Die
Persönlichkeit Friedrich Nietzsches Eine Gedächtnisrede
Seltsam,
innerhalb der Schwärmerei für Nietzsche in unseren Tagen, muss jemand
erscheinen, der mit seinen Gefühlen nicht weniger als viele andere zu
der eigenartigen Persönlichkeit hingezogen wird und der sich dennoch den
tiefen Widerspruch unablässig vor Augen halten muss, welcher besteht
zwischen der Art dieses Geistes und den Ideen und Empfindungen derer,
die sich wie Bekenner seiner Weltanschauung gebärden. Ein solch abseits
Stehender muss vor allen Dingen des Gegensatzes gedenken in dem
Verhältnis der Zeitgenossen zu Nietzsche vor einem Jahrzehnt, als die
Nacht des Wahnsinns über den «Kämpfer gegen seine Zeit» hereinbrach, und
demjenigen, das bestand, als ihn am 25. August 1900 der Tod von uns
nahm. Scheint doch das völlige Gegenteil bei dem eingetreten zu sein,
was Nietzsche über seine Wirkung bei den Zeitgenossen in den letzten
Tagen seines Schaffens vorausgesagt hat. Der erste Teil des Buches,
durch das er die Werte von Jahrtausenden umzuprägen gedachte, sein
«Antichrist», lag bei seiner Erkrankung fertig vor. Er hebt mit den
Worten an: «Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch
keiner von ihnen. Es mögen die sein, welche meinen Zarathustra verstehn:
wie durfte ich mich mit denen verwechseln, für welche heute schon
Ohren wachsen? Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum
geboren.» Es war, als ob bei seinem Tode das «Übermorgen» schon da
gewesen wäre. Man muss in dieses scheinbare «Übermorgen» die
Zarathustra-Worte hineinrufen: «Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra?
Aber was liegt an Zarathustra? Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt
an allen Gläubigen! - Nun heiße ich euch, mich verlieren und
euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will
ich euch wiederkehren.» Ob Nietzsche, wenn er heute in frischem Schaffen
noch lebte, mit größerem Wohlgefallen auf diejenigen blicken würde, die
ihn zweifelnd verehren, oder auf andere wer dürfte wagen, das
zu entscheiden. Aber erlaubt muss es sein, gerade heute über die Köpfe
seiner gegenwärtigen Verehrer hinweg auf die Zeit zu blicken, in der er
sich einsam und unverstanden fühlte inmitten des ihn umgebenden
Geisteslebens und in der einige lebten, die es als eine Blasphemie
empfunden hätten, sich seine «Gläubigen» zu nennen, weil er ihnen als
ein Geist erschienen ist, dem man nicht aufdringlich mit einem «Ja» oder
«Nein» begegnet, sondern wie ein Erdbeben im Reiche des Geistes, das
aufrüttelt zu Fragen, für welche vorzeitige Antworten nur unreifen
Früchten gleichen könnten. Viel erschütternder, als die Nachricht von
seinem Tode jetzt, trafen vor etwas mehr als zehn Jahren die «Ohren»,
die den damaligen Nietzsche-Verehrern «gewachsen» waren, zwei
Nachrichten, die sich in nicht allzu großer zeitlicher Entfernung
folgten. Die eine betraf einen Zyklus von Vorlesungen, den Georg
Brandes über die Weltanschauung Nietzsches an der Universität in
Kopenhagen im Jahre j88 8 gehalten hat. Nietzsche empfand diese
Anerkennung als eine solche, wie sie von den «Einigen» ausgehen musste,
die «posthum geboren» werden. Er empfand sich aus seiner Einsamkeit in
einer Art gerissen, die seinem Geiste entsprach. Er wollte nicht
gewertet: er wollte «beschrieben», charakterisiert sein. Und bald
auf diese Nachricht folgte die andere, dass der also seiner Einsamkeit
entrissene Geist dem furchtbaren Schicksal geistiger Umnachtung
verfallen sei.
