Vorrede
zur neuen Ausgabe
Die
in dieser Schrift versuchte Schilderung der Goetheschen
Weltanschauung habe ich im Jahre 1897 unternommen als
zusammenfassende Darstellung dessen, was mit die Betrachtung
des Goethe'schen Geisteslebens im Laufe vieler Jahre gegeben
hatte. Wie ich damals mein Ziel empfunden habe, davon gibt die
«Vorrede zur ersten Auflage» ein Bild. Diese Vorrede
würde ich, schriebe ich sie heute, keineswegs dem Inhalte,
sondern nur dem Stile nach anders verfassen. Da aber kein mir
ersichtlicher Grund vorliegt, ein Wesentliches an diesem Buche
sonst zu ändern, so erschiene es mir als eine
Unaufrichtigkeit, von den Empfindungen, mit denen ich vor
zwanzig Jahren das Buch in die Welt sandte, heute in einer
anderen Tonart zu reden. Weder hat, was ich seit seiner
Veröffentlichung in der Literatur über Goethe habe
verfolgen können, noch was an Ergebnissen die neueste
Naturforschung erbracht hat, meine in dem Buche ausgesprochenen
Gedanken geändert. Ich glaube nicht ohne Verständnis
zu sein für die großen Fortschritte dieser Forschung
in den letzten zwanzig Jahren. Daß durch sie ein Grund
gegeben ist, über Goethes Weltanschauung gegenwärtig
anders zu sprechen, als ich es 1897 getan habe, glaube ich
nicht. Was ich über das Verhältnis der Goetheschen
Weltanschauung zu dem damaligen Stand der allgemein anerkannten
Natur-Ideen gesagt habe, scheint mir auch zu gelten mit Bezug
auf die Naturwissenschaft unserer Tage. Die Haltung meines
Buches wäre keine andere, wenn ich es in der Gegenwart
erst geschrieben hätte. Nur mir wichtig erscheinende
Erweiterungen und Ergänzungen an manchen Stellen
unterscheiden die neue Ausgabe von der alten.
Daß mich auch zu keiner wesentlichen Änderung des
Inhalts drängen kann, was ich seit sechzehn Jahren
über Geisteswissenschaft veröffentlicht habe,
darüber habe ich mich in dem dieser Neuausgabe
angefügten «Nachwort» ausgesprochen.
Rudolf Steiner
Vorrede zur 1. Ausgabe
Die
Gedanken, die ich in diesem Buche ausspreche, sollen die
Grundlage festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes
beobachtet habe. Im Lauf vieler Jahre habe ich immer wieder und
wieder das Bild dieser Weltanschauung betrachtet. Besonderen
Reiz hatte es für mich, nach den Offenbarungen zu sehen,
welche die Natur über ihr Wesen und ihre Gesetze den
feinen Sinnes- und Geistesorganen Goethes gemacht hat. Ich
lernte begreifen, warum Goethe diese Offenbarungen als so hohes
Glück empfand, daß er sie zuweilen höher
schätzte als seine Dichtungsgabe. Ich lebte mich in die
Empfindungen ein, die durch Goethes Seele zogen, wenn er sagte,
daß «wir durch nichts so sehr veranlaßt werden
über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst
bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene
charakteristische Naturszenen, nach langen Zwischenräumen
endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit
der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir
denn im ganzen bemerken, daß das Objekt immer mehr
hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den
Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und
Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei
gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebührende Recht
widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre
Eigenschaften sofern wir sie durchdringen, in einem höhern
Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens
gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich
dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht
ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß,
indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser
sich in Aug' und Geist desto kräftiger entwickelte.»
Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der
Natur empfangen hat, muß man kennen, wenn man den vollen
Gehalt seiner Dichtungen verstehen will. Die Geheimnisse, die
er dem Wesen und Werden der Schöpfung abgelauscht hat,
leben in seinen künstlerischen Erzeugnissen und werden nur
demjenigen offenbar, der hinhorcht auf die Mitteilungen, die
der Dichter über die Natur macht. Der kann nicht in die
Tiefen der Goetheschen Kunst hinuntertauchen, dem Goethes
Naturbeobachtungen unbekannt sind.
