Die Philosophie Nietzsches als psycho-pathologisches Problem
I.
Nicht um die
Behauptungen der Gegner Friedrich Nietzsches zu vermehren, ist das
Folgende geschrieben, sondern in der Absicht, einen Beitrag zur
Erkenntnis dieses Mannes von einem Gesichtspunkte aus zu liefern, der
zweifellos bei der Beurteilung seiner merkwürdigen Gedankengänge in
Betracht kommt. Wer sich in die Weltanschauung Friedrich Nietzsches
vertieft, wird auf zahlreiche Probleme stoßen, die nur vom Standpunkte
der Psycho-Pathologie einer Aufhellung fähig sind. Andererseits dürfte
es gerade für die Psychiatrie von Wichtigkeit sein, sich mit einer
bedeutenden Persönlichkeit zu beschäftigen, die einen unermesslich
großen Einfluss auf die Zeitkultur gewonnen hat. Auch trägt dieser
Einfluss ein wesentlich anderes Gepräge als die Wirkungen, die sonst von
Philosophen auf ihre Schüler ausgegangen sind. Denn Nietzsche wirkt auf
seine Zeitgenossen nicht durch die logische Kraft seiner Argumente. Die
Ausbreitung seiner Anschauungen ist vielmehr auf dieselben Gründe
zurückzuführen, die es Schwärmern und Fanatikern aller Zeiten möglich
machen, ihreRollen in der Welt zu spielen. Was hier geboten werden soll,
ist nicht etwa eine vollständige Erklärung des Geisteszustandes
Friedrich Nietzsches vom psychiatrischen Gesichtspunkt aus. Eine solche
Erklärung ist heute noch nicht möglich, weil ein vollständiges und
treues klinisches Krankheitsbild noch nicht vorliegt. Alles, was von
seiner Krankheitsgeschichte bisher in die Öffentlichkeit gedrungen ist,
trägt den Charakter des Lückenhaften und Widerspruchsvollen. Was aber
heute durchaus möglich ist, das ist die Betrachtung der Philosophie
Nietzsches unter dem Gesichtswinkel der Psycho-Pathologie. Die
eigentliche Arbeit des Psychiaters wird vielleicht gerade da einsetzen,
wo diejenige des Psychologen, die hier geliefert werden soll, aufhört.
Diese Arbeit ist aber zu der vollkommenen Lösung des "Problems
Nietzsche" durchaus notwendig. Nur auf Grund einer solchen
psycho-pathologischen Symptomatologie wird der Psychiater seine Aufgabe
lösen können. (1)
Eine
Eigenschaft, die sich durch Nietzsches ganzes Wirken hindurchzieht, ist
der Mangel des Sinnes für objektive Wahrheit. Was die Wissenschaft als
Wahrheit anstrebt, das war für ihn im Grunde nie vorhanden. In der Zeit,
die kurz vor dem Ausbruche des völligen Wahnsinnes liegt, steigerte sich
dieser Mangel zu einem förmlichen Hass auf alles, was man logische
Begründung nennt. «Honette Dinge tragen wie honette Menschen ihre Gründe
nicht so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zu zeigen.
Was sich erst beweisen lassen muss, ist wenig wert», sagt er in der
1888, kurz vor der Erkrankung geschriebenen «Götzen-Dämmerung» (Band
VIII der Gesamtausgabe, 5.7'). Weil ihm dieser Wahrheitssinn fehlte, hat
er nie den Kampf durchgemacht, den so viele durchzumachen haben, die
durch ihre Entwicklung zum Aufgeben anerzogener Meinungen gezwungen
sind. Als er mit siebzehn Jahren konfirmiert wird, ist er vollkommen
gottgläubig. Ja, noch drei Jahre später, als er das Gymnasium in
Schulpforta verlässt, schreibt er: «Ihm, dem ich das Meiste verdanke,
bringe ich die Erstlinge meines Dankes; was kann ich ihm anderes opfern
als die warme Empfindung meines Herzens, das lebhafter als je seine
Liebe wahrnimmt, seine Liebe, die mich diese schönste Stunde meines
Daseins erleben ließ? Behüte er mich auch fernerhin, der treue Gott!»
(E. Förster-Nietzsche: «Das Leben Friedrich Nietzsches», I. S. 194.)
9Unsterblichkeit der Seele:, 9Erlösung:, 9Jenseits:, lauter Begriffe,
denen ich keine Aufmerksamkeit, auch keine Zeit geschenkt habe, selbst
als Kind nicht, ich war vielleicht nie kindlich genug dazu? Ich kenne
den Atheismus durchaus nicht als Ergebnis, noch weniger als Ereignis: er
versteht sich bei mir aus Instinkt.» (M. G. Conrad: «Ketzerblut», S.
182.) Es ist bezeichnend für Nietzsches Geisteskonstitution, dass er
hier behauptet, er habe selbst als Kind den angeführten religiösen
Vorstellungen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Aus der Biographie, die
seine Schwester geliefert hat, wissen wir, dass ihn seine
Klassenkameraden wegen seiner religiösen Äußerungen den «kleinen Pastor»
genannt haben. Aus alledem geht hervor, dass er die religiösen
Überzeugungen seiner Jugend mit großer Leichtigkeit überwunden hat. In
kurzer Zeit wird aus dem Gottgläubigen ein vollkommener Atheist, ohne
inneren Kampf. In den Lebenserinnerungen, die er 1888 unter dem Titel
«Ecce homo» aufzeichnet, spricht er von seinen inneren Kämpfen.