Und während
er selbst nicht mehr mitwirken konnte, hatten die Zeitgenossen Muße, die
Umrisse seines Bildes zu schärfen. Durch die Betrachtung seiner
Persönlichkeit konnte sich ihnen das Zeitbild immer mehr ausprägen, von
dem sein Geist wie eine Böcklinsche Gestalt sich abhebt. Es durften die
Ideenwelten in seiner Seele beleuchtet werden mit dem Lichte, das die
Geistes-Sterne von der zweiten Jahrhundert-Hälfte auf sie warfen. Da
trat mit völliger Klarheit hervor, worinnen er eigentlich groß ist. Es
trat aber auch hervor, warum er so einsam wandeln musste. Seine
Wesensanlage führte ihn über Höhen des Geisteslebens. Er schritt dahin
wie einer, den nur das Wesentliche der Menschheitsentwicklung
etwas angeht. Aber dieses Wesentliche berührte ihn so, wie andere
Menschen nur die intimsten Angelegenheiten ihrer Seele. Wie auf den
Gemütern anderer nur ganz persönliche Erlebnisse lasten, so unmittelbar,
so einschneidend zogen durch seine Seele die großen Kulturfragen, die
gewaltigen Erkenntnis-Bedürfnisse seines Zeitalters. Was viele seiner
Zeitgenossen mit dem Kopfe allein durchlebten, das wurde ihm eine
persönliche Herzenssache.
Die
griechische Kultur, die Weltanschauung Schopenhauers, das Musikdrama
Wagners, die Erkenntnisse der neueren Naturwissenschaften lösten bei ihm
Gefühle aus, so persönlich, so tief wie bei anderen die Erlebnisse einer
starken Liebesleidenschaft. Was das ganze Zeitalter an Hoffnungen und
Zweifeln, an Versuchungen und Erkenntnisfreuden durchlebte, das
durchlebte Nietzsche in einsamer Höhe auf seine besondere Art. Er fand
keine neuen Ideen: aber er litt und freute sich an den Ideen seiner Zeit
in einer Weise, die unterschieden war von der seiner Zeitgenossen. Ihnen
war es auferlegt, die Ideen zu gebären: vor ihm erstand die schwere
Frage: wie lässt sich mit diesen Ideen leben?
Sein
Bildungsgang hatte Nietzsche zum Philologen gemacht. Er hatte sich in
die große Welt der griechischen Geisteskultur so vertieft, dass sein
Lehrer Ritschl ihn der Universität Basel, die den jungen
Gelehrten berief, bevor er Doktor geworden war, mit den Worten empfehlen
durfte: Friedrich Nietzsche kann alles, was er will. Er leistete wohl
im Sinne der Anforderungen, die man an Philologen stellt, das
Vorzüglichste. Aber sein Verhältnis zur griechischen Kultur war nicht
nur das eines Philologen. Er lebte nicht bloß mit dem Geiste im alten
Hellas; er ging mit seinem Herzen völlig in griechischem Denken und
Fühlen auf Die griechischen Kulturträger blieben nicht die Gegenstände
seines Studiums; sie wurden seine persönlichen Freunde. In der ersten
Zeit seiner Basler Lehrtätigkeit arbeitete er eine Schrift über die
Philosophen des tragischen Zeitalters vor Sokrates aus. Sie ist aus
seinem Nachlasse veröffentlicht worden. Er schreibt nicht wie ein
Gelehrter über Thales, Heraklit und Parmenides; er unterredet sich mit
diesen Gestalten der Vorzeit wie mit Persönlichkeiten, denen sein Herz
intim zugetan ist. Die Leidenschaft, die er für sie empfindet, lässt ihn
zum Fremdling werden in der abendländischen Kultur, die, nach seiner
Empfindung, seit Sokrates andere Wege eingeschlagen hat als in jenen
alten Zeiten. Sokrates wird Nietzsches Feind, weil er die große
tragische Grundstimmung seiner Vorgänger abgestumpft hat. Der lehrhafte
Geist des Sokrates strebte nach dem Begreifen der Wirklichkeit. Er
wollte die Versöhnung mit dem Leben durch die Tugend. Nichts aber kann,
im Sinne Nietzsches, den Menschen mehr herabziehen als die Hinnahme des
Lebens, wie es ist. Das Leben kann nicht mit sich selbst versöhnen. Der
Mensch kann dies Leben nur ertragen, wenn er über dasselbe
hinausschafft. Das haben die Griechen vor Sokrates begriffen.
