Friedrich Nietzsches Persönlichkeit und die
Psycho-Pathologie
I.
«Wie die
psychischen Vorgänge den Gehirnerregungen parallel gehen, geht die
physiologische Psychologie der Hirnphysiologie parallel. Wo die letztere
ihr genügende Erkenntnis noch nicht bietet, wird die physiologische
Psychologie die psychischen Erscheinungen wohl provisorisch rein als
solche erforschen dürfen, jedoch immer geleitet von dem Gedanken, dass
auch für diese psychischen Erscheinungen wenigstens die
Möglichkeit eines Parallelismus zu zerebralen Vorgängen
nachgewiesen werden muss.» Auch wenn man diesen Satz Theodor
Ziehens (vgl. dessen «Leitfaden der physiologischen Psychologie», S.
2) nicht unbedingt unterschreibt, wird man doch zugeben müssen, dass er
sich für die Methode der Psychologie außerordentlich fruchtbar erwiesen
hat. Unter dem Einflusse der Anschauung, welche er ausdrückt, ist diese
Wissenschaft zu wirklich naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gelangt.
Aber man wird sich auch klar darüber sein müssen, welch bedeutungsvolles
Licht auf den Zusammenhang der psychischen Erscheinungen mit den
entsprechenden physiologischen Vorgängen gerade die Beobachtung
pathologischer Seelenerscheinungen wirft. Das
pathologische Experiment hat sowohl der Psychologie wie der
Physiologie die größten Dienste geleistet. Die abnormen Tatsachen des
Seelenlebens klären uns über die normalen auf. Besonders wichtig muss es
aber erscheinen, die abnormen Erscheinungen bis in die Gebiete hinein zu
verfolgen, in denen sich die Seelentätigkeit bis zu den höchsten
geistigen Leistungen steigert.
Eine
Persönlichkeit wie die Nietzsches bietet zu einer solchen Betrachtung
besondere Anhaltspunkte. Ein morbider Kern in seiner Persönlichkeit gab
ihm immer und immer wieder Veranlassung, auf die physiologische
Grundlage seiner Vorstellungen zurückzugehen. Er hat abwechselnd alle
Töne angeschlagen, von der poetischen Diktion bis zu den höchsten
Gipfeln der begrifflichen Abstraktion. Er spricht sich mit aller Schärfe
darüber aus, wie seine Vorstellungsweise mit seinen körperlichen
Zuständen zusammenhängt. «Im Jahre 1879 legte ich meine Basler Professur
nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den
nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in
Naumburg. Dies war mein Minimum. In meinem sechsunddreißigsten
Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität ich
lebte noch, doch ohne drei Schritte weit vor mich zu sehen. 9Der
Wanderer und sein Schatten: entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich
verstand mich damals auf Schatten ... Im Winter darauf, meinem ersten
Genueser Winter, brachte jene Versüßung und Vergeistigung, die mit einer
extremen Armut an Blut und Muskel beinahe bedingt ist, die 9Morgenröte:
hervor. Die vollkommene Helle und Heiterkeit, selbst Exuberanz des
Geistes, welche das genannte Werk widerspiegelt, verträgt sich bei mir
nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schwäche, sondern sogar mit
einem Exzess von Schmerzgefühl.» «Mitten in Martern, die ein
ununterbrochner dreitägiger Gehirn-Schmerz samt mühseligem
Schleim-Erbrechen mit sich bringt, besaß ich eine Dialektiker-Klarheit
par excellence und dachte Dinge sehr kaltblütig durch, zu denen ich
in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffiniert, nicht
kalt genug bin. Meine Leser wissen vielleicht, inwiefern ich
Dialektik als Dekadenz-Symptome betrachte, zum Beispiel im
allerberühmtesten Fall: im Fall des Sokrates.» (Vgl. M. G. Conrad:
«Ketzerblut», S. 186, und Elisabeth Förster-Nietzsche: «Das Leben
Friedrich Nietzsches» II, I, S.328.)
