nach meiner Arbeit mir ein Vergnügen durch ein
Spiel oder eine leichte Unterhaltung zu bereiten, und es mir
völlig gleichgültig ist, was ich zu diesem Zwecke
tue, so frage ich mich: was bringt mir den größten
Überschuß an Lust? Und ich unterlasse eine
Betätigung unbedingt, wenn sich die Waage nach der
Unlustseite hin neigt. Bei einem Kinde, dem wir ein Spielzeug
kaufen wollen, denken wir bei der Wahl nach, was ihm die
meiste Freude bereitet. In allen anderen Fällen
bestimmen wir uns nicht ausschließlich nach der
Lustbilanz.
Wenn also die pessimistischen Ethiker der Ansicht
sind, durch den Nachweis, daß die Unlust in
größerer Menge vorhanden ist als die Lust, den
Boden für die selbstlose Hingabe an die Kulturarbeit zu
bereiten, so bedenken sie nicht, daß sich das
menschliche Wollen seiner Natur nach von dieser Erkenntnis
nicht beeinflussen läßt. Das Streben der Menschen
richtet sich nach dem Maße der nach Überwindung
aller Schwierigkeiten möglichen Befriedigung. Die
Hoffnung auf diese Befriedigung ist der Grund der
menschlichen Betätigung. Die Arbeit jedes einzelnen und
die ganze Kulturarbeit entspringt aus dieser Hoffnung. Die
pessimistische Ethik glaubt dem Menschen die Jagd nach dem
Glücke als eine unmögliche hinstellen zu
müssen, damit er sich seinen eigentlichen sittlichen
Aufgaben widme. Aber diese sittlichen Aufgaben sind nichts
anderes als die konkreten natürlichen und geistigen
Triebe; und die Befriedigung derselben wird angestrebt trotz
der Unlust, die dabei abfällt. Die Jagd nach dem
Glücke, die der Pessimismus ausrotten will, ist also gar
nicht vorhanden. Die Aufgaben aber, die der Mensch zu
vollbringen hat, vollbringt er, weil er sie kraft seines
Wesens, wenn er ihr Wesen wirklich erkannt hat, vollbringen
will. Die pessimistische Ethik behauptet, der Mensch
könne erst dann sich dem hingeben, was er als seine
Lebensaufgabe erkennt, wenn er das Streben nach Lust
aufgegeben hat. Keine Ethik aber kann je andere
Lebensaufgaben ersinnen als die Verwirklichung der von den
menschlichenBegierden gefordertenBefriedigungen und die
Erfüllung seiner sittlichen Ideale. Keine Ethik kann ihm
die Lust nehmen, die er an dieser Erfüllung des von ihm
Begehrten hat. Wenn der Pessimist sagt: strebe nicht nach
Lust, denn du kannst sie nie erreichen; strebe nach dem, was
du als deine Aufgabe erkennst, so ist darauf zu erwidern: das
ist Menschenart, und es ist die Erfindung einer auf Irrwegen
wandelnden Philosophie, wenn behauptet wird, der Mensch
strebe bloß nach dem Glücke. Er strebt nach
Befriedigung dessen, was sein Wesen begehrt und hat die
konkreten Gegenstände dieses Strebens im Auge, nicht ein
abstraktes «Glück»; und die Erfüllung ist
ihm eine Lust. Was die pessimistische Ethik verlangt: nicht
Streben nach Lust, sondern nach Erreichung dessen, was du als
deine Lebensaufgabe erkennst, so trifft sie damit dasjenige,
was der Mensch seinem Wesen nach will. Der Mensch
braucht durch die Philosophie nicht erst umgekrempelt zu
werden, er braucht seine Natur nicht erst abzuwerfen, um
sittlich zu sein, Sittlichkeit liegt in dem Streben nach
einem als berechtigt erkannten Ziel; ihm zu folgen, liegt im
Menschenwesen, solange eine damit verknüpfte Unlust die
Begierde danach nicht lähmt. Und dieses ist das Wesen
alles wirklichen Wollens. Die Ethik beruht nicht auf der
Ausrottung alles Strebens nach Lust, damit
bleichsüchtige abstrakte Ideen ihre Herrschaft da
aufschlagen können, wo ihnen keine starke Sehnsucht nach
Lebensgenuß entgegensteht, sondern auf dem
starken, von ideeller Intuition getragenen
Wollen, das sein Ziel erreicht, auch wenn der Weg
dazu ein dornenvoller ist.