Ihre Grundstimmung glaubte Nietzsche ausgedrückt zu finden in den
Worten, die nach der Sage der weise Silen, der Begleiter des Dionysus,
auf die Frage zur Antwort gab, was für die Menschen das Beste sei.
«Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was
zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das
Ersprießlichste ist? Das allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar:
nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das
zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben.» Einen Trost gegenüber
dem Leben suchte die alte griechische Kunst und Weisheit. Nicht
dieser Lebensgemeinschaft wollten die Dionysusdiener angehören,
sondern einer höheren. Das drückte sich für Nietzsche in ihrem Kultus
aus. «Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer
höheren Gemeinsamkeit: Er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist
auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.» Zwei Wege hat der
Mensch, die ihn über das Dasein hinwegführen: er kann in seliger
Verzauberung, wie in einem Rauschzustand, das Dasein vergessen, und
«singend und tanzend» sich mit der Allseele eins fühlen; oder er kann an
einem Idealbild der Wirklichkeit, wie an einem Traum, der leicht über
das Dasein hinweghuscht, seine Befriedigung suchen. Als dionysischen und
apollinischen Stimmungszustand charakterisiert Nietzsche diese beiden
Wege. Die neuere Kultur hat aber, seit Sokrates, die Versöhnung mit dem
Dasein gesucht, und dadurch den Menschenwert erniedrigt. Kein Wunder,
dass Nietzsche sich mit solchen Gefühlen einsam in dieser neueren Kultur
fühlte.
Zwei
Persönlichkeiten schienen ihn aus dieser Einsamkeit zu reißen.
Schopenhauers Anschauung von dem Unwert des Daseins und
Richard Wagner begegneten ihm auf seinem Lebenswege. Wie er sich
zu beiden stellte, beleuchtet hell das Wesen seines Geistes. Zu
Schopenhauer empfand er eine Hingebung, wie sie inniger nicht zu denken
ist. Und doch blieb ihm dessen Lehre fast bedeutungslos. Der
Frankfurter Weise hat unzählige Anhänger gehabt, die gläubig hinnahmen,
was er gesagt hat. Nietzsche gehörte unter diese Gläubigen wohl nie. In
derselben Zeit, in der er seinen Hymnus «Schopenhauer als Erzieher» in
die Welt hinaussandte, schrieb er sich insgeheim seine schweren Bedenken
gegen des Philosophen Ansichten auf. Nicht wie zu einem Lehrer blickte
er zu ihm auf; er liebte ihn wie einen Vater. Er empfand das Heroische
seiner Gedanken auch da, wo er ihnen nicht zustimmte. Sein Verhältnis zu
Schopenhauer war zu intim, um den äußeren Glauben an ihn, das Bekenntnis
zu ihm nötig zu haben. Er liebte seinen «Erzieher» so, dass er
die eigenen Gedanken ihm beilegte, um sie bei einem anderen verehren zu
können. Er wollte nicht in Gedanken mit einer Persönlichkeit
übereinstimmen; er wollte in Freundschaft mit einem andern leben.
