III. Nietzsches Entwicklungsgang
30.
Ich habe
Nietzsches Ansichten vom Übermenschen so dargestellt, wie sie uns in
seinen letzten Schriften: «Zarathustra» (18831884), «Jenseits von Gut
und Böse» (1886), «Genealogie der Moral» (1887), «Der Fall Wagner»
(1888), «Götzen-Dämmerung» (1889) entgegentreten. In dem unvollendet
gebliebenen Werke: «Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller
Werte», dessen erster Teil «Antichrist» im achten Bande der
Gesamtausgabe erschienen ist, hätten sie wohl ihren philosophisch
prägnantesten Ausdruck gefunden. Aus der Disposition, die im Anhange zu
dem erwähnten Band abgedruckt ist, ist das deutlich zu erkennen. Sie
heißt: 1. Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums.
2. Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer
nihilistischen Bewegung. 3. Der Immoralist. Kritik der
verhängnisvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. 4. Dionysos.
Philosophie der ewigen Wiederkunft.
Nietzsche
hat seine Gedanken nicht sogleich im Beginne seiner schriftstellerischen
Laufbahn in der ihnen ureigensten Form zum Ausdruck gebracht. Er stand
anfangs unter dem Einflusse des deutschen Idealismus, namentlich in der
Form, in der ihn Schopenhauer und Richard Wagner vertreten haben. In
Schopenhauerschen und Wagnerschen Formeln drückt er sich in seinen
ersten Schriften aus. Wer aber durch dieses Formelwesen hindurch auf den
Kern der Nietzscheschen Gedanken zu blicken vermag, der findet in diesen
Schriften dieselben Absichten und Ziele, die in den späteren Werken zum
Ausdruck kommen. Man kann von Nietzsches Entwicklung nicht sprechen,
ohne an den freiesten Denker erinnert zu werden, den die neuzeitliche
Menschheit hervorgebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine
traurige Wahrheit, dass dieser Denker, der im vollsten Sinne dem
entspricht, was Nietzsche von dem Übermenschen fordert, nur von wenigen
erkannt und gewürdigt worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren
dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen. Allerdings
nicht in solch gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in
kristallklaren Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen
allerdings oft wie ein bloßes Stammeln ausnehmen.
Welchen Weg
hätte Nietzsche genommen, wenn nicht Schopenhauer, sondern Max Stirner
sein Erzieher geworden wäre! In Nietzsches Schriften ist keinerlei
Einfluss Stirners zu bemerken. Aus eigener Kraft musste sich Nietzsche
aus dem deutschen Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen gleichen
Weltauffassung durchringen.
Stirner ist
wie Nietzsche der Ansicht, dass die Triebkräfte des menschlichen Lebens
nur in der einzelnen, wirklichen Persönlichkeit gesucht werden
können. Er lehnt alle Gewalten ab, die die Einzelpersönlichkeit von
außen formen, bestimmen wollen. Er verfolgt den Gang der Weltgeschichte
und findet den Grundirrtum der bisherigen Menschheit darin, dass sie
nicht die Pflege und Kultur der individuellen Persönlichkeit, sondern
andere, unpersönliche Ziele und Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die
wahre Befreiung des Menschen darin, dass dieser allen solchen Zielen
keine höhere Realität zugesteht, sondern sich dieser Ziele als Mittel zu
seiner Selbstpflege bedient. Der freie Mensch bestimmt sich seine
Zwecke; er besitzt seine Ideale; er lässt sich nicht von ihnen besitzen.
Der Mensch, der nicht als freie Persönlichkeit über seinen Idealen
waltet, steht unter dem Einflusse derselben, wie der Irrsinnige, der an
fixen Ideen leidet. Es ist für Stirner einerlei, ob sich der Mensch
einbildet, der «König von China», oder ob «ein behaglicher Bürger sich
einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger
Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch usw. zu sein
das ist beides ein und dieselbe 9fixe Idee:. Wer es nie versucht und
gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein
tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit,
Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen.»
Man braucht
nur einige Sätze aus Stirners Buch: «Der Einzige und sein Eigentum» zu
lesen, um zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der Nietzscheschen
ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche an, die besonders
bezeichnend für Stirners Denkweise sind.
«Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein entgegengesetztes
Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das Ideale realisieren,
jene sucht den 9heiligen Geist:, diese den 9verklärten Leib:. Daher
schließt jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der
9Weltverachtung:; diese wird mit der Abwerfung des Idealen, mit der
9Geistesverachtung: enden.
Wie der Zug
der Heiligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waschungen
und so weiter), so geht der der Verleiblichung durch die christliche:
der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will sie erlösen,
das heißt mit sich erfüllen; da er aber 9die Idee: oder 9der Geist: ist,
so führt man (zum Beispiel Hegel) am Schlusse die Idee in alles, in die
Welt, ein und beweist, 9dass die Idee, dass Vernunft in allem sei:. Dem,
was die heidnischen Stoiker als 9den Weisen: aufstellten, entspricht in
der heutigen Bildung 9der Mensch:, jener wie dieser ein
fleischloses Wesen. Der unwirkliche 9Weise:, dieser leiblose
9Heilige:, der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher
9Heiliger:, in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche
9Mensch:, das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen
Ich, in Mir
Dass der
Einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen
Weltgeschichte sein Eigentum besitzt, das geht übers Christliche hinaus.
Dem Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie die Geschichte
Christi oder 9des Menschen: ist; dem Egoisten hat nur seine
Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht die
Menschheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der
Vorsehung, nicht die Freiheit und dergleichen. Er sieht sich nicht für
ein Werkzeug der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf
an, er wähnt nicht, zur Fortentwicklung der Menschheit dazusein und sein
Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich aus, unbesorgt
darum, wie gut oder schlecht die Menschheit dabei fahre. Ließe es nicht
das Missverständnis zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so
könnte man an Lenaus 9Drei Zigeuner: erinnern. Was, bin Ich dazu in
der Welt, um Ideen zu realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee
9Staat: durch mein Bürgertum das Meinige zu tun, oder durch die Ehe, als
Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was
ficht Mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe,
als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet
Das Ideal
9der Mensch: ist realisiert, wenn die christliche Anschauung
umschlägt in den Satz: 9Ich, dieser Einzige, bin der Mensch.: Die
Begriffsfrage: 9was ist der Mensch?: hat sich dann in die persönliche
umgesetzt: 9wer ist der Mensch?: Bei 9was: suchte man den Begriff, um
ihn zu realisieren; bei 9wer: ist's überhaupt keine Frage mehr, sondern
die Antwort im Fragenden gleich persönlich vorhanden: die Frage
beantwortet sich von selbst.