Die sittlichen Ideale entspringen aus der
moralischen Phantasie des Menschen. Ihre Verwirklichung
hängt davon ab, daß sie von dem Menschen stark
genug begehrt werden, um Schmerzen und Qualen zu
überwinden. Sie sind seine Intuitionen, die
Triebfedern, die sein Geist spannt; er will sie,
weil ihre Verwirklichung seine höchste Lust ist. Er hat
es nicht nötig, sich von der Ethik erst verbieten zu
lassen, daß er nach Lust strebe, um sich dann gebieten
zu lassen, wonach er streben soll. Er wird nach
sittlichen Idealen streben, wenn seine moralische Phantasie
tätig genug ist, um ihm Intuitionen einzugeben, die
seinem Wollen die Stärke verleihen, sich gegen die in
seiner Organisation liegenden Widerstände, wozu auch
notwendige Unlust gehört, durchzusetzen.
Wer nach Idealen von hehrer Größe strebt,
der tut es, weil sie der Inhalt seines Wesens sind, und die
Verwirklichung wird ihm ein Genuß sein, gegen den die
Lust, welche die Armseligkeit aus der Befriedigung der
alltäglichen Triebe zieht, eine Kleinigkeit ist.
Idealisten schwelgen geistig bei der Umsetzung ihrer
Ideale in Wirklichkeit.
Wer die Lust an der Befriedigung des menschlichen
Begehrens ausrotten will, muß den Menschen erst zum
Sklaven machen, der nicht handelt, weil er will, sondern nur,
weil er soll. Denn die Erreichung des Gewollten macht Lust.
Was man das Gute nennt, ist nicht das, was der
Mensch soll, sondern das, was er will, wenn er die
volle wahre Menschennatur zur Entfaltung bringt. Wer dies
nicht anerkennt, der muß dem Menschen erst das
austreiben, was er will, und ihm dann von außen
das vorschreiben lassen, was er seinem Wollen zum Inhalt zu
geben hat.
Der Mensch verleiht der Erfüllung einer
Begierde einen Wert, weil sie aus seinem Wesen entspringt.
Das Erreichte hat seinen Wert, weil es gewollt ist. Spricht
man dem Ziel des menschlichen Wollens als solchem seinen Wert
ab, dann muß man die wertvollen Ziele von etwas nehmen,
das der Mensch nicht will.
Die auf den Pessimismus sich aufbauende Ethik
entspringt aus der Mißachtung der moralischen Phantasie.
Wer den individuellen Menschengeist nicht für fähig
hält, sich selbst den Inhalt seines Strebens zu geben,
nur der kann die Summe des Wollens in der Sehnsucht nach Lust
suchen. Der phantasielose Mensch schafft keine sittlichen
Ideen. Sie müssen ihm gegeben werden. Daß er nach
Befriedigung seiner niederen Begierden strebt: dafür
aber sorgt die physische Natur. Zur Entfaltung des
ganzen Menschen gehören aber auch die aus dem
Geiste stammenden Begierden. Nur wenn man der Meinung ist,
daß diese der Mensch überhaupt nicht hat, kann man
behaupten, daß er sie von außen empfangen soll.
Dann ist man auch berechtigt, zu sagen, daß er
verpflichtet ist, etwas zu tun, was er nicht will. Jede
Ethik, die von dem Menschen fordert, daß er sein Wollen
zurückdränge, um Aufgaben zu erfüllen, die er
nicht will, rechnet nicht mit dem ganzen Menschen,
sondern mit einem solchen, dem das geistige
Begehrungsvermögen fehlt. Für den harmonisch
entwickelten Menschen sind die sogenannten Ideen des Guten
nicht außerhalb, sondern innerhalb des
Kreises seines Wesens. Nicht in der Austilgung eines
einseitigen Eigenwillens liegt das sittliche Handeln, sondern
in der vollen Entwickelung der Menschennatur. Wer
die sittlichen Ideale nur für erreichbar hält, wenn
der Mensch seinen Eigenwillen ertötet, der weiß
nicht, daß diese Ideale ebenso von dem Menschen gewollt
sind, wie die Befriedigung der sogenannten tierischen
Triebe.