Dieser Wille zog ihn auch zu Richard Wagner. Was waren doch alle
die Gestalten des vorsokratischen Griechentums, mit denen er hatte in
Freundschaft leben wollen? Es waren doch nur Schatten aus einer fernen
Vergangenheit. Und Nietzsche strebte nach Leben, nach der unmittelbaren
Freundschaft tragischer Menschen. Tot und abstrakt blieb ihm die
griechische Kultur bei allem Leben, das ihr seine Phantasie einzuhauchen
versuchte. Eine Sehnsucht blieben ihm die griechischen
Geistesheroen, eine Erfüllung war ihm Richard Wagner, der ihm in
seiner Persönlichkeit, in seiner Kunst, in seiner Weltanschauung die
alte Griechenwelt wieder zu erwecken schien. Nietzsche verlebte die
herrlichsten Tage, wenn er von Basel aus das Wagnersche Ehepaar auf
dessen Triebschener Landgut aufsuchen durfte. Was der Philologe im
Geiste gesucht hatte, griechische Luft zum Atmen, hier glaubte er sie in
Wirklichkeit zu finden. Er konnte ein persönliches Verhältnis
finden zu einer Welt, die er vordem in der Vorstellung gesucht hatte. Er
konnte intim erleben, was er sich sonst nur in Gedanken hätte
vorzaubern können. Wie seine Heimat empfand er das Triebschener Idyll.
Wie bezeichnend sind die Worte, mit denen er dieses sein Empfinden in
bezug auf Wagner umschreibt: «Ein fruchtbares, reiches, erschütterndes
Leben, ganz abweichend und unerhört unter mittleren Sterblichen! Dafür
steht er auch da, festgewurzelt durch eigne Kraft, mit seinem Blick
drüber hinweg über alles Ephemere, und unzeitgemäß im schönsten
Sinne.»
In Richard
Wagners Persönlichkeit glaubte Nietzsche die höheren Welten zu haben,
die ihm das Leben so erträglich machen konnten, wie er sich das im Sinne
der alten griechischen Weltanschauung dachte. Hat er aber damit nicht
gerade in seinem Sinne den größten Irrtum begangen? Er hatte ja
im Leben gesucht, was seinen Voraussetzungen nach das Leben nie
bieten konnte. Über das Leben wollte er hinaus; und er stürzte
sich mit aller Kraft in das Leben, das Wagner lebte. Es ist deshalb
begreiflich, dass sein größtes Erlebnis zugleich seine bitterste
Enttäuschung werden musste. Um in Wagner finden zu können, was er
suchte, musste er sich die wirkliche Persönlichkeit Wagners erst zum
Idealbild vergrößern. Was Wagner nie hat sein können, das hat Nietzsche
aus ihm gemacht. Er hat nicht den wirklichen Wagner gesehen und verehrt,
er hat sein die Wirklichkeit weit überragendes Bild verehrt. Als dann
Wagner erreicht hatte, was er erstrebte, als er an seinem Ziele
angekommen war: da empfand Nietzsche die Disharmonie zwischen
seinem und dem wirklichen Wagner. Und er fiel von Wagner ab.
Psychologisch richtig deutet aber nur der diesen Abfall, der sagt:
Nietzsche ist nicht von dem wirklichen Wagner abgefallen, denn er war ja
niemals dessen Anhänger; er wurde sich nur klar über seine Täuschung.
Was er in Wagner gesucht hatte, das konnte er in ihm nimmermehr finden;
das hatte mit Wagner nichts zu tun, das musste als eine höhere Welt von
aller Wirklichkeit losgelöst werden. Nietzsche hat dann später die
Notwendigkeit seines scheinbaren Abfalles von Wagner selbst
gekennzeichnet. Er spricht aus, dass, was er «in jungen Jahren bei
Wagnerscher Musik gehört habe, nichts überhaupt mit Wagner zu tun» habe.