«Religiöse Schwierigkeiten», sagt er da, «kenne ich nicht aus
Erfahrung...» «9Gott:,
Der
psychologische Prozess, durch den Nietzsche zu dem Inhalte seiner
Anschauungen kommt, ist nicht derjenige, den ein Mensch durchmacht, der
auf objektive Wahrheit ausgeht. Man kann das bereits an der Art
beobachten, wie er zu den grundlegenden Ideen seines ersten Werkes «Die
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» kommt. Nietzsche nimmt an,
dass der alten griechischen Kunst zwei Triebe zugrunde liegen: Der
apollonische und der dionysische. Durch den apollonischen Trieb liefert
der Mensch ein schönes Abbild der Welt, ein Werk der ruhigen
Betrachtung. Durch den dionysischen Trieb versetzt sich der Mensch in
einen Rauschzustand; er betrachtet nicht allein die Welt; er durchdringt
sich mit den ewigen Mächten des Seins und bringt diese selbst in seiner
Kunst zum Ausdrucke. Das Epos, das plastische Bildwerk, sind Erzeugnisse
der apollinischen Kunst. Das lyrische, das musikalische Kunstwerk
entspringen dem dionysischen Triebe. Der dionysisch gestimmte Mensch
durchdringt sich mit dem Weltgeiste und bringt dessen Wesen durch seine
eigenen Äußerungen zum Vorschein. Er wird selbst Kunstwerk. «Singend und
tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit:
Er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in
die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung».
(«Geburt der Tragödie», §I..) In diesem dionysischen Zustande vergisst
der Mensch sich selbst, er fühlt sich nicht mehr als Individuum, sondern
als ein Organ des allgemeinen Weltwillens. In den Festspielen, die zu
Ehren des Gottes Dionysus veranstaltet wurden, sieht Nietzsche
dionysische Äußerungen des menschlichen Geistes. Er stellt sich nun vor,
dass die dramatische Kunst bei den Griechen aus solchen Spielen
entstanden ist. Eine höhere Vereinigung des Dionysischen mit dem
Apollinischen habe sich vollzogen. Im ältesten Drama wurde ein
apollinisches Abbild des dionysisch erregten Menschen geschaffen.
Zu solchen
Vorstellungen ist Nietzsche durch die Schopenhauersche
Philosophie gekommen. Er hat einfach die «Welt als Wille und
Vorstellung» in das Künstlerische umgesetzt. Die Welt der Vorstellung
ist nicht die wirkliche; sie ist nur ein subjektives Abbild, das unsere
Seele von den Dingen erschafft. Durch Betrachtung kommt der
Mensch nach Schopenhauers Meinung überhaupt nicht zu dem eigentlichen
Wesen der Welt. Dieses enthüllt sich ihm in seinem Willen. Die Kunst der
Vorstellung ist die apollinische; die des Willens die dionysische.
Nietzsche brauchte nur einen kleinen Schritt über Schopenhauer
hinauszugehen, und er war dort angelangt, wo er in der «Geburt der
Tragödie» steht. Schopenhauer selbst hat der Musik schon eine
Ausnahmestellung unter den Künsten angewiesen. Er nennt alle anderen
Künste bloße Abbilder des Willens; die Musik nennt er eine unmittelbare
Äußerung des Urwillens selbst.
Nun hat
Schopenhauer niemals auf Nietzsche so gewirkt, dass man sagen könnte,
dieser wurde sein Anhänger. In der Schrift «Schopenhauer als Erzieher»
schildert Nietzsche den Eindruck, den er von der Lehre des
pessimistischen Philosophen erhalten hat: «Schopenhauer redet mit sich,
oder wenn man sich durchaus einen Zuhörer denken will, so denke man sich
den Sohn, welchen der Vater unterweist. Es ist ein redliches, derbes,
gutmütiges Aussprechen, vor einem Hörer, der mit Liebe hört. Solche
Schriftsteller fehlen uns. Das kräftige Wohlgefühl des Sprechenden
umfängt uns beim ersten Tone seiner Stimme; es geht uns ähnlich wie beim
Eintritt in den Hochwald, wir atmen tief und fühlen uns auf einmal
wiederum wohl. Hier ist eine immer gleichartige, stärkende Luft, so
fühlen wir; hier ist eine gewisse unnachahmliche Unbefangenheit und
Natürlichkeit, wie sie Menschen haben, die in sich zu Hause, und zwar in
einem sehr reichen Hause Herren sind.» Dieser ästhetische
Eindruck ist ausschlaggebend für Nietzsches Stellung zu Schopenhauer. Um
die Lehre war es ihm gar nicht zu tun. Unter den Aufzeichnungen, die er
sich zu derselben Zeit gemacht hat, als er die hymnusartige Schrift
«Schopenhauer als Erzieher» verfasste, findet man die folgende: «Ich bin
ferne davon zu glauben, dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe,
sondern nur mich selber habe ich durch Schopenhauer ein weniges besser
verstehen gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die größte Dankbarkeit
schuldig bin. Aber überhaupt scheint es mir nicht so wichtig zu sein,
wie man es jetzt nimmt, dass bei irgend einem Philosophen genau
ergründet und ans Licht gebracht werde, was er eigentlich im strengsten
Wortverstande gelehrt habe, was nicht: eine solche Erkenntnis ist
wenigstens nicht für Menschen geeignet, welche eine Philosophie für
ihr Leben, nicht eine neue Gelehrsamkeit für ihr Gedächtnis
suchen: und zuletzt bleibt es mir unwahrscheinlich, dass so etwas
wirklich ergründet werden kann.» (Nietzsches Werke, Band X, S.
285f.)
Nietzsche
baut also seine Ideen über die «Geburt der Tragödie» auf der Grundlage
eines philosophischen Lehrgebäudes auf, von dem er es dahingestellt sein
lässt, ob er es richtig verstanden hat. Er sucht nicht nach logischer,
sondern lediglich nach ästhetischer Befriedigung.
Ein weiterer
Beleg für seinen Mangel an Wahrheitssinn liefert sein Verhalten während
der Abfassung der Schrift «Richard Wagner in Bayreuth» im Jahre 1876. Er
schrieb in dieser Zeit nicht nur alles nieder, was er zum Lobe Wagners
vorzubringen hatte, sondern manche der Ideen, die er dann später im
«Fall Wagner» gegen Wagner vorbrachte. In die Schrift «Richard Wagner in
Bayreuth» nahm er nur dasjenige auf, was zur Verherrlichung Richard
Wagners und seiner Kunst dienen konnte; die argen, ketzerischen Urteile
hielt er zunächst in seinem Pulte zurück. So verfährt natürlich nicht
jemand, der Sinn für objektive Wahrheit hat. Nicht eine wahre
Charakteristik Wagners wollte Nietzsche liefern, sondern ein Loblied
wollte er dem Meister singen.