Es ist nicht zu leugnen, daß die hiermit
charakterisierten Anschauungen leicht mißverstanden
werden können. Unreife Menschen ohne moralische
Phantasie sehen gerne die Instinkte ihrer Halbnatur für
den vollen Menschheitsgehalt an, und lehnen alle nicht von
ihnen erzeugten sittlichen Ideen ab, damit sie ungestört
«sich ausleben» können. Daß für die
halbentwickelte Menschennatur nicht gilt, was für den
Vollmenschen richtig ist, ist selbstverständlich. Wer
durch Erziehung erst noch dahin gebracht werden soll,
daß seine sittliche Natur die Eischalen der niederen
Leidenschaften durchbricht: von dem darf nicht in Anspruch
genommen werden, was für den reifen Menschen gilt. Hier
sollte aber nicht verzeichnet werden, was dem unentwickelten
Menschen einzuprägen ist, sondern das, was in dem Wesen
des ausgereiften Menschen liegt. Denn es sollte die
Möglichkeit der Freiheit nachgewiesen werden; diese
erscheint aber nicht an Handlungen aus sinnlicher oder
seelischer Nötigung, sondern an solchen, die von
geistigen Intuitionen getragen sind.
Dieser ausgereifte Mensch gibt seinen Wert sich
selbst. Nicht die Lust erstrebt er, die ihm als
Gnadengeschenk von der Natur oder von dem Schöpfer
gereicht wird; und auch nicht die abstrakte Pflicht
erfüllt er, die er als solche erkennt, nachdem er das
Streben nach Lust abgestreift hat. Er handelt, wie er will,
das ist nach Maßgabe seiner ethischen Intuitionen; und
er empfindet die Erreichung dessen, was er will, als seinen
wahren Lebensgenuß. Den Wert des Lebens bestimmt er an
dem Verhältnis des Erreichten zu dem Erstrebten. Die
Ethik, welche an die Stelle des Wollens das bloße
Sollen, an die Stelle der Neigung die bloße Pflicht
setzt, bestimmt folgerichtig den Wert des Menschen an dem
Verhältnis dessen, was die Pflicht fordert, zu dem, was
er erfüllt. Sie mißt den Menschen an einem
außerhalb seines Wesens gelegenen Maßstab. — Die
hier entwickelte Ansicht weist den Menschen auf sich selbst
zurück. Sie erkennt nur das als den wahren Wert des
Lebens an, was der einzelne nach Maßgabe seines Wollens
als solchen ansieht. Sie weiß ebensowenig von einem
nicht vom Individuum anerkannten Wert des Lebens wie von
einem nicht aus diesem entsprungenen Zweck des Lebens. Sie
sieht in dem allseitig durchschauten wesenhaften Individuum
seinen eigenen Herrn und seinen eigenen Schätzer.
Zusatz zur Neuausgabe 1918. Verkennen kann
man das in diesem Abschnitt Dargestellte, wenn man sich
festbeißt in den scheinbaren Einwand: das Wollen des
Menschen als solches ist eben das Unvernünftige; man
müsse ihm diese Unvernünftigkeit nachweisen, dann
wird er einsehen, daß in der endlichen Befreiung von dem
Wollen das Ziel des ethischen Strebens liegen müsse. Mir
wurde von berufener Seite allerdings ein solcher
Schein–Einwand entgegengehalten, indem mir gesagt wurde, es
sei eben die Sache des Philosophen, nachzuholen, was die
Gedankenlosigkeit der Tiere und der meisten Menschen
versäumt, eine wirkliche Lebensbilanz zu ziehen. Doch
wer diesen Einwand macht, sieht eben die Hauptsache nicht:
soll Freiheit sich verwirklichen, so muß in der
Menschennatur das Wollen von dem intuitiven Denken getragen
sein; zugleich aber ergibt sich, daß ein Wollen auch von
anderem als von der Intuition bestimmt werden kann, und
nur in der aus der Menschenwesenheit
erfließenden freien Verwirklichung der Intuition ergibt
sich das Sittliche und sein Wert. Der ethische
Individualismus ist geeignet, die Sittlichkeit in ihrer
vollen Würde darzustellen, denn er ist nicht der
Ansicht, daß wahrhaft sittlich ist, was in
äußerer Art Zusammenstimmung eines Wollens mit
einer Norm herbeiführt, sondern was aus dem Menschen
dann ersteht, wenn er das sittliche Wollen als ein Glied
seines vollen Wesens in sich entfaltet, so daß das
Unsittliche zu tun ihm als Verstümmelung,
Verkrüppelung seines Wesens erscheint.
1. Wer
ausrechnen will, ob die Gesamtsumme der Lust
oder die der Unlust überwiegt, der beachtet eben
nicht, daß er eine Rechnung anstellt über
etwas, das nirgends erlebt wird. Das Gefühl rechnet
nicht, und für die wirkliche Bewertung des Lebens
kommt das wirkliche Erlebnis, nicht das Ergebnis einer
erträumten Rechnung in Betracht.
2. Von dem Falle, wo
durch übermäßige Steigerung der Lust diese
in Unlust umschlägt, sehen wir hier ab.
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