«Dass wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was
ich gehört hatte, dass ich instinktiv alles in den neuen Geist
übersetzen und transfigurieren musste, den ich in mir trug. Der Beweis
dafür, so stark als nur ein Beweis sein kann, ist meine Schrift 9Wagner
in Bayreuth:: an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von
mir die Rede, man darf rücksichtslos meinen Namen, oder das Wort
9Zarathustra: hinstellen, wo der Text das Wort Wagner gibt. Das ganze
Bild des dithyrambischen Künstlers ist das Bild des präexistenten
Dichters des 9Zarathustra: mit abgründlicher Tiefe hingezeichnet, und
ohne einen Augenblick die Wagnersche Realität auch nur zu
berühren. Wagner selbst hatte einen Begriff davon; er erkannte sich
in der Schrift nicht wieder.»
Im
«Zarathustra» zeichnete Nietzsche die Welt, die er bei Wagner vergebens
gesucht hatte, losgelöst von aller Wirklichkeit. In ein anderes
Verhältnis setzte er sein «Zarathustra-Ideal» zur Wirklichkeit als seine
früheren Ideale. Er hatte ja mit der unmittelbaren Abkehr von dem Dasein
schlechte Erfahrungen gemacht. Dass er diesem Dasein doch unrecht getan
haben müsse und dass es sich deshalb so bitter an ihm gerächt habe,
diese Vorstellung gewann in ihm immer mehr die Oberhand. Die
Enttäuschung, die ihm sein Idealismus bereitet hatte, trieb ihn
in eine feindliche Stimmung gegenüber allem Idealismus hinein. Seine
Werke in der Zeit nach seinem Abfall von Wagner werden zu Anklagen gegen
die Ideale. «Ein Irrtum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt,
das Ideal wird nicht widerlegt es erfriert.» So spricht er sich
1888 über das Ziel seines 1878 erschienenen Werkes «Menschliches,
Allzumenschliches» aus. Nietzsche sucht zunächst Zuflucht bei der
Wirklichkeit. Er vertieft sich in die neuere Naturwissenschaft, um durch
sie eine echte Führerin in die Wirklichkeit zu gewinnen. Alle
jenseitigen Welten, die den Menschen von dieser wurde sie
Herzensangelegenheit. Die anderen führten den Geisteskampf gegen alte
Vorurteile. Nietzsche fragte sich: Wie er mit der neuen
Idee leben könne. Sein Kampf spielte sich ganz in seiner Seele
ab. Er brauchte die Weiterentwicklung zum Übermenschen, um den Menschen
zu ertragen. So hatte sein sensitives Gemüt auf einsamer Höhe für sich
die Naturerkenntnisse zu überwinden, die er in sich aufgenommen hatte.
In seiner letzten Schaffensepoche sucht Nietzsche aus der Wirklichkeit
selbst zu gewinnen, was er früher in der Illusion, in einem idealen
Gebiet zu erreichen glaubte. Das Leben erhält eine Aufgabe, die fest in
dem Leben wurzelt und doch über dieses Leben hinausführt. Man kann in
dem unmittelbaren Dasein, im wirklichen Leben nicht stehen bleiben; auch
nicht in dem von der Naturwissenschaft durchleuchteten. Auch an diesem
Leben muss gelitten sein. Das blieb Nietzsches Meinung. Auch der
«Übermensch» ist ein Mittel, das Dasein zu ertragen. Das alles
weist darauf hin, dass Nietzsche zum «Leiden am Dasein» geboren war. In
dem Aufsuchen nach Trostgründen bestand sein Wirklichkeit
abführen, werden ihm nunmehr zu verabscheuungswürdigen Hinterwelten,
erzeugt aus der Phantastik schwacher Menschen, die nicht Kraft genug
haben, ihre Befriedigung aus dem unmittelbaren frischen Dasein zu holen.