Nietzsche
betrachtet den Wechsel seiner Vorstellungsarten geradezu als das
Ergebnis der Veränderlichkeit in seinen körperlichen Zuständen. «Ein
Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer
wieder macht, ist auch durch ebenso viele Philosophien hindurchgegangen:
er kann eben nicht anders, als seinen Zustand jedesmal in die
geistigste Form und Ferne umzusetzen, diese Kunst der Transfiguration
ist eben Philosophie.» (Werke, Band V, S.8.) In seinen i888
niedergeschriebenen Lebenserinnerungen «Ecce homo» spricht Nietzsche
davon, wie er aus der Krankheit heraus den Antrieb erhalten hat, eine
optimistische Weltauffassung in sich auszubilden: «Denn man gebe acht
darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich
aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der
Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armut
und Entmutigung.» (Elisabeth Förster-Nietzsche, «Das Leben Friedrich
Nietzsches» II, I. S. 338f)
Das
Widerspruchsvollste in Nietzsches Ideenwelt erscheint von diesem
Gesichtspunkte aus begreiflich. In Gegensätzen bewegte sich seine
physische Natur. «Man hat nämlich, vorausgesetzt, dass man eine Person
ist, notwendig auch die Philosophie seiner Person: doch gibt es
da einen erheblichen Unterschied. Bei dem einen sind es seine Mängel,
welche philosophieren, bei dem andern seine Reichtümer und Kräfte.»
(Werke, Band V, S.5.) Bei Nietzsche selbst ist es abwechselnd einmal das
eine, einmal das andere. Solange er sich im Vollbesitz der Jugendkraft
befand, nahm er den «Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts als
Symptom einer höheren Kraft des Gedankens, einer siegreichen Fülle des
Lebens»; er nahm die tragische Erkenntnis, die er bei
Schopenhauer vorfand, als «den schönsten Luxus unserer Kultur, als deren
kostbarste, vornehmste, gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin
auf Grund ihres Überreichtums, als ihren erlaubten Luxus.» Einen
solch erlaubten Luxus konnte er in der tragischen Erkenntnis
nicht mehr sehen, als das Morbide in seinem Leben die Oberhand bekam.
Deswegen schafft er sich nunmehr eine Philosophie der höchstmöglichen
Lebensbejahung. Er brauchte nun eine Weltanschauung der «Selbstbejahung,
der Selbstverherrlichung», eine Herrenmoral; er brauchte die Philosophie
der «Ewigen Wiederkunft». «Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit
dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange nicht zu
einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: ich komme
ewig wieder zu diesem gleichen und seligen Leben, im größten und auch im
kleinsten.» -«Denn ein Göttertisch ist die Erde, und zitternd von
schöpferischen neuen Worten und Götterwürfen: 0, wie sollte ich nicht
nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der
Ringe, dem Ring der Wiederkunft?» («Zarathustra», III. T.) Die
unsicheren Angaben, die wir über Nietzsches Vorfahren besitzen, machen
ein befriedigendes Urteil darüber leider unmöglich, wie viel von
Nietzsches geistiger Eigentümlichkeit auf Vererbung
zurückzuführen ist. Mit Unrecht ist öfter darauf hingewiesen worden,
dass sein Vater an einer Gehirnkrankheit gestorben ist. Dieser hat sich
die Krankheit erst nach Nietzsches Geburt durch einen Unfall zugezogen.
Nicht unwichtig scheint aber doch zu sein, dass Nietzsche selbst auf ein
morbides Element bei seinem Vater hinweist. «Mein Vater starb mit
sechsunddreißig Jahren: er war zart, liebenswürdig und morbid, wie ein
nur zum Vorübergehen bestimmtes Wesen, eher eine gütige Erinnerung an
das Leben, als das Leben selbst.» -(M. G. Conrad, «Ketzerblut», S. 179.)