Höchst
bezeichnend ist, wie Nietzsche sich verhält, als ihm 1876 in Paul
Ree eine Persönlichkeit entgegentritt, die eine Reihe derjenigen
Probleme, welche wie namentlich die ethischen auch im sich im Leben
nützlich erwiesen. Die Grundwahrheiten der Mechanik und
Naturwissenschaft seien eigentlich Irrtümer; dies wollte er in einem
Werke ausführen, zu dem er 1881 den Plan entwarf. Das alles
Interessenkreise Nietzsches lagen, ganz im Geiste streng objektiver
Wissenschaftlichkeit betrachtete. Diese Art, die Dinge anzusehen, wirkte
auf Nietzsche wie eine neue Offenbarung. Er bewundert diese reine
Wahrheitsforschung, die frei von allem Romantizismus ist. Fräulein
Malwida von Meysenbug, die geistvolle Verfasserin der «Memoiren
einer Idealistin», erzählt in ihrem vor kurzem erschienenen Buche: «Der
Lebensabend einer Idealistin» von Nietzsches Stellung zu Rées
Betrachtungsweise im Jahre 1876. Sie gehörte damals zu dem Kreise von
Menschen in Sorrent, innerhalb dessen sich Nietzsche und Rées näher
traten. «Wie sehr seine (Rées) Art, die philosophischen Probleme zu
erklären, auf Nietzsche Eindruck machte, ersah ich aus manchen
Gesprächen.» Sie teilt eine Stelle aus einem solchen Gespräche mit: «Es
sei sagte Nietzsche der Irrtum aller Religionen, eine
transzendentale Einheit hinter der Erscheinung zu suchen, und das sei
auch der Irrtum der Philosophie und des Schopenhauerschen Gedankens von
der Einheit des Willens zum Leben. Die Philosophie sei ein ebenso
ungeheurer Irrtum wie die Religion. Das allein Wertvolle und Gültige sei
die Wissenschaft, welche allmählich Stein an Stein füge, um ein sicheres
Gebäude aufzuführen.» Dies spricht eine deutliche Sprache. Nietzsche,
dem selbst der Sinn für objektive Wahrheit mangelte, vergötterte ihn
geradezu, als er ihm bei jemand anderem entgegentritt. Als Folge tritt
aber bei ihm nun nicht etwa selbst die Hinwendung zur objektiven
Wissenschaftlichkeit auf. Die Art seines eigenen Produzierens bleibt
dieselbe, die sie vorher war. Auch jetzt wirkt also die Wahrheit nicht
durch ihre logische Natur auf ihn, sondern sie macht ihm einen
ästhetisch wohlgefälligen Eindruck. Er singt in seinen beiden Bänden
«Menschliches, Allzumenschliches» (1878) der objektiven
Wissenschaftlichkeit ein Loblied nach dem andern; er selbst aber wendet
die Methode dieser Wissenschaftlichkeit durchaus nicht an. Ja, er
schreitet auf seiner Bahn in der Weise fort, dass er 1881 auf dem
Standpunkte anlangte, aller Wahrheit den Krieg zu erklären. Nietzsche
stellt nämlich in dieser Zeit eine Behauptung auf, durch die er sich in
bewussten Gegensatz stellt zu den Anschauungen, welche die
Naturwissenschaft vertritt. Diese Behauptung ist seine vielbesprochene
Lehre von der «Ewigen Wiederkunft» aller Dinge. Er fand in
Dührings «Kursus der Philosophie» eine Ausführung, die den Beweis
liefern sollte, dass eine ewige Wiederholung gleicher Weltereignisse mit
den Grundsätzen der Mechanik nicht vereinbar sei. Gerade dies reizte
ihn, eine solche ewige, periodische Wiederholung gleicher Weltereignisse
anzunehmen. Alles, was heute geschieht, soll schon unzählige Male
dagewesen sein, und soll sich unzählige Male wiederholen. Er spricht in
dieser Zeit auch aus, welchen Reiz es für ihn hat, zu allgemein
anerkannten Wahrheiten die Gegenmeinungen aufzustellen. «Was ist die
Reaktion der Meinungen? Wenn eine Meinung aufhört, interessant zu
sein, so sucht man ihr einen Reiz zu verleihen, indem man sie an ihre
Gegenmeinung hält. Gewöhnlich aber verführt die Gegenmeinung und macht
nun neue Bekenner: sie ist inzwischen interessanter geworden.»
(Nietzsches Werke, Band XI, S.65.) Und weil er einsieht, dass seine
Gegenmeinung zu den alten naturwissenschaftlichen Wahrheiten nicht
stimmt, stellt er die Behauptung auf, dass diese Wahrheiten selbst nicht
Wahrheiten, sondern Irrtümer seien, welche die Menschen nur angenommen
hätten, weil sie versuchte er nur um der Idee von der «Ewigen
Wiederkehr» willen. Die logisch zwingende Kraft der Wahrheit sollte
geleugnet werden, um eine dem Wesen dieser Wahrheit zuwiderlaufende
Gegenmeinung aufstellen zu können.
Allmählich
nahm Nietzsches Kampf gegen die Wahrheit noch stärkere Dimensionen an.
In der Schrift «Jenseits von Gut und Böse» fragt er 1885 bereits, ob
denn die Wahrheit überhaupt irgend einen Wert habe. «Der Wille zur
Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte
Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet
haben, was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt?
Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen Fragen? Das ist bereits
eine lange Geschichte und doch scheint es, dass sie kaum eben
angefangen hat ... Gesetzt, wir wollen Wahrheit, warum nicht lieber
Unwahrheit?»