Solche Empfindungen drängten mich zu der
Beschäftigung mit Goethes Naturstudien. Sie ließen
zunächst die Ideen reifen, die ich vor mehr als zehn
Jahren in Kürschners «Deutscher
Nationallitteratur» mitteilte. Was ich damals in dem
ersten anfing, habe ich ausgebaut in den drei folgenden
Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, von
denen der letzte in diesen Tagen vor die Öffentlichkeit
tritt. Dieselben Empfindungen leiteten mich, als ich vor
mehreren Jahren die schöne Aufgabe übernahm, einen
Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die
große Weimarische Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an
Gedanken zu dieser Arbeit mitgebracht und was ich während
derselben ersonnen habe, bildet den Inhalt des vorliegenden
Buches. Ich darf diesen Inhalt als erlebt im vollsten
Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspunkten aus
habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen
Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise
schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht
dieser einzigen Persönlichkeit die eigene
Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene,
selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr
glaubte ich Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu
finden, das auch die Räume in Goethes Seele durchleuchtet,
die ihm selbst dunkel geblieben sind. Zwischen den Zeilen
seiner Werke wollte ich lesen, was mir ihn ganz
verständlich machen sollte. Die Kräfte seines
Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst
bewußt wurde, suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen
Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen.
Unsere Zeit liebt es, die Ideen da, wo von psychologischer
Betrachtung einer Persönlichkeit die Rede ist, in einem
mystischen Halbdunkel zu lassen. Die gedankliche Klarheit in
solchen Dingen wird gegenwärtig als nüchterne
Verstandesweisheit verachtet. Man glaubt tiefer zu dringen,
wenn man von einseitig mystischen Abgründen des
Seelenlebens, von dämonischen Gewalten innerhalb der
Persönlichkeit spricht. Ich muß gestehen, daß
mir diese Schwärmerei für verfehlte mystische
Psychologie als Oberflächlichkeit erscheint. Sie ist bei
Menschen vorhanden, in denen der Inhalt der Ideenwelt keine
Empfindungen erzeugt. Sie können in die Tiefen dieses
Inhaltes nicht hinabsteigen, sie fühlen die Wärme
nicht, die von ihm ausströmt. Deshalb suchen sie diese
Wärme in der Unklarheit. Wer imstande ist, sich einzuleben
in die hellen Sphären der reinen Gedankenwelt, der
empfindet in ihnen das, was er sonst nirgends empfinden kann.
Persönlichkeiten wie die Goethes kann man nur erkennen,
wenn man die Ideen, von denen sie beherrscht sind, in ihrer
lichten Klarheit in sich aufzunehmen vermag. Wer eine falsche
Mystik in der Psychologie liebt, wird vielleicht meine
Betrachtungsweise kalt finden. Ob es aber meine Schuld ist,
daß ich das Dunkle und Unbestimmte nicht mit dem
Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten kann? So rein und
klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in Goethe als
wirksame Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie
darzustellen. Vielleicht findet auch mancher die Linien, die
ich gezogen habe, die Farben, die ich aufgetragen habe, zu
einfach. Ich meine aber, daß man das Große am besten
charakterisiert, wenn man es in seiner monumentalen Einfachheit
darzustellen versucht. Die kleinen Schnörkel und
Anhängsel verwirren nur die Betrachtung. Nicht auf
nebensächliche Gedanken, zu denen er durch dieses oder
jenes Erlebnis von untergeordneter Bedeutung veranlaßt
worden ist, kommt es mir bei Goethe an, sondern auf die
Grundrichtung seines Geistes. Mag dieser Geist auch da und dort
Seitenwege ein schlagen: eine Haupttendenz ist immer zu
erkennen. Und sie habe ich zu verfolgen gesucht. Wer da meint,
daß die Regionen, durch die ich gegangen bin, eisig sind,
von dem meine ich, er habe sein Herz zu Hause
gelassen.