Man sagt von
Gott: 9Namen nennen Dich nicht.: Das gilt von Mir: kein Begriff
drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich;
es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und
habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein
von Mir.
Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich
als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in
sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes
höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das
Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses
Bewusstseins: Stell' Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht
sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich
selbst verzehrt, und Ich darf sagen:
9Ich hab'
mein' Sach' auf nichts gestellt.:»
Dieser auf
sich selbst gestellte, nur aus sich heraus schaffende Eigner ist
Nietzsches Übermensch.
31.
Diese
Stirnerschen Gedanken wären das geeignete Gefäß gewesen, in das
Nietzsche sein reiches Empfindungsleben hätte gießen können. Statt
dessen suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter, auf der er zu
seiner Gedankenwelt hinaufkletterte.
Aus zwei
Wurzeln stammt, nach Schopenhauers Meinung, unsere gesamte
Welterkenntnis. Aus dem Vorstellungsleben und aus der Wahrnehmung des
Willens, der in uns selbst als Handelnder auftritt. Das «Ding an sich»
liegt jenseits der Welt unserer Vorstellung. Denn die Vorstellung ist
nur die Wirkung, die das «Ding an sich» auf mein Erkenntnisorgan ausübt.
Nur die Eindrücke kenne ich, die die Dinge auf mich machen, nicht die
Dinge selbst. Und diese Eindrücke sind eben meine Vorstellungen. Ich
kenne keine Sonne und keine Erde, sondern nur ein Auge, das eine Sonne
sieht, und eine Hand, die eine Erde fühlt. Der Mensch weiß nur: «dass
die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist, das heißt
durchweg nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er
selbst ist». (Schopenhauer, «Welt als Wille und Vorstellung», ~ i.) Aber
der Mensch stellt die Welt nicht bloß vor, sondern er wirkt auch
in ihr; er wird sich seines Willens bewusst, und er erfährt, dass
dasjenige, welches er in sich als Wille empfindet, von außen als
Bewegung seines Leibes wahrgenommen werden kann, das heißt der Mensch
nimmt sein eigenes Wirken doppelt wahr, von innen als
Vorstellung, von außen als Wille. Schopenhauer schließt
daraus, dass es der Wille selbst ist, der in der wahrgenommenen
Leibesaktion als Vorstellung erscheint. Und er behauptet dann weiter,
dass nicht nur der Vorstellung des eigenen Leibes und seiner Bewegungen
ein Wille zugrunde liege, sondern dass dies auch bei allen übrigen
Vorstellungen der Fall sei. Die ganze Welt ist also, nach Schopenhauers
Ansicht, dem Wesen nach Wille und erscheint unserem Intellekt als
Vorstellung. Dieser Wille, behauptet Schopenhauer weiter, ist in allen
Dingen ein einheitlicher. Nur unser Intellekt verursacht, dass wir eine
Mehrheit von besonderen Dingen wahrnehmen.
Durch seinen
Willen hängt der Mensch, nach dieser Anschauung, mit dem einheitlichen
Weltwesen zusammen. Insofern der Mensch wirkt, wirkt in ihm der
einheitliche Urwille. Als einzelne, besondere Persönlichkeit existiert
der Mensch nur in seiner eigenen Vorstellung; im Wesen ist er identisch
mit dem einheitlichen Weltengrunde.
Nehmen wir
an, dass in Nietzsche, als er die Schopenhauersche Philosophie kennen
lernte, schon der Gedanke des Übermenschen unbewusst, instinktiv
vorhanden war, so konnte ihn diese Willenslehre allerdings nur
sympathisch berühren. In dem menschlichen Willen war ihm ein Element
gegeben, das den Menschen unmittelbar an der Schöpfung des Weltinhaltes
teilnehmen ließ. Als Wollender ist der Mensch nicht bloß ein außerhalb
des Weltinhaltes stehender Zuschauer, der sich Bilder des Wirklichen
macht, sondern er ist selbst ein Schaffender. In ihm waltet die
göttliche Kraft, über die hinaus es keine andere gibt.
32.
Aus diesen
Anschauungen heraus bildeten sich bei Nietzsche die beiden Ideen von der
apollinischen und der dionysischen Weltbetrachtung. Sie
wendete er auf das griechische Kunstleben an, das er demgemäss aus zwei
Wurzeln entstehen ließ: aus einer Kunst des Vorstellens und einer Kunst
des Wollens. Wenn der Vorstellende seine Vorstellungswelt idealisiert
und seine idealisierten Vorstellungen in Kunstwerken verkörpert, so
entsteht die apollinische Kunst. Er verleiht den einzelnen
Vorstellungsobjekten dadurch, dass er ihnen die Schönheit
einprägt, den Schein des Ewigen. Aber er bleibt innerhalb der
Vorstellungswelt stehen. Der dionysische Künstler sucht nicht nur
in seinen Kunstwerken die Schönheit auszudrücken, sondern er ahmt selbst
das schöpferische Wirken des Weltwillens nach. Er sucht in seinen
eigenen Bewegungen den Weltgeist abzubilden. Er macht sich zur
sichtbaren Verkörperung des Willens. Er wird selbst Kunstwerk. «Singend
und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren
Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem
Wege, tanzend in die Lüfte emporzusteigen. Aus seinen Gebärden spricht
die Verzauberung.» («Geburt der Tragödie», § 1.) In diesem Zustande
vergisst der Mensch sich selbst, er fühlt sich nicht mehr als
Individuum, er lässt in sich den allgemeinen Weltwillen walten. In
dieser Weise deutet Nietzsche die Feste, die zu Ehren des Gottes
Dionysus durch die Dionysusdiener veranstaltet wurden. In dem
Dionysusdiener sieht Nietzsche das Urbild des dionysischen Künstlers.