Solche
Fragen können selbstverständlich auch bei einem durchaus logischen Kopfe
auftreten. Die Erkenntnistheorie hat sich mit diesen Fragen zu
beschäftigen. Bei einem wirklichen Denker tritt aber als natürliche
Folge des Auftauchens solcher Fragen die Untersuchung nach den Quellen
des menschlichen Erkennens ein. Für ihn beginnt eine Welt subtilster,
philosophischer Probleme. Das alles ist bei Nietzsche nicht der Fall. Er
tritt überhaupt in kein Verhältnis zu diesen Fragen, das mit Logik etwas
zu tun hat. «Ich erwarte immer noch, dass ein philosophischer
Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes ein solcher, der dem
Probleme der Gesamt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit
nachzugehn hat einmal den Mut haben wird, meinen Verdacht auf die
Spitze zu bringen und den Satz zu wagen: Bei allem Philosophieren
handelte es sich bisher gar nicht um 9Wahrheit:, sondern um etwas
anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachstum Macht, Leben ...» So
schrieb Nietzsche im Herbste 1886. (In der Vorrede zur zweiten Auflage
der «Fröhlichen Wissenschaft».) Man sieht, in Nietzsche ist die Neigung
vorhanden, einen Gegensatz von Lebensnützlichkeit, Gesundheit, Macht und
so weiter und Wahrheit zu empfinden. Dem natürlichen Empfinden
entspricht es, hier nicht einen Gegensatz, sondern eine Harmonie
anzunehmen. Es erscheint bei Nietzsche die Frage nach dem Werte der
Wahrheit nicht als ein erkenntnistheoretisches Bedürfnis, sondern eben
als ein Ausfluss seines Mangels an objektivem Wahrheitssinn überhaupt.
Grotesk tritt das zutage in einem Satze, der auch in der eben genannten
Vorrede steht: «Und was unsre Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich
wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche nachts
Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus alles, was mit
guten Gründen verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles
Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur
Wahrheit, zur 9Wahrheit um jeden Preis:, dieser Jünglings-Wahnsinn in
der Liebe zur Wahrheit ist uns verleidet.» Aus dieser seiner Abneigung
gegen die Wahrheit entsprang Nietzsches Hass gegen Sokrates. Der Trieb
nach Objektivität in diesem Geiste hatte für ihn etwas geradezu
Abstoßendes. In seiner «Götzen-Dämmerung» (1888) kommt das in der
schärfsten Weise zum Ausdrucke: «Sokrates gehörte seiner Herkunft nach
zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel. Man weiß, man sieht es selbst
noch, wie hässlich er war ... Sokrates war ein Missverständnis.»
Man
vergleiche die philosophische Skepsis anderer Persönlichkeiten mit dem
Kampfe gegen die Wahrheit, den Nietzsche führt. Gewöhnlich liegt dieser
Skepsis gerade ein ausgesprochener Sinn für die Wahrheit zugrunde. Der
Trieb nach Wahrheit treibt den Philosophen, ihren Wert, ihre Quellen,
ihre Grenzen zu erforschen. Bei Nietzsche ist dieser Trieb nicht
vorhanden. Und die Art, wie er den Erkenntnisproblemen zu Leibe geht,
ist nur ein Erzeugnis seines fehlerhaften Wahrheitssinnes. Dass ein
solcher Mangel in einer genialen Persönlichkeit in anderer Weise zum
Vorschein kommt, als in einer untergeordneten, ist begreiflich. So groß
auch der Abstand ist zwischen Nietzsche und dem psychopathisch
Minderwertigen, dem im alltäglichen Leben der Sinn für Wahrheit fehlt,
qualitativ hat man es hier wie dort mit derselben ans Pathologische
mindestens grenzenden psychologischen Eigentümlichkeit zu tun.
II.
In
Nietzsches Gedankenwelt offenbart sich ein Zerstörungstrieb, der
ihn in der Beurteilung gewisser Anschauungen und Überzeugungen weit über
das hinausgehen ließ, was als Kritik psychologisch begreiflich
erscheint. Es ist bezeichnend, dass sich der weitaus größte Teil alles
dessen, was Nietzsche geschrieben hat, als Ergebnis dieses zerstörenden
Triebes darstellt. In der «Geburt der Tragödie» wird die ganze
abendländische Kulturentwicklung von Sokrates und Euripides bis zu
Schopenhauer und Richard Wagner als ein Irrweg hingestellt. Die
«Unzeitgemäßen Betrachtungen», an denen er 1873 zu arbeiten begann,
werden mit der entschiedenen Absicht begonnen, «die ganze Tonleiter»
seiner «Feindseligkeiten abzusingen». Von den zwanzig projektierten sind
vier dieser Betrachtungen fertig geworden. Zwei davon sind
Kampfschriften, die in grausamster Weise die Schwächen des angegriffenen
Gegners oder der Nietzsche unsympathischen Anschauung aufspüren, ohne
sich im Geringsten um die relative Berechtigung des Bekämpften zu
kümmern. Die beiden anderen sind zwar Lobeshymnen auf zwei
Persönlichkeiten; doch hat Nietzsche im Jahre 1888 (im «Fall Wagner»)
nicht nur alles zurückgenommen, was er zur Verherrlichung Wagners 1876
gesagt hat, sondern er hat das Erscheinen der Wagnerschen Kunst, die er