Will man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejenigen
Seiten der Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich
mein eigenes Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts
erwidern, als daß ich eine fremde Persönlichkeit nur
so ansehen will, wie sie mir nach meiner eigenen Wesenheit
erscheinen muß. Die Objektivität derjenigen
Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie fremde
Ideen schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie
kann nur matte und farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt
jeder wahren Darstellung einer fremden Weltanschauung zu
Grunde. Und der völlig besiegte wird nicht der beste
Darsteller sein. Die fremde Macht muß Achtung erzwingen;
aber die eigenen Waffen müssen ihren Dienst tun. Ich habe
deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach meiner
Ansicht die Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es
Erkenntnisgebiete gibt, die ihr verschlossen geblieben sind.
Ich habe gezeigt, welche Richtung die Beobachtung der
Welterscheinungen nehmen muß, wenn sie in die Gebiete
dringen will, die Goethe nicht betreten hat, oder auf denen er,
wenn er sich in sie begeben hat, unsicher herumgeirrt ist. So
interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen
zu folgen; ich möchte jedem nur so weit folgen, als er
mich selbst fördert. Denn nicht die Betrachtung, die
Erkenntnis, sondern das Leben, die eigene Tätigkeit ist
das Wertvolle. Der reine Historiker ist ein schwacher, ein
unkräftiger Mensch. Die historische Erkenntnis raubt die
Energie und Spannkraft des eigenen Wirkens. Wer alles verstehen
will, wird selbst wenig sein. Was fruchtbar ist, allein ist
wahr, hat Goethe gesagt. Soweit Goethe für unsere Zeit
fruchtbar ist, soweit soll man sich in seine Gedanken- und
Empfindungswelt einleben. Und ich glaube, aus der folgenden
Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch
ungehobene Schätze in dieser Gedanken- und Empfindungswelt
verborgen liegen. Ich habe auf die Stellen hingedeutet, an
denen die moderne Wissenschaft hinter Goethe
zurückgeblieben ist. Ich habe von der Armut der
gegenwärtigen Ideenwelt gesprochen und ihr den Reichtum
und die Fülle der Goetheschen entgegengehalten. In Goethes
Denken sind Keime, welche die moderne Naturwissenschaft zur
Reife bringen sollte. Für sie könnte dieses Denken
vorbildlich sein. Sie hat einen größeren
Beobachtungsstoff als Goethe. Aber sie hat diesen Stoff nur mit
spärlichem und unzureichendem Ideengehalt durchsetzt. Ich
hoffe, daß aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie
wenig Eignung die moderne naturwissenschaftliche Denkweise dazu
besitzt, Goethe zu kritisieren, und wie viel sie von ihm lernen
könnte.
Rudolf Steiner
Einleitung
Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich
nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in
einzelnen Aussprüchen über sie sagt. In
kristallklaren, scharf geprägten Sätzen den Kern
seines Wesens auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Solche
Sätze schienen ihm die Wirklichkeit eher zu verzerren als
richtig abzubilden. Er hatte eine gewisse Scheu davor, das
Lebendige, die Wirklichkeit in einem durchsichtigen Gedanken
festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehung zur
Außenwelt, seine Beobachtungen über die Dinge und
Ereignisse waren zu reich, zu erfüllt von zarten
Bestandteilen, von intimen Elementen, um von ihm selbst in
einfache Formeln gebracht zu werden. Er spricht sich aus, wenn
ihn dieses oder jenes Erlebnis dazu drängt. Aber er sagt
immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte Anteilnahme an allem,
was an ihn herankommt, bestimmt ihn oft, schärfere
Ausdrücke zu gebrauchen, als es seine Gesamtnatur
verlangt. Sie verführt ihn ebenso oft, sich unbestimmt zu
äußern, wo ihn sein Wesen zu einer bestimmten Meinung
nötigen könnte. Er ist immer ängstlich, wenn es
sich darum handelt, zwischen zwei Ansichten zu entscheiden. Er
will sich die Unbefangenheit nicht dadurch rauben, daß er
seinen Gedanken eine scharfe Richtung gibt. Er beruhigt sich
bei dem Gedanken: «Der Mensch ist nicht geboren, die
Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das
Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen
zu halten. »Ein Problem, das der Mensch gelöst zu
haben glaubt, entzieht ihm die Möglichkeit, tausend Dinge
klar zu sehen, die in den Bereich dieses Problems fallen. Er
achtet auf sie nicht mehr, weil er über das Gebiet
aufgeklärt zu sein glaubt, in das sie fallen. Goethe
möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache haben,
die einander entgegengesetzt sind, als eine bestimmte.