Wenn Nietzsche davon spricht, dass in ihm etwas Dekadentes neben etwas
Gesundem lebt, so denkt er offenbar selbst daran, das erstere von seinem
Vater, das letztere von seiner Mutter herzuleiten, die eine kerngesunde
Frau war.
In
Nietzsches Seelenleben finden sich eine Reihe von ans Pathologische
grenzenden Zügen, die an Heinrich Heine und an Leopardi
erinnern, die auch sonst viel ähnliches mit ihm haben. Heine wurde von
Jugend auf von düstersten Melancholien gequält, litt an traumartigen
Zuständen; und auch er wusste später aus der elendesten
Körperverfassung, aus zunehmendem Siechtum die Ideen zu schöpfen, die
denen Nietzsches nicht ferne stehen. Ja, man findet in Heine geradezu
einen Vorläufer Nietzsches in bezug auf die Gegenüberstellung von
apollinischer oder ruhig betrachtender Lebensauffassung (vgl. «Die
Philosophie Friedrich Nietzsches als psycho-pathologisches Problem»,
oben, S.127) und dionysisch-dithyrambischer Lebensbejahung. Und auch
Heines Geistesleben bleibt vom psychologischen Gesichtspunkte aus
unerklärlich, wenn man nicht den pathologischen Kern in seiner Natur
berücksichtigt, den er von seinem Vater ererbt hat, der eine
degenerative, wie ein Schatten durchs Leben schleichende Persönlichkeit
war.
Besonders
auffällig sind die Ähnlichkeiten in den physiologischen Charakteren
Leopardis und Nietzsches. Dieselbe Feinfühligkeit gegenüber Wetter und
Jahreszeit, Ort und Umgebung findet sich bei beiden. Leopardi fühlt die
geringsten Veränderungen in Thermometer- und Barometerstand. Er konnte
nur im Sommer produzieren; er zog umher, stets nach dem für sein
Schaffen geeignetsten Aufenthaltsort zu suchen. Nietzsche spricht sich
über solche Eigentümlichkeiten seiner Natur in folgender Weise aus:
«Jetzt, wo ich die Wirkungen klimatischen und meteorologischen Ursprungs
aus langer Übung an mir als an einem sehr feinen und zuverlässigen
Instrumente ablese und bei einer kurzen Reise schon, etwa von Turin nach
Mailand, den Wechsel in den Graden der Luftfeuchtigkeit physiologisch
bei mir nachrechne, denke ich mit Schrecken an die unheimliche
Tatsache, dass mein Leben bis auf die letzten zehn Jahre, die
lebensgefährlichen Jahre, immer sich nur in falschen und mir geradezu
verbotenen Orten abgespielt hat. Naumburg, Schulpforta, Thüringen
überhaupt, Leipzig, Base], Venedig ebenso viele Unglücks-Orte für
meine Physiologie ...» Mit dieser außergewöhnlichen Sensibilität hängt
bei Leopardi sowohl wie bei Nietzsche eine Missachtung aller
altruistischen Gefühle zusammen. Für beide gehört es zu den
Überwindungen, die Menschen zu ertragen. Aus Nietzsches eigenen Worten
kann man ersehen, dass ihm die Scheu vor starken Eindrücken vor Reisen,
die seiner Empfindlichkeit zu viel zumuten, das Misstrauen gegen die
selbstlosen Triebe einflößt. Er sagt: «Ich werfe den Mitleidigen vor,
dass ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl
vor Distanzen leicht abhanden kommt.» Auch für Leopardi war es gewiss,
dass ein erträglicher Mensch nur selten zu finden ist; er begegnete dem
Elend mit Ironie und Bitterkeit, wie Nietzsche es zu seinem Grundsatz
machte: «Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen: erster
Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.»
(Werke, Band VIII, S 218.) Nietzsche sagt vom Leben, es sei
«wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und
Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen,
Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung». («Jenseits von
Gut und Böse», § 259.) Ebenso ist das Leben für Leopardi ein
unaufhörlicher, furchtbarer Kampf, in dem die einen die andern
zertreten.