zuerst als Rettung und Wiedergeburt der ganzen abendländischen Kultur
pries, später als die größte Gefahr für diese Kultur hingestellt. Und
auch über Schopenhauer schreibt er 1888: «Er hat, der Reihe nach, die
Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, ... den Willen
zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinung der 9Verneinung: oder
der Verneinungs-Bedürftigkeit des 9Willens: interpretiert die größte
psychologische Falschmünzerei, die es, das Christentum abgerechnet, in
der Geschichte gibt. Genauer zugesehn ist er darin bloß der Erbe der
christlichen Interpretation: nur dass er auch das vom Christentum
Abgelehnte, die großen Kultur-Tatsachen der Menschheit noch in
einem christlichen, das heißt nihilistischen Sinne gutzuheißen
wusste.» Also selbst Erscheinungen gegenüber, die Nietzsche einmal
bewundert hat, ruht sein Zerstörungstrieb nicht. Auch in den vier
Schriften, die von 1878 bis 1882 erscheinen, überwiegt die Tendenz,
anerkannte Richtungen zu zerstören, wesentlich dasjenige, was Nietzsche
selbst Positives vorbringt. Es kommt ihm fast gar nicht darauf an, nach
neuen Einsichten zu suchen, als vielmehr darauf, die bestehenden zu
erschüttern. Er schreibt 1888 im «Ecce homo» über das Zerstörungswerk,
das er 1876 mit «Menschliches, Allzumenschliches» begann: «Ein Irrtum
nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht
widerlegt es erfriert ... Hier zum Beispiel erfriert 9das
Genie:; eine Ecke weiter erfriert 9der Heilige:; unter einem dicken
Eiszapfen erfriert 9der Held:; am Schlusse erfriert 9der Glaube:, die
sogenannte 9Überzeugung:, auch das 9Mitleiden: kühlt sich bedeutend ab
fast überall erfriert das 9Ding an sich ...»: «Menschliches,
Allzumenschliches ..., mit dem ich bei mir allem eingeschleppten
9höheren Schwindel:, 9Idealismus:, 9schönem Gefühl: und andren
Weiblichkeiten ein jähes Ende bereitete ...» Diese Zerstörungssucht
treibt Nietzsche dazu, die Opfer, auf die er verfallen ist, mit geradezu
blinder Wut zu verfolgen. Er bringt für eine Idee, für eine
Persönlichkeit, die er ablehnen zu Grade im Recht ist, zugeben müssen,
dass der Weg, auf dem er zu seinen Urteilen gelangt, eine Verzerrung im
psychologischen Sinne darstellt. Nur das Faszinierende seiner
Ausdrucksform, nur die künstlerische Behandlung der Sprache kann bei
Nietzsche über diese Tatsache hinwegtäuschen. Die intellektuelle
Zerstörungslust Nietzsches wird aber besonders klar, wenn man bedenkt,
wie wenig positive Ideen er den Anschauungen entgegenzusetzen vermag,
die er angreift. Er behauptet von der ganzen bisherigen Kultur, sie habe
ein ganz falsches Menschenideal verwirklicht; er setzt diesem
verwerflichen Typus Mensch seine Vorstellung des «Übermenschen»
entgegen. Als Beispiel eines Übermenschen schwebt ihm ein echter
Zerstörer vor: Cesare Borgia. Sich einen solchen Zerstörer in
einer wichtigen historischen Rolle vorzustellen, bereitet ihm eine wahre
geistige Wollust. «Ich sehe die Möglichkeit vor mir, von einem
vollkommen überirdischen Zauber und Farbenreiz es scheint mir, dass
sie in allen Schaudern raffinierter Schönheit erglänzt, dass eine Kunst
in ihr am Werke ist, so göttlich, so teufelsmäßig-göttlich, dass man
Jahrtausende umsonst nach einer zweiten solchen Möglichkeit durchsucht;
ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich,
dass alle Gottheiten des Olymps einen Anlas zu einem unsterblichen
Gelächter gehabt hätten Cesare Borgia als Papst ... Versteht
man mich? Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich
heute verlange damit war das Christentum abgeschafft!»
(Nietzsches Werke, Band VIII, 5.3".) Wie bei Nietzsche der Sinn für
Zerstörung den für Aufbau überwiegt, das geht aus der Disposition seines
letzten Werkes hervor, seiner «Umwertung aller Werte». Drei Viertel
davon sollen rein negative Arbeit leisten. Er will bieten eine
Vernichtung des Christentums unter dem Titel «Der Antichrist», eine
Vernichtung aller bisherigen Philosophie, die er eine «nihilistische
Bewegung» nannte, unter der Überschrift: «Der freie Geist», und eine
Vernichtung aller bisherigen Moralbegriffe: «Der Immoralist». Er nannte
diese Moralbegriffe die «verhängnisvollste Art von Unwissenheit». Erst
das letzte Kapitel kündet etwas Positives an: «Dionysos, Philosophie der
ewigen Wiederkunft.» (Nietzsches Werke, Band VIII, S. III, Anhang.) Für
diesen positiven Teil seiner Philosophie hat er aber nie einen
erheblichen Inhalt gewinnen können. müssen glaubt, Urteile auf, die in
gar keinem Verhältnisse zu den Gründen stehen, die er für seine
Ablehnung anzuführen hat. Die Art, wie er gegnerische Meinungen
verfolgt, ist nicht dem Grade, sondern nur der Art nach verschieden von
derjenigen, wie typische Querulanten ihre Gegner verfolgen. Es kommt
dabei weniger auf den Inhalt der Urteile an, die Nietzsche vorbringt.