Nun stellt er sich vor, dass die älteste dramatische Kunst der Griechen
dadurch entstanden ist, dass eine höhere Vereinigung des Dionysischen
mit dem Apollinischen sich vollzogen hat. Auf diese Weise erklärt er den
Ursprung der ersten griechischen Tragödie. Er nimmt an, dass die
Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist. Der dionysische Mensch
wird zum Zuschauer, zum Betrachter eines Bildes, das ihn selbst
darstellt. Der Chor ist die Selbstspiegelung eines dionysisch
erregten Menschen, das heißt der dionysische Mensch sieht seine
dionysische Erregung durch ein apollinisches Kunstwerk abgebildet. Die
Darstellung des Dionysischen im apollinischen Bilde ist die primitive
Tragödie. Voraussetzung einer solchen Tragödie ist, dass in ihrem
Schöpfer ein lebendiges Bewusstsein von dem Zusammenhang des Menschen
mit den Urgewalten der Welt vorhanden ist. Ein solches Bewusstsein
spricht sich als Mythus aus. Das Mythische muss der Gegenstand der
ältesten Tragödie sein. Tritt nun in der Entwicklung eines Volkes der
Zeitpunkt ein, wo der zersetzende Verstand das lebendige Gefühl für den
Mythus zerstört, so ist der Tod des Tragischen die notwendige Folge.
33.
In der
Entwicklung des Griechentums trat, nach Nietzsches Meinung, mit Sokrates
dieser Zeitpunkt ein. Sokrates war ein Feind alles instinktiven, mit den
Naturgewalten im Bunde stehenden Lebens. Er ließ nur dasjenige gelten,
was der Verstand denkend zu beweisen vermag, was lehrbar ist. Damit war
dem Mythus der Krieg erklärt. Und der von Nietzsche als Schüler des
Sokrates bezeichnete Euripides zerstörte die Tragödie, weil sein
Schaffen nicht mehr, wie das des Äschylos, aus den dionysischen
Instinkten, sondern aus dem kritischen Verstande entsprang. Statt der
Nachbildung der Willensbewegungen des Weltgeistes findet sich bei
Euripides die verständige Verknüpfung einzelner Vorgänge
innerhalb der tragischen Handlung. Ich frage nicht nach der historischen
Rechtfertigung dieser Nietzscheschen Ideen. Er ist ihretwegen von einem
klassischen Philologen scharf angegriffen worden. Nietzsches
Beschreibung der griechischen Kultur lässt sich vergleichen mit der
Schilderung, die ein Mensch von einer Landschaft gibt, die er von dem
Gipfel eines Berges aus betrachtet; eine philologische Darstellung mit
einer Beschreibung, die der Wanderer gibt, der jedes einzelne Fleckchen
besucht. Von dem Berge aus verschiebt sich manches eben nach den
Gesetzen der Optik.
34.
Was hier in
Betracht kommt, ist die Frage: was für eine Aufgabe stellte sich
Nietzsche in seiner «Geburt der Tragödie»? Nietzsche ist der Ansicht,
dass die älteren Griechen die Leiden des Daseins sehr gut gekannt haben.
«Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen
Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn
zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der
König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei.
Starr und unbeweglich schweigt der Dämon, bis er, durch den König
gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht:
9Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was
zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das
Ersprießlichste ist? Das allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar:
nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das
zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben.:» («Geburt der
Tragödie», § 3.) In dieser Sage findet Nietzsche eine Grundempfindung
der Griechen ausgedrückt. Er hält es für eine Oberflächlichkeit, wenn
man die Griechen als das beständig heitere, kindlich tändelnde Volk
hinstellt. Aus der tragischen Grundempfindung heraus musste den Griechen
der Drang entstehen, etwas zu schaffen, wodurch das Dasein erträglich
wird. Sie suchten nach einer Rechtfertigung des Daseins und fanden
diese in ihrer Götterwelt und in der Kunst. Nur durch das Gegenbild der
olympischen Götter und der Kunst wurde den Griechen die rauhe
Wirklichkeit erträglich. Die Grundfrage in der «Geburt der Tragödie» ist
also für Nietzsche: Inwiefern ist die griechische Kunst lebenfördernd,
lebenerhaltend gewesen? Nietzsches Grundinstinkt macht sich somit in
bezug auf die Kunst als lebensfördernde Macht schon in diesem ersten
Werke geltend.
35.
Noch ein
anderer Grundinstinkt Nietzsches ist in diesem Werke schon zu
beobachten. Es ist die Abneigung gegen die bloß logischen Geister, deren
Persönlichkeit vollständig unter der Herrschaft ihres Verstandes steht.
Aus dieser Abneigung stammt Nietzsches Meinung, dass der
sokratische Geist der Zerstörer der griechischen Kultur ist. Das
Logische gilt Nietzsche nur als eine Form, in der sich die
Persönlichkeit äußert. Wenn zu dieser Form nicht noch andere
Äußerungsweisen treten, so erscheint die Persönlichkeit als Krüppel, als
Organismus, an dem notwendige Organe verstümmelt sind. Weil Nietzsche in
Kants Schriften nur den grübelnden Verstand entdecken konnte, nennt er
Kant einen «verwachsenen Begriffskrüppel». Nur wenn die Logik der
Ausdruck für die tieferen Grundinstinkte einer Persönlichkeit ist, lässt
sie Nietzsche gelten. Sie muss ein Ausfluss des Über-Logischen in
der Persönlichkeit sein. Nietzsche hat an der Ablehnung des sokratischen
Geistes immer festgehalten. Wir lesen in der «Götzen-Dämmerung»: «Mit
Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um:
was geschieht da eigentlich? Vor allem wird ein vornehmer
Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik oben auf. Vor
Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren
ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß.» («Problem des
Sokrates», § 5.) Wo nicht kräftige Grundinstinkte für eine Sache
sprechen, da tritt der beweisende Verstand ein und sucht sie durch
Advokatenkünste zu stützen.
36.