Wie sehr bei
beiden diese Gedanken in das Pathologische hinüberspielen, das geht aus
der vollständig irrationalen Art hervor, wie sie zu ihnen kommen. Nicht
durch logische Erwägungen, wie etwa der Nationalökonom Malthus und der
Philosoph Hobbes, oder durch sorgfältige Beobachtungen wie Darwin
werden sie zu dem Gedanken des Kampfes ums Dasein getrieben, sondern
durch die erwähnte, hochgesteigerte Sensibilität, welche die Ursache
ist, dass jeder äußere Reiz als feindlicher Eingriff mit einem heftigen
Abwehraffekt beantwortet wird. Man kann das bei Nietzsche ganz klar
nachweisen. Er findet den Gedanken des Kampfes ums Dasein bei Darwin. Er
lehnt ihn nicht ab; aber er deutet ihn so um, wie es seiner gesteigerten
Sensibilität entspricht: «Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf und in
der Tat, er kommt vor so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule
Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte:
nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen
Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die
Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, das macht, sie
sind die große Zahl, sie sind auch klüger ... Darwin hat den
Geist vergessen (- das ist englisch!), die Schwachen haben mehr
Geist ... Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes.» (Werke,
Band VIII. S.128.)
Ohne Zweifel
bedingen sich bis zu einem gewissen Grade die gesteigerte Sensibilität
und der Trieb, seine Beobachtungen vorzugsweise auf die eigene
Persönlichkeit zu lenken. Allseitig gesunde und harmonische Naturen wie
zum Beispiel Goethe finden sogar in der weitgehenden
Selbstbeobachtung etwas Bedenkliches. In vollem Gegensätze zu Nietzsches
Vorstellungsart steht Goethes Ansicht: «Nehmen wir das bedeutende Wort
vor: erkenne dich selbst, so müssen wir es nicht im asketischen
Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen
Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen damit gemeint;
sondern es heißt ganz einfach: gib einigermaßen acht auf dich selbst,
nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu
deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. Hierzu bedarf es keiner
psychologischen Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was
es heißen soll; es ist ein guter Rat, der einem jeden praktisch zum
größten Vorteil gereicht ... Wie kann man sich kennen lernen? Durch
Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu
tun, und du weißt gleich, was an dir ist.» Nun wissen wir, dass auch
Goethe eine feine Sensibilität besaß. Aber er besaß zugleich das
notwendige Gegengewicht: die Fähigkeit, die er selbst in bezug auf
andere am trefflichsten in einem Gespräche mit Eckermann am 20. Dezember
I 829 beschrieben hat: «Das Außerordentliche, was ausgezeichnete Talente
leisten, setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener
Empfindungen fähig sein... mögen. Nun ist eine solche Organisation im
Konflikt mit der Welt und den Elementen leicht gestört und verletzt, und
wer nicht, wie Voltaire, mit großer Sensibilität eine außerordentliche
Zähigkeit verbindet, ist leicht einer fortgesetzten Kränklichkeit
unterworfen.» Diese Zähigkeit fehlt Naturen wie Nietzsche und Leopardi.
Sie würden sich an ihre Eindrücke, an die auf sie ausgeübten Reize
völlig verlieren, wenn sie sich nicht künstlich gegen die Außenwelt
abschließen würden, ja sich ihr feindlich gegenüberstellten. Man
vergleiche mit der Überwindung, die Nietzsche im Umgang mit Menschen
brauchte, Goethes Wohlgefallen an diesem Umgang, das er mit den Worten
schildert: «Geselligkeit lag in meiner Natur; deswegen ich bei
vielfachem Unternehmen mir Mitarbeiter gewann und mich ihnen zum
Mitarbeiter bildete und so das Glück erreichte, mich in ihnen und sie in
mir fortleben zu sehen.»