Denn jedes Ding scheint ihm eine Unendlichkeit
einzuschließen, der man sich von verschiedenen Seiten
nähern muß, um von ihrer ganzen Fülle etwas
wahrzunehmen. «Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten
Meinungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das
Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige
Leben, in Ruhe gedacht.» Goethe will seine Gedanken
lebendig erhalten, damit er in jedem Augenblicke sie umwandeln
könne, wenn die Wirklichkeit ihn dazu veranlaßt. Er
will nicht recht haben; er will stets nur aufs «Rechte
losgehen». In zwei verschiedenen Zeitpunkten spricht er
sich über dieselbe Sache verschieden aus. Eine feste
Theorie, die ein für allemal die Gesetzmäßigkeit
einer Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck bringen will, ist
ihm bedenklich, weil eine solche der Erkenntniskraft das
unbefangene Verhältnis zur beweglichen Wirklichkeit
raubt.
Wenn man dennoch die Einheit seiner Anschauungen
überschauen will, so muß man weniger auf seine Worte
hören, als auf seine Lebensführung sehen. Man
muß sein Verhältnis zu den Dingen belauschen, wenn er
ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was er
selbst nicht sagt. Man muß auf das Innerste seiner
Persönlichkeit eingehen, das sich zum größten
Teile hinter seinen Äußerungen verbirgt. Was er sagt,
mag sich oft widersprechen; was er lebt, gehört immer
einem sich selber tragenden Ganzen an. Hat er seine
Weltanschauung auch nicht in einem geschlossenen System
aufgezeichnet; er hat sie in einer geschlossenen
Persönlichkeit dargelebt. Wenn wir auf sein Leben sehen,
so lösen sich alle Widersprüche in seinem Reden. Sie
sind in seinem Denken über die Welt nur in dem Sinne
vorhanden wie in der Welt selbst. Er hat über die Natur
dies und jenes gesagt. In einem festgefügten
Gedankengebäude hat er seine Naturanschauung niemals
niedergelegt. Aber wenn wir seine einzelnen Gedanken auf diesem
Gebiete überblicken, so schließen sie sich von selbst
zu einem Ganzen zusammen. Man kann sich eine Vorstellung davon
machen, welches Gedankengebäude entstanden wäre, wenn
er seine Ansichten im Zusammenhang vollständig dargestellt
hätte. Ich habe mir vorgesetzt, in dieser Schrift zu
schildern, wie Goethes Persönlichkeit in ihrem innersten
Wesen geartet gewesen sein muß, um über die
Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu
können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen
Arbeiten niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich
sagen werde, Goethesche Sätze entgegengehalten werden
können, die ihm widersprechen, weiß ich. Es handelt
sich mir aber in dieser Schrift nicht darum, eine
Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu geben, sondern
darum, die Grundlagen seiner Persönlichkeit darzustellen,
die ihn zu seinen tiefen Einsichten in das Schaffen und Wirken
der Natur führten. Nicht aus den zahlreichen Sätzen,
in denen er an andere Denkweisen sich anlehnt, um dadurch
verständlich zu werden; oder in denen er sich der Formeln
bedient, welche der eine oder der andere Philosoph gebraucht
hat, lassen sich diese Grundlagen erkennen. Aus den
Äußerungen zu Eckermann könnte man sich einen
Goethe konstruieren, der nie die Metamorphose der Pflanzen
hätte schreiben können. An Zelter hatte Goethe
manches Wort gerichtet, das verführen könnte, auf
eine wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen
großen Gedanken über die Bildung der Tiere
widerspricht. Ich gebe zu, daß in Goethes
Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich
nicht berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten
zurück hinter den eigentlich bestimmenden, die seiner
Weltanschauung das Gepräge geben. Diese bestimmenden
Kräfte so scharf zu charakterisieren, als mir möglich
ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt. Man wird beim Lesen
dieses Buches deshalb beachten müssen, daß ich
nirgends die Absicht gehabt habe, etwa Bestandteile einer
eigenen Weltanschauung durch die Darstellung der Goetheschen
Vorstellungsart hindurchschimmern zu lassen. Ich glaube,
daß man bei einem Buche dieser Art kein Recht hat, die
eigene Weltanschauung inhaltlich zu vertreten, sondern
daß man die Pflicht hat, dasjenige, was einem die eigene
Weltanschauung gibt, zum Verstehen der geschilderten zu
verwenden. Ich habe z. B. Goethes Verhältnis zur
abendländischen Gedankenentwickelung so schildern wollen,
wie sich dieses Verhältnis vom Gesichtspunkte der
Goetheschen Weltanschauung aus darstellt. Für die
Betrachtung der Weltanschauungen einzelner
Persönlichkeiten scheint mir diese Art einzig die
historische Objektivität zu verbürgen. Eine andere
Art hat erst einzutreten, wenn eine solche Weltanschauung im
Zusammenhange mit anderen betrachtet wird.