Einen
Erneuerer des dionysischen Geistes glaubte Nietzsche in Richard Wagner
zu erkennen. Er hat aus diesem Glauben heraus die vierte seiner
«Unzeitgemäßen Betrachtungen»: «Richard Wagner in Bayreuth», 1876,
geschrieben. Er hielt in dieser Zeit noch an der Deutung des
dionysischen Geistes fest, die er sich in Gemäßheit der
Schopenhauerschen Philosophie gebildet hatte. Er glaubte noch, dass die
Wirklichkeit nur menschliche Vorstellung sei und jenseits dieser
Vorstellungswelt das Wesen der Dinge in Form des Urwillens liege.
Und der schaffende dionysische Geist war ihm noch nicht der aus
sich heraus schaffende, sondern der sich selbst vergessende, in dem
Urwollen aufgehende Mensch. Bilder des waltenden Urwillens, von einem an
diesen Urwillen hingegebenen dionysischen Geiste geschaffen, waren ihm
Wagners Musikdramen.
Und da
Schopenhauer in der Musik ein unmittelbares Abbild des Willens sah, so
glaubte auch Nietzsche in der Musik das beste Ausdrucksmittel für einen
dionysisch schaffenden Geist sehen zu sollen. Die Sprache der
zivilisierten Völker schien ihm erkrankt. Sie kann nicht mehr der
schlichte Ausdruck der Gefühle sein, denn die Worte mussten allmählich
immer mehr dazu verwendet werden, der Ausdruck für die zunehmende
Verstandesbildung der Menschen zu werden. Dadurch aber ist die Bedeutung
der Worte abstrakt, arm geworden. Sie können nicht mehr ausdrücken, was
der aus dem Urwillen heraus schaffende dionysische Geist empfindet.
Dieser kann daher in dem Wortdrama sich nicht mehr aussprechen. Er muss
andere Ausdrucksmittel, vor allem die Musik, aber auch die anderen
Künste zu Hilfe rufen. Der dionysische Geist wird zum dithyrambischen
Dramatiker, «diesen Begriff so voll genommen, dass er zugleich den
Schauspieler, Dichter, Musiker umfasst». «Wie man sich nun auch die
Entwicklung des Urdramatikers vorstellen möge, in seiner Reife und
Vollendung ist er ein Gebilde ohne jede Hemmung und Lücke: der
eigentlich freie Künstler, der gar nicht anders kann, als in allen
Künsten zugleich denken, der Mittler und Versöhner zwischen scheinbar
getrennten Sphären, der Wiederhersteller einer Ein- und Gesamtheit des
künstlerischen Vermögens, welches gar nicht erraten und erschlossen,
sondern nur durch die Tat gezeigt werden kann.» («Richard Wagner in
Bayreuth», § 7.) Als dionysischen Geist verehrte Nietzsche Richard
Wagner. Und nur in dem von Nietzsche in der eben genannten Schrift
angegebenen Sinne kann Wagner als dionysischer Geist bezeichnet werden.
Seine Instinkte sind auf das Jenseits gerichtet; er will die Stimme des
Jenseits durch seine Musik erklingen lassen. Ich habe bereits (S. 84f.)
darauf hingewiesen, dass sich Nietzsche später selbst fand und imstande
war, seine auf das Diesseits gerichteten Instinkte in ihrer Eigenart zu
erkennen. Er hatte ursprünglich die Wagnersche Kunst missverstanden,
weil er sich selbst missverstanden hatte, weil er seine Instinkte durch
die Schopenhauersche Philosophie hatte tyrannisieren lassen. Wie ein
Krankheitsprozess erschien ihm später diese Unterordnung seiner
Instinkte unter eine fremde Geistesmacht. Er fand, dass er auf seine
Instinkte nicht gehört hatte und sich durch eine ihm unangemessene
Meinung hatte verführen lassen, eine Kunst auf diese Instinkte wirken zu
lassen, die ihnen nur zum Nachteil gereichen konnte, die sie krank
machen musste.
37.
Nietzsche
hat den Einfluss, den die seinen Grundtrieben widersprechende
Schopenhauersche Philosophie auf ihn genommen, selbst geschildert in
seiner dritten «Unzeitgemäßen Betrachtung», «Schopenhauer als Erzieher»
(1874), zu einer Zeit, als er noch an diese Philosophie glaubte.
Nietzsche suchte einen Erzieher. Der rechte Erzieher kann nur der sein,
der auf den zu Erziehenden so wirkt, dass dessen innerster Wesenskern
sich aus der Persönlichkeit heraus entwickelt. Auf jeden Menschen wirkt
seine Zeit mit ihren Kulturmitteln ein. Er nimmt auf, was die Zeit an
Bildungsstoff bietet. Aber es frägt sich, wie er sich inmitten dieses
von außen auf ihn Eindringenden selbst finden kann; wie er das aus sich
herausspinnen kann, was er und nur er und kein anderer
sein kann. «Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht
nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen,
welches ihm zuruft: 9sei du selbst! Das bis du alles nicht, was du jetzt
tust, meinst, begehrst»:, so spricht der Mensch zu sich, der eines Tages
findet, dass er sich immer nur damit begnügt hat, Bildungsstoff außen
aufzunehmen. («Schopenhauer als Erzieher», § 1.) Nietzsche fand sich
selbst, wenn auch zunächst noch nicht in seiner ihm ureigensten Gestalt,
durch das Studium der Schopenhauerschen Philosophie. Nietzsche strebte
unbewusst danach, einfach und ehrlich seinen Grundtrieben
gemäß sich auszusprechen. Er fand um sich nur Menschen, die in den
Bildungsformeln der Zeit sich ausdrückten, die ihr eigenes Wesen durch
diese Formeln verhüllten. In Schopenhauer fand Nietzsche aber einen
Menschen, der den Mut hatte, seine persönlichen Empfindungen der Welt
gegenüber zum Inhalte seiner Philosophie zu machen: «Das kräftige
Wohlgefühl des Sprechenden» umfing Nietzsche beim ersten Lesen von
Schopenhauers Sätzen. «Hier ist eine immer gleichartige stärkende Luft,
so fühlen wir; hier ist eine gewisse unnachahmliche Unbefangenheit und
Natürlichkeit, wie sie Menschen haben, die in sich zu Hause und zwar in
einem sehr reichen Hause Herren sind: im Gegensatze zu den
Schriftstellern, welche sich selbst am meisten wundern, wenn sie einmal
geistreich waren, und deren Vortrag dadurch etwas Unruhiges und
Naturwidriges bekommt.» «Schopenhauer redet mit sich: oder wenn man sich
durchaus einen Zuhörer denken will, so denke man sich den Sohn, welchen
der Vater unterweist. Es ist ein redliches, derbes, gutmütiges
Aussprechen, vor einem Hörer, der mit Liebe hört.» («Schopenhauer», §
2.) Dass er einen Menschen, der sich seinen innersten Instinkten gemäß
ausspricht, reden hörte, das war es, was Nietzsche zu Schopenhauer
hinzog.