Man kann ihm bezüglich dieses Inhaltes oftmals Recht geben. Aber man
wird selbst in Fällen, wo er zweifellos bis zu einem gewissen
Nietzsche
schreckt nicht vor den ärgsten Widersprüchen zurück, wenn es sich darum
handelt, irgend eine Vorstellungsrichtung, eine Kulturerscheinung zu
zerstören. Als es ihm 1888 im «Antichrist» darum zu tun ist, die
Schädlichkeit des Christentums darzustellen, setzt er dieses mit
folgenden Worten in Gegensatz zu den älteren Kulturerscheinungen: «Die
ganze Arbeit der antiken Kultur umsonst: ich habe kein Wort
dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt ... Wozu
Griechen? Wozu Römer? Alle Voraussetzungen zu einer gelehrten Kultur,
alle wissenschaftlichen Methoden waren bereits da, man hatte die
große, die unvergleichliche Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt
diese Voraussetzung zur Tradition der Kultur, zur Einheit der
Wissenschaft; die Naturwissenschaft im Bunde mit der Mathematik und
Mechanik war auf dem allerbesten Wege der Tatsachensinn, der
letzte und wertvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits
Jahrhunderte alte Tradition! ... Und nicht durch ein Natur-Ereignis
über Nacht verschüttet! . .. Sondern von listigen, heimlichen,
unsichtbaren, blutarmen Vampyren zuschanden gemacht!... Man lese nur
irgend einen christlichen Agitator, den heiligen Augustin zum Beispiel,
um zu begreifen, um zu riechen, was für unsaubere Gesellen damit
obenauf gekommen sind.» (Werke, Band VIII, S.307/308.) Die Kunst, zu
lesen, hat Nietzsche gründlich verachtet bis zu dem Zeitpunkte, wo er
sie verteidigte, um das Christentum zu bekämpfen. Es sei nur
einer seiner Sätze über diese Kunst angeführt: «Mir steht nun
einmal fest, dass eine einzige Zeile geschrieben zu haben, welche es
verdient, von Gelehrten späterer Zeit kommentiert zu werden, das
Verdienst des größten Kritikers aufwiegt. Es liegt eine tiefe
Bescheidenheit im Philologen. Texte verbessern ist eine unterhaltende
Arbeit für Gelehrte, es ist ein Rebusraten; aber man sollte es für keine
zu wichtige Sache ansehen. Schlimm, wenn das Altertum weniger deutlich
zu uns redete, weil eine Million Worte im Wege stünden!» (Werke, Band X,
S.341.) Und über den Bund des Tatsachensinnes mit Mathematik und
Mechanik bringt Nietzsche 1882 in seiner «Fröhlichen Wissenschaft»
folgendes vor: «Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei ...
die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehen und Greifen und nichts weiter zulässt,
das ist eine Plumpheit und Naivität, gesetzt, dass es keine
Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist.» «Wollen wir uns wirklich
dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechts-Übung und Stubenhockerei
für Mathematiker herabwürdigen lassen?» (Werke, Band V, S. 330/331.)
III.
In
unverkennbarer Weise kann man bei Nietzsche eine gewisse
Inkohärenz der Vorstellungen beobachten. Wo nur logische
Vorstellungsassoziationen am Platze wären, treten bei ihm
Gedankenzusammenhänge auf, die auf bloß äußerlichen, zufälligen
Merkmalen, zum Beispiel Klangähnlichkeit der Worte, oder auf
metaphorischen Beziehungen beruhen, die an der Stelle, wo die Begriffe
gebraucht werden, gleichgültig sind. An einer Stelle in «Also sprach
Zarathustra», wo die Zukunfts- den Gegenwartsmenschen gegenübergestellt
werden, finden wir folgende Ausschweifung der Phantasie: «Dem Winde tut
mir gleich, wenn er aus seinen Berghöhlen stürzt: nach seiner eigenen
Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und hüpfen unter seinen
Fußstapfen. Der den Eseln Flügel gibt, der Löwinnen melkt, gelobt sei
dieser gute unbändige Geist, der allem Heute und allem Pöbel wie ein
Sturmwind kommt, der Distel- und Tiftelköpfen feind ist und allen
welken Blättern und Unkräutern: gelobt sei dieser wilde gute freie
Sturmgeist, welcher auf Mooren und Trübsalen wie auf Wiesen tanzt! Der
die Pöbel-Schwindhunde hasst und alles missratene düstere Gezücht:
gelobt sei dieser Geist aller freien Geister, der lachende Sturm,
welcher allen Schwarzsüchtigen, Schwärsüchtigen Staub in die Augen
bläst!» (Werke, Band VI, S. 429 f) Im «Antichrist» findet sich folgender
Gedanke, in dem das Wort «Wahrheit» in ganz äußerlichem Sinne den Anlas
zu einer Ideenassoziation an einer wichtigen Stelle gibt: «Habe ich noch
zu sagen, dass im ganzen Neuen Testament bloß eine einzige Figur
vorkommt, die man ehren muss? Pilatus, der römische Statthalter. Einen
Judenhandel ernst zu nehmen dazu überredet er sich nicht. Ein
Jude mehr oder weniger was liegt daran?... Der vornehme Hohn eines
Römers, vor dem ein unverschämter Missbrauch mit dem Worte «Wahrheit»
getrieben wird, hat das Neue Testament mit dem einzigen Worte
bereichert, das Wert hat ... das seine Kritik, seine
Vernichtung selbst ist: 9Was ist Wahrheit!: ...» (Werke, Band
VIII, S. 280 f) Es gehört durchaus in die Klasse inkohärenter
Vorstellungsassoziationen, wenn in «Jenseits von Gut und Böse» am
Schlusse einer Abhandlung über den Wert der deutschen Kultur folgender
Satz steht, der hier mehr sein soll als eine stilistische Pointe: «Es
ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, für gutmütig, für
redlich, für unklug geltend zu machen, gelten zu lassen: es
könnte sogar tief sein! Zuletzt: man soll seinem Namen Ehre machen
man heißt nicht umsonst, das 9tiusche: Volk, das Täusche-Volk...»