II.
Eine im
Geistesleben Nietzsches höchst auffallende Erscheinung ist die stets bei
ihm latent vorhandene, zuweilen aber deutlich hervortretende
Verdoppelung des Selbstbewusstseins. Das «zwei Seelen wohnen,
ach! in meiner Brust» grenzt bei ihm ans Pathologische. Er kann den
Ausgleich zwischen den «zwei Seelen» nicht herbeiführen. Seine Polemiken
sind kaum anders als von diesem Gesichtspunkte aus zu verstehen. Er
trifft mit seinen Urteilen fast niemals wirklich den Gegner. Er legt
sich das, was er angreifen will, erst in der merkwürdigsten Art zurecht
und kämpft dann gegen ein Wahnbild, das der Wirklichkeit recht ferne
steht. Man begreift dies erst, wenn man erwägt, dass er im Grunde nie
gegen einen äußeren Feind, sondern gegen sich selbst kämpft. Und
er kämpft am heftigsten, wenn er zu einer anderen Zeit selbst auf dem
Standpunkt gestanden hat, den er als gegnerischen ansieht, oder wenn
dieser Standpunkt wenigstens eine bestimmende Rolle in seinem
Seelenleben spielt. Sein Feldzug gegen Wagner ist nur ein Feldzug
gegen sich selbst. Er hat sich in einer Zeit, in der er zwischen sich
widerstreitenden Ideenkreisen hin- und hergeworfen wurde, halb
unwillkürlich an Wagner angeschlossen. Er wurde mit ihm persönlich
befreundet. Wagner wuchs in seinen Augen ins Unermessliche. Er nennt ihn
seinen «Jupiter», bei dem er von Zeit zu Zeit aufatmet: «Ein
fruchtbares, reiches, erschütterndes Leben, ganz abweichend und unerhört
unter mittleren Sterblichen! Dafür steht er auch da, festgewurzelt durch
eigene Kraft, mit seinem Blick immer drüber hinweg über alles Ephemere,
und unzeitgemäß im schönsten Sinne.» (E. Förster-Nietzsche, «Das Leben
Friedrich Nietzsches», II, I, S. 16.) Nietzsche bildete nunmehr in sich
eine Philosophie aus, von der er sich sagen konnte, dass sie sich
vollständig mit Wagners Kunstrichtung und Lebensauffassung deckt. Er
identifiziert sich vollständig mit Wagner. Er betrachtet ihn als den
ersten großen Erneuerer der tragischen Kultur, die einst im alten
Griechenland einen bedeutsamen Anfang erlebt hat, die aber durch die
klügelnde Verstandesweisheit Sokrates' und durch die Einseitigkeit
Platos zurückgedrängt worden sein soll und nur noch einmal im Zeitalter
der Renaissance eine Wiederbelebung von kurzer Dauer erfahren hatte. Was
er als Wagners Mission erkannt zu haben glaubt, macht Nietzsche zum
Inhalt seines eigenen Wirkens. Nun kann man aber in seinen
«Nachgelassenen Schriften» sehen, wie er unter dem Einfluss Wagners sein
zweites Ich vollkommen zurückdrängt. Innerhalb dieser Schriften finden
sich Ausführungen aus der Zeit vor und wahrend seiner
Wagner-Begeisterung, die in der ganz entgegengesetzten Richtung des
Empfindens und Denkens sich bewegen. Dennoch formt er sich von Wagner
ein Idealbild, das nicht in Wirklichkeit, sondern nur in seiner
Phantasie lebt. Und in diesem Idealbild geht sein Ich vollständig auf.