Nietzsche
sah in Schopenhauer eine starke Persönlichkeit, die nicht durch
die Philosophie in einen bloßen Verstandesmenschen umgewandelt wird,
sondern die das Logische nur zum Ausdrucke des Überlogischen, des
Instinktiven in sich macht. «Die Sehnsucht nach starker Natur, nach
gesunder und einfacher Menschheit war bei ihm eine Sehnsucht nach
sich selbst,. und sobald er die Zeit ~ sich besiegt hatte, musste er
auch, mit erstauntem Auge, den Genius in sich erblicken.»
(«Schopenhauer», § 3.) In Nietzsches Geist arbeitete schon damals das
Streben nach der Idee des Übermenschen, der sich selbst sucht, als den
Sinn seines Daseins, und einen solchen Suchenden fand er in
Schopenhauer. In solchen Menschen sieht er den Zweck, und zwar den
einzigen Zweck des Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm an einem
Ziele angekommen zu sein, wenn sie einen solchen Menschen hervorgebracht
hat. «Die Natur, die nie springt, macht [hier] ihren einzigen Sprung,
und zwar einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum erstenmal am
Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele
zu haben.» («Schopenhauer», § 5.) In diesem Satze liegt der Keim zur
Konzeption des Übermenschen. Nietzsche wollte, als er diesen Satz
niederschrieb, schon genau dasselbe, was er später mit seinem
Zarathustra wollte; aber ihm fehlte noch die Kraft, dieses Wollen in
einer eigenen Sprache auszusprechen. Er sah schon, als er sein
Schopenhauerbuch schrieb, den Grundgedanken der Kultur in der
Erzeugung des Übermenschen.
38.
In der
Entwicklung der persönlichen Instinkte der Einzelmenschen sieht also
Nietzsche das Ziel aller menschlichen Entwicklung. Was dieser
Entwicklung entgegenarbeitet, erscheint ihm als die eigentlichste
Versündigung an der Menschheit. Es gibt aber etwas im Menschen, das auf
ganz natürliche Weise seiner freien Entwicklung widerstrebt. Der Mensch
lässt sich nicht allein durch die in jedemKräfte des schwachen Menschen
aber werden durch den historischen Sinn ausgelöscht. Um den Grad zu
bestimmen und durch ihn dann die Grenze, «an der das Vergangene
vergessen werden muss, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen
werden soll, müsste man genau wissen, wie groß die plastische
Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist; ich meine jene
Kraft, aus sich heraus eigenartig zu einzelnen Augenblicke in ihm
tätigen Triebe bestimmen, sondern auch durch alles das, was in seinem
Gedächtnisse sich angesammelt hat. Der Mensch erinnert sich an
seine eigenen Erlebnisse, er sucht sich ein Bewusstsein der Erlebnisse
seines Volkes, Stammes, ja der ganzen Menschheit durch den Betrieb der
Geschichte zu verschaffen. Der Mensch ist ein historisches Wesen.
Die Tiere leben unhistorisch; sie folgen den Trieben, die in dem
einzelnen Augenblicke in ihnen wirken. Der Mensch lässt sich durch seine
Vergangenheit bestimmen. Wenn er irgend etwas unternehmen will, frägt er
sich: welche Erfahrungen habe ich oder ein anderer mit einem ähnlichen
Unternehmen schon gemacht? Der Antrieb zu einer Handlung kann durch die
Erinnerung an ein Erlebnis vollständig abgetötet werden. Für Nietzsche
entsteht aus der Beobachtung dieser Tatsache die Frage: inwiefern wirkt
das Erinnerungsvermögen des Menschen auf sein Leben fördernd, und
inwiefern wirkt es nachteilig ein? Die Erinnerung, die auch Dinge zu
umfassen sucht, die der Mensch nicht selbst erlebt hat, lebt als
historischer Sinn, als Studium des Vergangenen in dem Menschen.
Nietzsche fragt: inwiefern wirkt der historische Sinn lebenfördernd? Die
Antwort auf diese Frage sucht er zu geben in seiner zweiten
«Unzeitgemäßen Betrachtung»: «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für
das Leben» (1874). Die Veranlassung zu dieser Schrift war Nietzsches
Wahrnehmung, dass der historische Sinn bei seinen Zeitgenossen,
namentlich bei den Gelehrten unter denselben, ein hervorstechendes
Charaktermerkmal geworden war. Die Vertiefung in die Vergangenheit fand
Nietzsche überall gepriesen. Nur durch Erkenntnis der Vergangenheit soll
der Mensch imstande sein, zu unterscheiden, was ihm möglich, was ihm
unmöglich ist: dieses Glaubensbekenntnis drang ihm in die Ohren. Nur wer
weiß, wie sich ein Volk entwickelt hat, kann ermessen, was für seine
Zukunft förderlich ist: diesen Ruf hörte Nietzsche. Ja selbst die
Philosophen wollten nicht mehr Neues erdenken, sondern lieber die
Gedanken ihrer Vorfahren studieren. Dieser historische Sinn wirkt
lähmend auf das gegenwärtige Schaffen. Wer bei jedem Impuls, der
sich in ihm regt, erst zu bestimmen sucht, wozu ein ähnlicher Impuls in
der Vergangenheit geführt hat, in dem erschlaffen die Kräfte, bevor sie
gewirkt haben. «Denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der
die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der verurteilt wäre, überall
ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein,
glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander
fließen und verliert sich in diesem Strome des Werdens ... Zu allem
Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur
Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur
historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu
enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und
immer wiederholtem Wiederkäuen fortleben sollte.» («Historie», § i.)