Goethes Stellung innerhalb der
abendländischen Gedankenentwicklung
Goethe und Schiller
Goethe erzählt von einem Gespräch, das sich einstmals
zwischen ihm und Schillern entspann, nachdem beide einer
Sitzung der naturforschenden Gesellschaft in Jena beigewohnt
hatten. Schiller zeigte sich wenig befriedigt von dem, was in
der Sitzung vorgebracht worden war. Eine zerstückelte Art,
die Natur zu betrachten, war ihm entgegen getreten. Und er
bemerkte, daß eine solche den Laien keineswegs anmuten
könne. Goethe erwiderte, daß sie den Eingeweihten
selbst vielleicht unheimlich bliebe, und daß es noch eine
andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und
vereinzelt, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in
die Teile strebend darzustellen. Und nun entwickelte Goethe die
großen Ideen, die ihm über die Pflanzennatur
aufgegangen waren. Er zeichnete «mit manchen
charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze»
vor Schillers Augen. Diese symbolische Pflanze sollte die
Wesenheit ausdrücken, die in jeder einzelnen Pflanze lebt,
was für besondere Formen eine solche auch annimmt. Sie
sollte das sukzessive Werden der einzelnen Pflanzenteile, ihr
Hervorgehen auseinander und ihre Verwandtschaft untereinander
zeigen. Über diese symbolische Pflanzengestalt schrieb
Goethe am 17. April 1787 in Palermo die Worte nieder «Eine
solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst
erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei,
wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet
wären.» Die Vorstellung einer plastisch-ideellen
Form, die dem Geiste sich offenbart, wenn er die
Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten überschaut und ihr
Gemeinsames beachtet, hatte Goethe in sich ausgebildet.
Schiller betrachtete dieses Gebilde, das nicht in einer
einzelnen, sondern in allen Pflanzen leben sollte, und sagte
kopfschüttelnd: «Das ist keine Erfahrung, das ist
eine Idee.» Wie aus einer fremden Welt kommend, erschienen
Goethe diese Worte. Er war sich bewußt, daß er zu
seiner symbolischen Gestalt durch dieselbe Art naiver
Wahrnehmung gelangt war wie zu der Vorstellung eines Dinges,
das man mit Augen sehen und mit Händen greifen kann. Wie
die einzelne Pflanze, so war für ihn die symbolische oder
Urpflanze ein objektives Wesen. Nicht einer willkürlichen
Spekulation, sondern unbefangener Beobachtung glaubte er sie zu
verdanken. Er konnte nichts entgegnen als: «Das kann mir
sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und
sie sogar mit Augen sehe.» Und er war ganz
unglücklich, als Schiller daran die Worte knüpfte:
«Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben werden, die einer
Idee angemessen sein sollte. Denn darin besteht das
Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine
Erfahrung kongruieren könne.»
Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in diesem
Gespräche einander gegenüber. Goethe sieht in der
Idee eines Dinges ein Element, das in demselben unmittelbar
gegenwärtig ist, in ihm wirkt und schafft. Ein einzelnes
Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte Formen aus dem
Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle in einer
besonderen Weise ausleben muß. Es hat für Goethe
keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspreche der Idee nicht. Denn
das Ding kann nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee
gemacht hat. Anders denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und
Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Der Erfahrung
gehören die mannigfaltigen Dinge und Ereignisse an, die
den Raum und die Zeit erfüllen. Ihr steht das Reich der
Ideen gegenüber, als eine anders geartete Wirklichkeit,
dessen sich die Vernunft bemächtigt. Weil von zwei Seiten
dem Menschen seine Erkenntnisse zufließen, von außen
durch Beobachtung und von innen durch das Denken, unterscheidet
Schiller zwei Quellen der Erkenntnis. Für Goethe gibt es
nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in
welcher die Ideenwelt eingeschossen ist. Für ihn ist es
unmöglich, zu sagen: Erfahrung und Idee, weil ihm
die Idee durch die geistige Erfahrung so vor dem geistigen Auge
liegt, wie die sinnliche Welt vor dem physischen.
Schillers Anschauung ist hervorgegangen aus der Philosophie
seiner Zeit. Die grundlegenden Vorstellungen, welche dieser
Philosophie das Gepräge gegeben haben, und welche
treibende Kräfte der ganzen abendländischen
Geistesbildung geworden sind, muß man im griechischen
Altertume suchen. Man kann von der besonderen Wesenheit der
Goetheschen Weltanschauung ein Bild gewinnen, wenn man sie ganz
aus sich selbst heraus, gewissermaßen mit Ideen, die man
bloß aus ihr entlehnt, zu kennzeichnen versucht. Das soll
in den späteren Teilen dieser Schrift angestrebt werden.
Einer solchen Kennzeichnung kann aber zu Hilfe kommen ein
vorangehendes Betrachten der Tatsache, daß sich Goethe
über gewisse Dinge in der einen oder andern Art
ausgesprochen hat, weil er sich in Überein Stimmung oder
in Gegensatz fühlte mit dem, was andere über ein
Gebiet des Natur- und Geisteslebens dachten. Mancher Ausspruch
Goethes wird nur verständlich, wenn man die
Vorstellungsarten betrachtet, denen er sich gegenüber
gestellt fand, und mit denen er sich auseinandersetzte, um
einen eigenen Gesichtspunkt zu gewinnen. Wie er über dies
oder jenes dachte und empfand, gibt zugleich eine
Aufklärung über das Wesen seiner eigenen
Weltanschauung. Man muß, wenn man über dieses Gebiet
Goetheschen Wesens sprechen will, manches zum Ausdruck bringen,
was bei ihm nur unbewußte Empfindung geblieben ist. In dem
hier angeführten Gespräch mit Schiller stand vor
Goethes geistigem Auge eine der seinigen gegensätzliche
Weltanschauung. Und diese Gegensätzlichkeit zeigt, wie er
empfand über diejenige Vorstellungsart, die, von einer
Seite des Griechentums herkommend, einen Abgrund sieht zwischen
der sinnlichen und der geistigen Erfahrung und wie er, ohne
solchen Abgrund, die Erfahrung der Sinne und die Erfahrung des
Geistes sich zusammenschließen sah in einem Weltbild, das
ihm die Wirklichkeit vermittelte. Will man bewußt als
Gedanken in sich beleben, was Goethe mehr oder weniger
unbewußt als Anschauung über die Gestalt der
abendländischen Weltanschauungen in sich trug, so werden
diese Gedanken die folgenden sein. In einem
verhängnisvollen Augenblicke bemächtigte sich eines
griechischen Denkers ein Mißtrauen in die menschlichen
Sinnesorgane. Er fing an zu glauben, daß diese Organe dem
Menschen nicht die Wahrheit überliefern, sondern daß
sie ihn täuschen. Er verlor das Vertrauen zu dem, was die
naive, unbefangene Beobachtung darbietet. Er fand, daß das
Denken über die wahre Wesenheit der Dinge andere Aussagen
mache als die Erfahrung. Es wird schwer sein zu sagen, in
welchem Kopfe sich dieses Mißtrauen zuerst festsetzte. Man
begegnet ihm in der eleatischen Philosophenschule, deren erster
Vertreter der um 570 v.Chr. zu Kolophon geborene Xenophanes
ist. Als die wichtigste Persönlichkeit dieser Schule
erscheint Parmenides. Denn er hat mit einer Schärfe wie
niemand vor ihm behauptet, es gäbe zwei Quellen der
menschlichen Erkenntnis. Er hat erklärt, daß die
Eindrücke der Sinne Trug und Täuschung seien, und
daß der Mensch zu der Erkenntnis des Wahren nur durch das
reine Denken, das auf die Erfahrung keine Rücksicht nimmt,
gelangen könne. Durch die Art, wie diese Auffassung
über das Denken und die Sinnes-Erfahrung bei Parmenides
auftritt, war vielen folgenden Philosophien eine
Entwicklungskrankheit eingeimpft, an der die wissenschaftliche
Bildung noch heute leidet. Welchen Ursprung diese
Vorstellungsart in orientalischen Anschauungen hat, dies zu
besprechen, ist innerhalb des Zusammenhanges der Goetheschen
Weltanschauung nicht der Ort.