Je intimer
man sich mit Nietzsches Gedankenentwicklung beschäftigt, desto mehr
kommt man zu der Überzeugung, dass es hier überall Absprünge gibt von
dem, was noch psychologisch erklärbar ist. Der Trieb, sich zu isolieren,
sich von der Außenwelt abzuschließen, liegt tief in seiner geistigen
Organisation begründet. Er spricht sich im «Ecce homo» selbst
charakteristisch genug darüber aus: «Mir eignet eine vollkommen
unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinktes, so dass ich die
Nähe oder was sage ich? das Innerlichste, die 9Eingeweide: jeder
Seele physiologisch wahrnehme rieche. Ich habe an dieser
Reizbarkeit psychologische Fühlhörner, mit denen ich jedes Geheimnis
betaste und in die Hand bekomme: der viele verborgene Schmutz auf
dem Grunde mancher Natur, vielleicht in schlechtem Blut bedingt, aber
durch Erziehung übertüncht, wird mir fast bei der ersten Berührung schon
bewusst. Wenn ich recht beobachtet habe, empfinden solche meiner
Reinlichkeit unzuträgliche Naturen die Vorsicht meines Ekels auch
ihrerseits: sie werden damit nicht wohlriechender... Das macht mir aus
dem Verkehr mit Menschen keine kleine Gedulds-Probe; meine Humanität
besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es
auszuhalten, dass ich ihn mitfühle... Meine Humanität ist eine
beständige Selbstüberwindung. Aber ich habe Einsamkeit nötig,
will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir, den Atem einer freien leichten
spielenden Luft ... Der Ekel am Menschen, am 9Gesindel: war immer
meine größte Gefahr.» (M. G. Conrad: «Ketzerblut», S. 183f) Solche
Triebe liegen seinen Lehren über «Jenseits von Gut und Böse» und einer
ganzen Reihe seiner anderen Gedanken zugrunde. Er will eine Kaste
vornehmer Menschen erziehen, die aus dem Bereiche ihrer völligen Willkür
heraus sich ihre Lebensziele setzen. Und die ganze Geschichte ist ihm
nur ein Mittel, solche wenigen Herrennaturen zu züchten, die sich der
ganzen übrigen Menschenmasse als Mittel zu ihren persönlichen Zwecken
bedienen. «Man missversteht das Raubtier und den Raubmenschen (zum
Beispiele Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die 9Natur:, so
lange man noch nach einer 9Krankhaftigkeit: im Grunde dieser gesündesten
aller tropischen Untiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer
eingeborenen 9Hölle: -: wie es bisher fast alle Moralisten getan haben»,
heißt es im § 197 von «Jenseits von Gut und Böse». Nietzsche sieht es
als Wesentliches einer richtigen Aristokratie an, dass sie «mit gutem
Wissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um
ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu
Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen». (§ 258 von
«Jenseits von Gut und Böse».) Aus dieser Quelle stammt bei Nietzsche
auch seine ans Engherzige grenzende Beurteilung der sozialen Frage. Die
Arbeiter müssen nach seiner Meinung Herde bleiben, sie dürfen nicht dazu
erzogen werden, sich als Zweck zu betrachten. «Man hat die
Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich
selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit
in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig
gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht, das politische Stimmrecht
gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als
Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht -) empfindet? Aber
was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muss man
auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man
sie zu Herren erzieht.» (Werke, Band VIII, S.153.)
In der
letzten Phase seines Schaffens stellte er dann vollends die eigene
Person in den Mittelpunkt des Weltgeschehens. «Dies Buch gehört den
Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch keiner von ihnen. Es mögen die
sein, welche meinen Zarathustra verstehen: wie dürfte ich mich
mit denen verwechseln, für welche heute schon Ohren wachsen? Erst das
Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum geboren. Die Bedingungen,
unter denen man mich versteht und dann mit Notwendigkeit versteht
ich kenne sie nur zu genau ... Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen
für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene
Wahrheiten ... Wohlan! Das allein sind meine Leser, meine rechten Leser,
meine vorherbestimmten Leser: was liegt am Rest? Der Rest ist
bloß Menschheit. Man muss der Menschheit überlegen sein durch Kraft,
durch Höhe der Seele durch Verachtung ... (Werke, Band VIII,
S.215 f) Es bedeutet nur eine Steigerung solcher Vorstellungen, wenn
Nietzsche sich zuletzt mit Dionysos identifiziert.
So konnte
Nietzsche nur denken, weil ihm in seiner Isolierung jede Vorstellung
fehlte, inwiefern seine Anschauungen nur Nuancen dessen sind, was sich
auch sonst im Geistesleben des neunzehnten Jahrhunderts zur Herrschaft
heraufgearbeitet hat. Auch fehlte ihm jede Erkenntnis des Zusammenhanges
seiner Ideen mit dem wissenschaftlichen Bestande seines Zeitalters. Was
für andere sich als Konsequenz gewisser Voraussetzungen ergibt, steht in
seinem Gedankensysteme isoliert da und wächst in dieser Isolierung zu
einer Intensität an, die seinen Lieblingsansichten durchaus den
Charakter von Zwangsvorstellungen verleiht. Seine ganze
biologische Auffassung der Moralbegriffe trägt diesen Charakter. Die
ethischen Begriffe sollen nichts anderes sein als Äußerungen
physiologischer Prozesse. «Was ist Moralität! Ein Mensch, ein Volk hat
eine physiologische Veränderung erlitten, empfindet diese im
Gemeingefühl und deutet sie sich in der Sprache seiner Affekte
und nach dem Grade seiner Kenntnisse aus, ohne zu merken, dass
der Sitz der Veränderung in der Physis ist. Wie als ob einer Hunger hat
und meint, mit Begriffen und Gebräuchen, mit Lob und Tadel ihn zu
beschwichtigen!» (Werke, Band XII, S.35.) Solche für eine
naturwissenschaftliche Weltanschauung feststehende Begriffe wirken auf
Nietzsche als Zwangsvorstellungen, und er spricht von ihnen nicht mit
der Ruhe des Erkennenden, der die Tragweite seiner Ideen zu bemessen in
der Lage ist, sondern mit der Leidenschaft des Fanatikers und
Schwärmers. Der Gedanke von der Auslese der Besten im menschlichen
«Kampf ums Dasein», dieser in der Darwinistischen Literatur der letzten
Jahrzehnte ganz heimische Gedanke, erscheint bei Nietzsche als die Idee
des «Übermenschen». Der Kampf gegen den «Jenseitsglauben», den Nietzsche
so leidenschaftlich in seinem «Zarathustra» führt:
er ist nur
eine andere Form des Kampfes, den die materialistische und monistische
Naturlehre führt. Neu an Nietzsches Ideen ist im Grunde nur der
Gefühlston, der sich bei ihm an die Vorstellungen knüpft. Und dieser
Gefühlston ist in seiner Intensität nur zu begreifen, wenn man annimmt,
dass diese Vorstellungen aus ihrem systematischen Zusammenhange
gerissen, wie Zwangsideen auf ihn wirken. So auch ist nur die häufige
Wiederholung derselben Vorstellung zu erklären, so der unmotivierte
Charakter, mit dem gewisse Gedanken oft auftreten. Dieses völlig
Unmotivierte können wir besonders an seiner Idee von der «Ewigen
Wiederkunft» aller Dinge und Vorgänge bemerken. Wie ein Komet tritt
diese Idee in seinen Werken aus der Zeit von 18821888 immer wieder auf.