Nietzsche ist der Meinung, dass der Mensch nur so viel Geschichte
vertragen kann, als dem Maße seiner schöpferischen Kräfte entspricht.
Die starke Persönlichkeit führt ihre Intentionen aus, trotzdem
sie sich an die Erlebnisse der Vergangenheit erinnert, ja sie wird
vielleicht gerade durch die Erinnerung an diese Erlebnisse eine Stärkung
ihrer Kraft erfahren. Die wachsen, Vergangenes und Fremdes
umzubilden und einzuverleiben». («Historie», § I.)
Nietzsche
ist der Ansicht, dass das Historische nur insofern gepflegt werden soll,
als es für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes oder einer
Kultur nötig ist. Worauf es ihm ankommt, ist: «besser lernen, Historie
zum Zwecke des Lebens zu treiben!» («Historie», § 1.) Er spricht
dem Menschen das Recht zu, die Geschichte so zu treiben, dass sie
möglichst zur Förderung der Antriebe einer bestimmten Gegenwart wirkt.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist er ein Gegner jener
Geschichtsbetrachtung, die nur in der «historischen Objektivität» ihr
Heil sucht, die nur sehen und erzählen will, wie es in der Vergangenheit
«tatsächlich» zugegangen ist, die nur «die 9reine folgenlose: Erkenntnis
oder, deutlicher, die Wahrheit, bei der nichts herauskommt», sucht
(«Historie», § 6.) Eine solche Betrachtung kann nur aus einer
schwachen Persönlichkeit entspringen, deren Empfindungen nicht
flut- und ebbe-artig auf- und abwogen, wenn sie den Strom der Ereignisse
an sich vorübergehen sieht. Eine solche Persönlichkeit «ist zum
nachtönenden Passivum geworden, das durch sein Ertönen wieder auf andre
derartige Passiva wirkt: bis endlich die ganze Luft einer Zeit von
solchen durcheinander schwirrenden zarten und verwandten Nachklängen
erfüllt ist». («Historie», § 6.) Dass aber eine solche schwache
Persönlichkeit wirklich die Kräfte nachempfinden kann, die in den
Menschen der Vergangenheit gewaltet haben, glaubt Nietzsche nicht: «Doch
scheint es mir, dass man gleichsam nur die Obertöne jedes originalen
geschichtlichen Haupttons vernimmt: das Derbe und Mächtige des Originals
ist aus dem sphärisch-dünnen und spitzen Saitenklange nicht mehr zu
erraten. Dafür weckte der Originalton meistens Taten, Nöte, Schrecken,
dieser lullt uns ein und macht uns zu weichlichen Genießern; es ist, als
ob man die heroische Symphonie für zwei Flöten eingerichtet und zum
Gebrauch von träumenden Opiumrauchern bestimmt habe.» («Historie», § 6.)
Nur der kann die Vergangenheit wirklich verstehen, der auch in der
Gegenwart machtvoll lebt, der kräftige Instinkte hat, durch die er die
Instinkte der Vorfahren erraten und erschließen kann. Dieser kümmert
sich weniger um das Tatsächliche, als um das, was aus den Tatsachen sich
erraten lässt. «Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die keinen
Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im
höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität Anspruch machen
dürfte.» («Historie», §6.) Der Meister einer solchen
Geschichtsschreibung wäre der, der überall in den historischen Personen
und Ereignissen das aufsuchte, was hinter dem bloß Tatsächlichen steckt.
Dazu muss er aber ein mächtiges Eigenleben führen, denn Instinkte und
Triebe kann man unmittelbar nur an der eigenen Person beobachten.
«Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangne
deuten: nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften
werdet ihr erraten, was in dem Vergangnen wissens- und bewahrungswürdig
und groß ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangne zu
euch nieder.» «Also:
Geschichte
schreibt der Erfahrene und Überlegene. Wer nicht einiges größer und
höher erlebt hat als alle, wird auch nichts Großes und Hohes aus der
Vergangenheit zu deuten wissen.» («Historie», § 6.)
Dem
Überhandnehmen des historischen Sinnes in der Gegenwart gegenüber macht
Nietzsche geltend, «dass der Mensch vor allem zu leben lerne, und
nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche».
(«Historie», § 10.) Er will vor allen Dingen eine «Gesundheitslehre
des Lebens», und die Historie soll nur insoweit getrieben werden,
als sie einer solchen Gesundheitslehre förderlich ist.
Was ist an
der Geschichtsbetrachtung lebenfördernd? Diese Frage stellt
Nietzsche stellt Nietzsche in seiner «Historie», und er steht damit
bereits auf dem Boden, den er in dem S. 20 f. angeführten Satz aus
«Jenseits von Gut und Böse» bezeichnet.
39.
In besonders
starkem Grade wirkt der gesunden Entwicklung der Eigenpersönlichkeit
jene Gesinnung entgegen, die in dem bürgerlichenPhilister zur
Erscheinung kommt. Ein Philister ist der Gegensatz zu einem Menschen,
der in dem freien Ausleben seiner Anlagen Befriedigung findet. Der
Philister will dieses Ausleben nur insoweit gelten lassen, als es einem
gewissen Durchschnittsmaß der menschlichen Begabung entspricht. So lange
der Philister innerhalb seiner Grenzen bleibt, ist gegen ihn nichts
einzuwenden. Wer ein Durchschnittsmensch bleiben will, der hat das mit
sich abzumachen. Nietzsche fand unter seinen Zeitgenossen solche, die
ihre philisterhafte Gesinnung zur Normalgesinnung für alle Menschen
machen wollten, die ihre Philisterhaftigkeit als das einzige, wahre
Menschentum ansahen. Zu ihnen rechnet er Dav. Friedr. Strauß, den
Ästhetiker Friedr. Theodor Vischer und andere. Vischer, glaubt er, habe
das Philisterbekenntnis unumwunden abgelegt in einer Rede, die er zum
Andenken Hölderlins gehalten hat. Er sieht es in den Worten:
«Er
(Hölderlin) war eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther
Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll
Weichheit und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem
Willen, und Größe, Fülle und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar
an Äschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte
ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertragen, dass man noch
kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist.» («David Strauß», § z.)