Die Naturwissenschaft hat den Menschen an das Ende einer rein
natürlichen Entwicklung gestellt. Alles, was unter ihm ist, hat dadurch,
dass es den Menschen aus sich erzeugte, einen höheren Sinn bekommen. Der
Mensch soll nun nicht diesen seinen Sinn verleugnen und sich zum Abbild
eines Jenseitigen machen wollen. Er soll begreifen, dass er nicht der
Sinn einer überirdischen Macht, sondern der «Sinn der Erde» ist. Was er
über das erstreben will, was da ist, soll er nicht in Feindschaft gegen
das Daseiende erstreben. In der Wirklichkeit selbst sucht Nietzsche auch
die Keime zu dem Höheren, das die Wirklichkeit erträglich machen soll.
Nicht einem göttlichen Wesen nachstreben soll der Mensch; aus seiner
Wirklichkeit heraus soll er sich eine höhere Daseinsweise gebären. Diese
Wirklichkeit selbst trägt über sich hinaus; das Menschentum vermag zum
Übermenschentum zu werden. Entwicklung ist immer gewesen. Entwicklung
soll auch der Mensch treiben. Die Gesetze der Entwicklung sind größer,
umfassender als alles, was sich schon entwickelt hat. Man muss nicht
allein hinschauen auf das, was da ist; man muss auf die Urkräfte
zurückgehen, welche das Wirkliche erzeugt haben. Eine alte
Weltanschauung hat geforscht, wie «Gut und Böse» in die Welt gekommen
sind. Sie glaubte, hinter das Dasein zurückgehen zu müssen, um «im
Ewigen» die Gründe für «Gut und Böse» zu entdecken. Aber mit dem
«Ewigen», mit dem «Jenseitigen» musste Nietzsche auch die «ewige»
Geltung von «Gut und Böse» von sich weisen. Der Mensch ist durch
Natürliches geworden; und mit ihm sind «Gut und Böse» geworden.
Menschenschöpfung ist «Gut und Böse». Und tiefer als das Geschaffene ist
der Schöpfer. Der «Mensch» steht «jenseits von Gut und Böse». Er hat das
eine zum Guten, das andere zum Bösen gemacht. Er darf sich nicht fesseln
lassen durch sein bisheriges «Gut und Böse». Er kann den Weg der
Entwicklung weiter schreiten, den er bisher gegangen ist. Er ist aus dem
Wurm zum Menschen geworden; er kann vom Menschen zum Übermenschen
werden. Er kann ein neues Gutes und Böses schaffen. Er darf die
gegenwärtigen Werte «umwerten». Aus der Arbeit an seiner «Umwertung
aller Werte» ist Nietzsche durch die geistige Umnachtung gerissen
worden. Entwicklung des Wurmes zum Menschen war die Vorstellung, die er
aus der neueren Naturwissenschaft gewonnen hat. Er wurde nicht selbst
zum Forscher; er hat die Idee der Entwicklung von anderen übernommen.
Ihnen war sie Vernunftangelegenheit. Ihm Genie. Der Kampf um
Weltanschauungen hat oft Märtyrer erzeugt. Nietzsche hat keine neuen
Weltanschauungsideen hervorgebracht. Man wird immer mehr erkennen, dass
sein Genie nicht in der Produktion neuer Gedanken liegt. Er hat aber an
den Gedanken seiner Umwelt tief gelitten. Er hat für diese Leiden die
hinreißenden Töne seines «Zarathustra» gefunden. Er wurde zum
Dichter der neuen Weltanschauung; die Hymnen auf den
«Übermenschen» sind die persönliche, die dichterische Antwort auf
die Fragen und Erkenntnisse der neueren Naturwissenschaft. Alles, was
das neunzehnte Jahrhundert an Ideen hervorgebracht hat, wäre auch ohne
Nietzsche da. Er wird der Zukunft nicht ein origineller Philosoph, nicht
ein Religionsstifter oder Prophet sein; er wird ihr ein Märtyrer der
Erkenntnis sein, der in der Dichtung Worte fand, um zu sagen, was er
litt.