Nirgends erscheint sie in einem inneren Zusammenhange mit dem, was er
sonst vorbringt. Zu ihrer Begründung wird so gut wie nichts vorgebracht.
Überall aber wird sie wie eine Lehre vorgetragen, die geeignet ist, die
allertiefsten Erschütterungen in der ganzen menschlichen Kultur
hervorzurufen.
Man kann
Nietzsches Geisteskonstitution nicht mit den Begriffen der Psychologie
verstehen; man muss die Psycho-Pathologie zu Hilfe rufen. Mit dieser
Behauptung soll nichts gegen das Genialische seines Schaffens gesagt
werden. Am wenigsten soll damit über Wahrheit oder Irrtum in seinen
Ideen selbst etwas entschieden werden. Nietzsches Genie hat mit dieser
Untersuchung überhaupt nichts zu tun. Das Genialische erscheint bei ihm
durch ein pathologisches Medium hindurch.
Nicht die
Genialität Friedrich Nietzsches soll aus seiner kranken Konstitution
erklärt werden. Nietzsche war Genie, trotzdem er krank war. Ein
anderes ist es, die Genialität selbst als krankhaften Geisteszustand
erklären; ein anderes die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen von Genie
unter Berücksichtigung des Morbiden in seinem Wesen begreifen. Man kann
ein Anhänger der Ideen Nietzsches sein und doch der Meinung, dass die
Art, wie er diese Ideen findet, miteinander verbindet, wie er sie
bewertet und vertritt, nur durch psycho-pathologische Begriffe zu
verstehen ist. Man kann seinen schönen, großen Charakter, seine
merkwürdige Denkerphysiognomie bewundern und doch zugeben, dass in
diesen Charakter, in diese Physiognomie morbide Faktoren eingreifen. Das
Problem Nietzsche hat gerade dadurch sein großes Interesse, weil ein
genialer Mensch Jahre hindurch mit morbiden Elementen kämpft, weil er
große Gedanken nur in einem Zusammenhange vorzubringen vermag, der durch
die Psycho-Pathologie erklärbar wird. Nicht das Genie selbst, nur die
Äußerungsform des Genies soll auf diesem Wege erklärt werden. Die
Medizin wird mit ihren Mitteln wichtiges beizutragen haben zur Erklärung
des Geistesbildes Nietzsches. Auch auf die Psycho-Pathologie der Massen
wird ein Licht fallen, wenn erst die Geistesart Nietzsches selbst
verstanden wird. Es ist ja klar, dass nicht der Inhalt von
Nietzsches Lehre dieser so viele Anhänger zugetragen hat, sondern dass
ihre Wirkung vielfach gerade auf der ungesunden Art beruht, wie
Nietzsche seine Ideen vertreten hat. Wie ihm seine Gedanken zumeist
nicht ein Mittel waren, die Welt und den Menschen zu begreifen, sondern
psychische Entladungen, durch die er sich berauschen wollte, so ist das
auch bei vielen seiner Anhänger der Fall. Man sehe, wie er selbst das
Verhältnis der in seiner «Fröhlichen Wissenschaft» zusammengestellten
Gedanken zu seiner Empfindung schildert.«9 Fröhliche Wissenschaft:: das
bedeutet die Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen
Drucke geduldig widerstanden hat -geduldig, streng, kalt, ohne sich zu
unterwerfen, aber ohne Hoffnung -, und der jetzt mit einem Male von der
Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit, von der
Trunkenheit der Genesung. Was Wunder, dass dabei viel
Unvernünftiges und Närrisches ans Licht kommt, viel mutwillige
Zärtlichkeit, selbst auf Probleme verschwendet, die ein stachliches Fell
haben und nicht danach angetan sind, geliebkost und gelockt zu werden.
Dies ganze Buch ist eben nichts als eine Lustbarkeit nach langer
Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft, des
neu erwachten Glaubens ...» (Nietzsches Werke, Band V, S. 3f) Nicht um
Wahrheit handelt es sich in diesem Buche, sondern um Auffindung von
Gedanken, an denen ein kranker Geist ein Heilmittel für sich, ein
Erheiterungsmittel haben kann.
Ein Geist,
der durch seine Gedanken die Welt- und Menschenentwicklung begreifen
will, braucht neben der Gabe der Phantasie, die ihn auf diese Gedanken
bringt, auch die Selbstzucht, die Selbstkritik, durch die den Gedanken
ihre Bedeutung, ihre Tragweite, ihr Zusammenhang angewiesen wird. Diese
Selbstzucht ist bei Nietzsche nicht in großem Maße vorhanden. Die Ideen
stürmen bei ihm darauf los, ohne durch Selbstkritik in Schranken
gewiesen zu werden. Zwischen der Produktivität und der Logik besteht bei
ihm kein Wechselverhältnis. Der Intuition steht nicht ein entsprechendes
Maß von kritischer Besonnenheit zur Seite.
So
berechtigt es ist, den psychopathischen Ursprung gewisser religiöser
Vorstellungen und Sekten aufzuweisen, so berechtigt ist es auch, die
Persönlichkeit eines Menschen auf einen solchen Ursprung hin zu prüfen,
der aus den in der Psychologie in Betracht kommenden Gesetzen nicht zu
erklären ist.
Anmerkung:
(1) Der
Autor dieses Aufsatzes glaubt sich berufen, Nietzsches Anschauungen von
diesem Standpunkte aus zu betrachten, denn er hat bereits vor längerer
Zeit ein Bild dieser Anschauungen in seiner Schrift "Friedrich
Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit" geliefert, das diesem Geiste
objektiv gerecht zu werden suchte, und in dem er sich von jedem
Seitenblick auf eine psycho-pathologische Erklärung fern hielt. Der
Verfasser will sich von seinen früher ausgesprochenen Überzeugungen
nicht etwa trennen, sondern nur das Problem von einer anderen Seite
erfassen.