Der Philister will hervorragenden Menschen nicht geradezu die
Existenzberechtigung absprechen; aber er meint: sie gehen an der
Wirklichkeit zugrunde, wenn sie sich nicht abzufinden wissen mit den
Einrichtungen, die der Durchschnittsmensch seinen Bedürfnissen
entsprechend geschaffen hat. Diese Einrichtungen seien einmal das
Einzige, was wirklich, was vernünftig ist, und in sie müsse sich auch
der große Mensch fügen. Aus dieser Philistergesinnung heraus hat David
Strauß sein Buch «Der alte und der neue Glaube» geschrieben. Gegen
dieses Buch oder vielmehr gegen die in ihm zum Ausdruck gekommene
Gesinnung wendet sich die erste der Nietzscheschen «Unzeitgemäßen
Betrachtungen»:
«David
Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller» (1873). Der Eindruck der
neueren naturwissenschaftlichen Errungenschaften auf den Philister ist
ein solcher, dass er sagt: «Der christliche Ausblick auf ein
unsterbliches, himmlisches Leben ist, samt den anderen Tröstungen [der
christlichen Religion], unrettbar dahingefallen.» («David Strauß», § 4.)
Er will sich das Leben auf der Erde gemäß den Vorstellungen der
Naturwissenschaft behaglich, das heißt so behaglich, wie es dem
Philister entspricht, einrichten. Nun zeigt der Philister, wie man
glücklich und zufrieden sein kann, trotzdem man weiß, dass kein höherer
Geist über den Sternen waltet, sondern die starren, gefühllosen Kräfte
der Natur über alles Weltgeschehen herrschen. «Wir haben während der
letzten Jahre lebendigen Anteil genommen an dem großen nationalen Krieg
und der Aufrichtung des deutschen Staates, und wir finden uns durch
diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unsrer
vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Verständnis dieser Dinge
helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittels einer
Reihe anziehend und volkstümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem
Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsere
Naturerkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen
Hilfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den
Schriften unsrer großen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unsrer
großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und
Humor, die nichts zu wünschen übrig lässt. So leben wir, so wandeln wir
beglückt.» (Strauß, «Der alte und neue Glaube», § 88.)
Es ist das
Evangelium des trivialsten Lebensgenusses, das aus diesen Worten
spricht. Alles, was über das Triviale hinausgeht, nennt der Philister
ungesund. Strauß sagt von der «Neunten Symphonie» Beethovens, dass diese
nur bei denen beliebt sei, welchen «das Barocke als das Geniale, das
Formlose als das Erhabene gilt» («Der alte und neue Glaube», § 109); von
Schopenhauer weiß der Messias des Philistertums zu verkünden, dass man
an eine so «ungesunde und unersprießliche» Philosophie wie die
Schopenhauersche keine Gründe, sondern höchstens nur Worte und Scherze
verschwenden dürfe. («David Strauß», § 6.) Gesund nennt der
Philister nur das, was der Durchschnittsbildung entspricht.
Als
sittliches Urgebot stellt Strauß den Satz auf: «Alles sittliche Handeln
ist ein Sich-bestimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung.» («Der
alte und neue Glaube», § 74.) Nietzsche erwidert darauf: «Ins Deutliche
und Greifbare übertragen heißt das nur: Lebe als Mensch, und nicht als
Affe oder Seehund! Dieser Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar
und kraftlos, weil unter dem Begriff Mensch das Mannigfaltigste zusammen
im Joche geht, zum Beispiel der Patagonier und der Magister Strauß, und
weil niemand wagen wird, mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als
Patagonier! und: lebe als Magister Strauß!» («David Strauß», § 7.)
Es ist ein
Ideal, und zwar ein Ideal jämmerlichster Art, das Strauß den Menschen
vorsetzen will. Und Nietzsche protestiert dagegen; er protestiert, weil
in ihm ein lebhafter Instinkt ruft: lebe nicht, wie der Magister Strauß,
sondern lebe, wie es dir angemessen ist!
40.
Erst in der
Schrift: «Menschliches, Allzumenschliches» (1878) erscheint Nietzsche
frei von dem Einflusse der Schopenhauerschen Denkweise. Er hat es
aufgegeben, übernatürliche Ursachen für die natürlichen Ereignisse zu
suchen; er strebt nach natürlichen Erklärungsgründen. Er sieht jetzt
alles Menschenleben als eine Art natürlichen Geschehens an; in dem
Menschen sieht er das höchste Naturprodukt. Man lebt «zuletzt
unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob,
Vorwürfe, Ereiferung, an vielem sich wie an einem Schauspiel weidend,
vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los
und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder
mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden ... vielmehr muss ein Mensch,
von dem in solchem Maße die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen
sind, dass er nur deshalb weiterlebt, um immer besser zu erkennen, auf
vieles, ja fast auf alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne
Neid und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswerteste
Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen
und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen.»
(«Menschliches» 1. § 34.) Nietzsche hat bereits allen Glauben an Ideale
aufgegeben; er sieht in den menschlichen Handlungen nur noch Folgen
natürlicher Ursachen, und in dem Erkennen dieser Ursachen findet er
seine Befriedigung. Er findet, dass man eine unrichtige Vorstellung von
den Dingen bekommt, wenn man bloß das an ihnen sieht, was von dem Lichte
der idealistischen Erkenntnis beleuchtet wird. Es entgeht einem dann
das, was von den Dingen im Schatten liegt. Nietzsche will jetzt nicht
nur die Sonnen-, sondern auch die Schattenseite der Dinge kennen lernen.
Aus diesem Streben ging die Schrift: «Der Wanderer und sein Schatten»
hervor (1879). Er will in diesem Buche die Erscheinungen des Lebens von
allen Seiten erfassen. Er ist «Wirklichkeitsphilosoph» im besten Sinne
des Wortes geworden.