Später treten in diesem Ich die Vorstellungskreise auf, die den
Gegensatz zur Wagnerschen Anschauungsweise bilden. Er wird nun im wahren
Sinne des Wortes der heftigste Gegner seiner eigenen Gedankenwelt. Denn
er bekämpft nicht den Wagner der Wirklichkeit; er bekämpft das Bild, das
er sich früher von Wagner gemacht hat. Seine Leidenschaftlichkeit, seine
Ungerechtigkeit ist nur verständlich, wenn man sieht, wie er deshalb so
heftig wird, weil er etwas bekämpft, das ihn selbst seiner Meinung nach
ruiniert hat, das ihn von seinem eigentlichen Wege abgebracht hat. Hätte
er wie ein anderer Zeitgenosse Wagners diesem objektiv bestimmten Zeit
ausgebildet hat. Er sagt: «Wagner den Rücken zu kehren, war für mich ein
Schicksal; irgend etwas nachher wieder gern zu haben, ein Sieg. Niemand
war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerei verwachsen, niemand hat
sich härter gegen sie gewehrt, niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu
sein. Eine lange Geschichte! Will man ein Wort dafür? Wenn ich
Moralist wäre, wer weiß, wie ich's nennen würde! Vielleicht
Selbstüberwindung. Was verlangt ein Philosoph am ersten und
letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, «zeitlos» zu werden.
Womit also hat er seinen härtesten Strauß zu bestehn? Mit dem, worin
gerade er das Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner
das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff,
nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich
dagegen.» (Werke, Band VIII, 5. ,.) gegenübergestanden, so wäre er
vielleicht auch später dessen Gegner geworden. Aber er wäre der ganzen
Angelegenheit ruhiger, kühler abwägend gegenüber gestanden. Es kommt ihm
auch zum Bewusstsein, dass er nicht von Wagner loskommen will, sondern
nur von seinem eigenen «Ich», wie es sich in einer
Noch klarer
spricht er in folgenden Worten aus, wie er die Zweiteilung seines Ich
und den unvermittelten Gegensatz der Gedankenwelten in seinem
Bewusstsein empfand: «Wer seine Zeit angreift, kann nur sich
angreifen: was kann er denn sehen, wenn nicht sich? So kann man im
andern auch nur sich verherrlichen. Selbstvernichtung,
Selbstvergötterung, Selbstverachtung das ist unser Richten, Lieben,
Hassen.» (Werke, Band XI, S.92.)
Im Herbst
1888 kann sich Nietzsche mit dem Inhalt seiner Schrift «Richard Wagner
in Bayreuth» gar nicht mehr anders abfinden, als dass er sich
zurechtlegt: er habe gar nicht Wagner gemeint, sondern sich selbst. «Ein
Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass, was ich in jungen Jahren bei
Wagnerischer Musik gehört habe, nichts überhaupt mit Wagner zu tun hat;
dass, wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was
ich gehört hatte, dass ich instinktiv alles in den neuen Geist
übersetzen und transfigurieren musste, den ich in mir trug. Der Beweis
dafür, so stark als nur ein Beweis sein kann, ist meine Schrift
9Wagner in Bayreuth:: an allen psychologisch entscheidenden
Stellen ist nur von mir die Rede, man darf rücksichtslos meinen
Namen oder das Wort 9Zarathustra: hinstellen, wo der Text das Wort
Wagner gibt. Das ganze Bild des dithyrambischen Künstlers ist das
Bild des präexistenten Dichters des 9Zarathustra:, mit abgründlicher
Tiefe hingezeichnet und ohne einen Augenblick die Wagnersche Realität
auch nur zu berühren. Wagner selbst hatte einen Begriff davon; er
erkannte sich in der Schrift nicht wieder.» (E. Förster-Nietzsche, «Das
Leben Friedrich Nietzsches», II, 1, S.259.)