In der
«Morgenröte» (1881) schildert er den moralischen Prozess in der
Menschheitsentwicklung als einen Naturvorgang. Schon in dieser Schrift
zeigt er, dass es keine überirdische sittliche Weltordnung, keine ewigen
Gesetze des Guten und Bösen gibt, und dass alle Sittlichkeit entsprungen
ist aus den in den Menschen waltenden natürlichen Trieben und
Instinkten. Nun war die Bahn frei gemacht für den originellen Wandergang
Nietzsches. Wenn keine außermenschliche Macht dem Menschen eine bindende
Verpflichtung auferlegen kann, dann ist er berechtigt, das eigene
Schaffen frei walten zu lassen. Diese Erkenntnis ist das Leitmotiv der
«Fröhlichen Wissenschaft» (1882). Keine Fessel ist nun dieser «freien»
Erkenntnis Nietzsches mehr angelegt. Er fühlt sich berufen, neue Werte
zu schaffen, nachdem er den Ursprung der alten erkannt und gefunden hat,
dass sie nur menschliche, keine göttlichen Werte sind. Er wagt es jetzt,
das zu verwerfen, was seinen Instinkten widerspricht, und anderes an die
Stelle zu setzen, was seinen Trieben gemäß ist: «Wir Neuen, Namenlosen,
Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft
wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich
einer neuen Gesundheit, einer stärkeren gewitzteren zäheren verwegeneren
lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach
dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten
erlebt und alle Küsten dieses idealischen 9Mittelmeeres: umschifft zu
haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrungen wissen will, wie
es einem Eroberer und Entdecker des Ideals zumute ist ... der hat zu
allererst Eins nötig, die große Gesundheit... Und nun, nachdem
wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger
vielleicht, als klug ist ... will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn
dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben ... Wie könnten wir uns,
nach solchen Ausblicken und mit einem solchen Heißhunger in Gewissen und
Wissen, noch am gegenwärtigen Menschen genügen lassen?»
(«Fröhliche Wissenschaft», § 382.)
41.
Aus der in
den vorstehenden Sätzen charakterisierten Stimmung heraus erwuchs
Nietzsche das Bild seines Übermenschen. Es ist das Gegenbild des
Gegenwartsmenschen; es ist vor allem das Gegenbild des Christen. Im
Christentum ist der Widerspruch gegen die Pflege des
starken Lebens Religion geworden. («Antichrist», § 5.) Der
Stifter dieser Religion lehrte: dass vor Gott das verächtlich ist, was
vor den Menschen Wert hat. In dem «Gottesreich» will der Christ alles
verwirklicht finden, was ihm auf Erden mangelhaft erscheint. Das
Christentum ist die Religion, die dem Menschen alle Sorge für das
irdische Leben benehmen will: es ist die Religion der Schwachen, die
sich gerne als Gebot vorsetzen lassen: «Widerstrebe nicht dem Bösen und
dulde alles Ungemach», weil sie nicht stark genug sind zum Widerstande.
Der Christ hat keinen Sinn für die vornehme Persönlichkeit, die aus
ihrer eigenen Wirklichkeit ihre Kraft schöpfen will. Er glaubt, der
Blick für das Menschenreich verderbe die Sehkraft für das Gottesreich.
Auch die vorgeschritteneren Christen, die nicht mehr glauben, dass sie
am Ende der Tage in ihrer leibhaftigen Gestalt wieder auferstehen
werden, um entweder in das Paradies aufgenommen oder in die Hölle
verstoßen zu werden, träumen von «göttlicher Vorsehung», von einer
«übersinnlichen» Ordnung der Dinge. Auch sie sind der Ansicht, dass sich
der Mensch über seine bloß irdischen Ziele erheben und in ein ideales
Reich einfügen müsse. Sie glauben, dass das Leben einen rein geistigen
Hintergrund habe, und dass es erst dadurch einen Wert erhalte. Nicht die
Instinkte für Gesundheit, Schönheit, Wachstum, Wohlgeratenheit, Dauer,
für Häufung von Kräften will das Christentum pflegen, sondern den Hass
gegen den Geist, gegen Stolz, Mut, Vornehmheit, gegen das
Selbstvertrauen und die Freiheit des Geistes, den Hass gegen die Freuden
der sinnlichen Welt, gegen die Freude und Heiterkeit der Wirklichkeit,
in der der Mensch lebt. («Antichrist», § 21.) Das Christentum bezeichnet
das Natürliche geradezu als «verwerflich». Im christlichen Gotte ist ein
jenseitiges Wesen, das heißt ein Nichts vergöttlicht, es ist
der Wille zum Nichts heilig gesprochen. («Antichrist», § 8.)
Deshalb bekämpft Nietzsche im ersten Buche seiner «Umwertung aller
Werte» das Christentum. Und er wollte im zweiten und dritten Buche auch
die Philosophie und Moral der Schwachen bekämpfen, die sich nur in der
Rolle von Abhängigen wohlgefallen. Weil der Typus des Menschen, den
Nietzsche gezüchtet sehen will, das diesseitige Leben nicht gering
schätzt, sondern dieses Leben mit Liebe umfasst und es zu hoch stellt,
um glauben zu können, dass es nur einmal gelebt werden solle,
deshalb ist er «nach der Ewigkeit brünstig» («Zarathustra», 3. Teil,
«Die sieben Siegel») und möchte, dass dieses Leben unendlich oft gelebt
werden könne. Nietzsche lässt seinen «Zarathustra» den «Lehrer der
ewigen Wiederkunft» sein. «Siehe, wir wissen ..., dass alle Dinge ewig
wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen
sind, und alle Dinge mit uns.» («Zarathustra», 3. Teil, «Der
Genesende».)
Eine
bestimmte Meinung darüber zu haben, welche Vorstellung Nietzsche mit dem
Worte «ewige Wiederkunft» verknüpfte, scheint mir gegenwärtig nicht
möglich zu sein. Man wird darüber erst Genaueres sagen können, wenn die
Aufzeichnungen Nietzsches zu den unvollendeten Teilen seines «Willens
zur Macht» in der zweiten Abteilung der Gesamtausgabe seiner Werke
vorliegen werden.