Nietzsche
kämpft fast immer, wo er kämpft, gegen sich selbst. Als er in der ersten
Zeit seines schriftstellerischen Wirkens heftig gegen die Philologie zu
Felde zog: da war es der Philologe in ihm, den er bekämpfte, dieser
ausgezeichnete Philologe, der vor der Ablegung des Doktorexamens bereits
zum Universitätsprofessor ernannt worden war. Als er, von 1876 ab, mit
seinem Kampf gegen die Ideale begann, da hatte er seinen eigenen
Idealismus im Auge. Und als er am Ende seiner Schriftstellerlaufbahn
seinen beispiellos heftigen «Antichrist» schrieb, da war es wieder
nichts anderes als das heimliche Christliche in ihm selber, wodurch er
herausgefordert wurde. Er hatte keinen besonderen Kampf in sich selbst
führen müssen, um vom Christentum loszukommen. Aber er ist auch nur mit
der Vernunft, mit der einen Seite seines Wesens losgekommen; mit seinem
Herzen, mit seiner Gefühlswelt, in seiner praktischen Lebensführung
blieb er den christlichen Vorstellungen treu. Er trat als
leidenschaftlichster Gegner einer Seite seines eigenen Wesens auf. «Man
muss das Verhängnis aus der Nähe gesehen haben, noch besser, man muss es
an sich erlebt, man muss an ihm fast zugrunde gegangen sein, um hier
keinen Spaß mehr zu verstehen, die Freigeisterei unserer Herren
Naturforscher und Physiologen ist in meinen Augen ein Spaß- ihnen
fehlt die Leidenschaft in diesen Dingen, das Leiden an ihnen.»
Wie Nietzsche den Zwiespalt in seinem Innern fühlte, und wie er sich
ohnmächtig wusste, die verschiedenen Mächte seines Innern in einer
Einheit des Bewusstseins auszugleichen, das zeigt der Schluss eines
Gedichtes aus dem Sommer 1888, also aus der Zeit kurz vor der
Katastrophe:
«Jetzt
zwischen
zwei Nichtse
eingekrümmt,
ein
Fragezeichen,
ein müdes
Rätsel
ein Rätsel
für Raubvogel...
- sie werden
dich schon 9lösen:,
sie hungern
schon nach deiner 9Lösung:,
sie flattern
schon um dich, ihr Rätsel,
um dich,
Gehenkter! ...
Oh
Zarathustra!
Selbstkenner!
Selbsthenker.»
(Werke, Band
VIII, S. 369)
Diese
Unsicherheit über sich selbst drückt sich bei Nietzsche auch darin aus,
dass er am Ende seiner Laufbahn geradezu seine ganze Entwicklung
umdeutet. Seine Weltanschauung hat eine ihrer Quellen im griechischen
Altertume. Man kann überall in seinen Schriften nachweisen, einen wie
großen Einfluss die Griechen auf ihn gehabt haben. Er wird nicht müde,
die Höhe der griechischen Kultur fortwährend zu betonen. 1875 schreibt
er: «Die Griechen als das einzig geniale Volk der Weltgeschichte; auch
als Lernende sind sie dies, sie verstehn dies am besten und wissen nicht
bloß zu schmücken und zu putzen mit dem Entlehnten: wie es die Römer
tun. Das Genie macht alle Halbbegabten tributpflichtig: so schickten
Perser selbst ihre Gesandtschaften an die griechischen Orakel. Wie
stechen die Römer durch ihren trocknen Ernst gegen die genialen Griechen
ab!» (Werke, Band X, 5.352.) Und welch schöne Worte fand er 1873 für die
ersten griechischen Philosophen: «Jedes Volk wird beschämt, wenn man auf
eine so wunderbar idealisierte Philosophengesellschaft hinweist, wie die
der altgriechischen Meister Thales, Anaximander, Heraklit, Parmenides,
Anaxagoras, Empedokles, Demokrit und Sokrates. Alle jene Männer sind
ganz aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem
Charakter herrscht strenge Notwendigkeit ... So bilden sie zusammen das,
was Schopenhauer im Gegensatz zu der Gelehrten-Republik eine
Genialen-Republik genannt hat: ein Riese ruft dem anderen durch die öden
Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch mutwilliges, lärmendes
Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe
Geistergespräch fort... Gleich das erste Erlebnis der Philosophie auf
griechischem Boden, die Sanktion der sieben Weisen, ist eine deutliche
und unvergessliche Linie am Bilde des Hellenischen. Andere Völker haben
Heilige, die Griechen haben Weise ... Das Urteil jener Philosophen über
das Leben und das Dasein überhaupt besagt so sehr viel mehr als ein
modernes Urteil, weil sie das Leben in einer üppigen Vollendung vor sich
hatten, und weil bei ihnen nicht wie bei uns das Gefühl des Denkers sich
verwirrt in dem Zwiespalt des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Größe
des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur frägt: was ist das
Leben überhaupt wert?» (Werke, Band X, 5. 7ff..) Immer stand Nietzsche
dieser griechische Weise als ein Ideal vor Augen; er suchte ihm mit der
einen Seite seines Wesens gleichzukommen; mit der andern aber
verleugnet er ihn. In der «Götzen-Dämmerung» (1888) (Werke, Band
VIII, S.167) lesen wir nach der Schilderung dessen, was er den Römern
verdanken will: «Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt
starken Eindrücke; und, um es geradezu herauszusagen, sie können
uns nicht sein, was die Römer sind. Man lernt nicht von den
Griechen ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um
imperativisch, um 9klassisch: zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen
schreiben gelernt! Wer hätte es je ohne die Römer gelernt! ...
Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und
Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Not, nicht eine
9Natur: gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da. Und mit
Festen und Künsten wollte man auch nichts anderes, als sich
obenauf fühlen, sich obenauf zeigen: es sind Mittel, sich
selber zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen...
Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurteilen, etwa
die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber
benützen, was im Grunde hellenisch sei.... Die Philosophen sind
ja die décadents des Griechentums ...»
Man wird
über manche Ausführungen Nietzsches erst volle Klarheit gewinnen, wenn
man die Tatsache, dass seine philosophischen Gedanken auf
Selbstbeobachtung beruhen, zusammenhält mit der andern, dass dieses
Selbst kein in sich harmonisches, sondern ein in sich zersplittertes
war. Diese Zersplitterung brachte er auch in seine Welterklärung. Im
Hinblicke auf sich konnte er sagen: «Müssen wir es uns nicht
eingestehn, wir Künstler, dass es eine unheimliche Verschiedenheit in
uns gibt, dass unser Geschmack und andrerseits unsre schöpferische Kraft
auf eine wunderliche Weise für sich stehn, für sich stehn bleiben und
ein Wachstum für sich haben, ich will sagen, ganz verschiedene Grade
und Tempi von alt, jung, reif, mürbe, faul? So dass zum Beispiel ein
Musiker zeitlebens Dinge schaffen könnte, die dem, was sein verwöhntes
Zuhörer-Ohr, Zuhörer-Herz schätzt, schmeckt, vorzieht,
widersprechen: er brauchte noch nicht einmal um diesen
Widerspruch zu wissen!» (Werke, Band V, S.323.) Dies ist eine Erklärung
der Künstlernatur nach Nietzsches eigener Wesenheit gebildet. Ein
ähnliches begegnet uns bei ihm in allen seinen Schriften.
Es ist kein
Zweifel, dass man in manchen Fällen zu weit geht, wenn man Erscheinungen
des Seelenlebens mit pathologischen Begriffen in Zusammenhang bringt;
bei einer Persönlichkeit wie Nietzsche zeigt sich, dass die
Weltanschauung nur durch einen solchen Zusammenhang volle Erklärung
findet. So nützlich es in mancher Beziehung sein mag, an dem Satz
Diltheys («Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn», Leipzig
1886) festzuhalten: «Das Genie ist keine pathologische
Erscheinung, sondern der gesunde, der vollkommene Mensch», so
verfehlt wäre es, sich jede solche Betrachtung, wie sie hier über
Nietzsche geliefert worden ist, durch ein derartiges Dogma
abzuschneiden.