Die platonische Weltanschauung
Mit
der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato
dieses Mißtrauen in die Erfahrung aus: Die Dinge dieser
Welt, welche unsere Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres
Sein: sie werden immer, sind aber nie. Sie haben nur ein
relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr
Verhältnis zueinander; man kann daher ihr ganzes Dasein
ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie sind folglich auch
nicht Objekte einer eigentlichen Erkenntnis. Denn nur von dem,
was an und für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann
es eine solche geben; sie hingegen sind nur das Objekt eines
durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. So lange
wir nur auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir
Menschen, die in einer finsteren Höhle so fest gebunden
saßen, daß sie auch den Kopf nicht drehen
könnten und nichts sehen, als beim Lichte eines hinter
ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen gegenüber die
Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen
und dem Feuer vorübergeführt würden, und auch
sogar von einander, ja jeder von sich selbst, eben nur die
Schatten an jener Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die ans
Erfahrung erlernte Reihenfolge jener Schatten
vorherzusagen.
In
zwei Teile reißt die platonische Anschauung die
Vorstellung des Weltganzen auseinander, in die Vorstellung
einer Scheinwelt und in eine andere der Ideenwelt, der allein
wahre, ewige Wirklichkeit entsprechen soll. «Was allein
wahrhaft seiend genannt werden kann, weil es immer ist, aber
nie wird, noch vergeht: das sind die idealen Urbilder jener
Schattenbilder, es sind die ewigen Ideen, die Urformen aller
Dinge. Ihnen kommt keine Vielheit zu; denn jedes ist seinem
Wesen nach nur eines, indem es das Urbild selbst ist,
dessen Nachbilder oder Schatten alle ihm gleichnamige,
einzelne, vergängliche Dinge derselben Art sind. Ihnen
kommt auch kein Entstehen und Vergehen zu; denn sie sind
wahrhaft seiend, nie aber werdend, noch untergehend wie ihre
hinschwindenden Nachbilder. Von ihnen allein daher gibt es eine
eigentliche Erkenntnis, da das Objekt einer solchen nur das
sein kann, was immer und in jedem Betracht ist, nicht das, was
ist, aber auch wieder nicht ist, je nachdem man es
ansieht.»
Die
Unterscheidung von Idee und Wahrnehmung hat nur eine
Berechtigung, wenn von der Art gesprochen wird, wie die
menschliche Erkenntnis zustande kommt. Der Mensch muß die
Dinge auf zweifache Art zu sich sprechen lassen. Einen Teil
ihrer Wesenheit sagen sie ihm freiwillig. Er braucht nur
hinzuhorchen. Dies ist der ideenfreie Teil der Wirklichkeit.
Den andern aber muß er ihnen entlocken. Er muß sein
Denken in Bewegung setzen, dann erfüllt sich sein Inneres
mit den Ideen der Dinge. Im Innern der Persönlichkeit ist
der Schauplatz, auf dem auch die Dinge ihr ideelles Innere
enthüllen. Da sprechen sie aus, was der äußeren
Anschauung ewig verborgen bleibt. Das Wesen der Natur kommt
hier zu Worte. Aber es liegt nur an der menschlichen
Organisation, daß durch den Zusammenklang von zwei
Tönen die Dinge erkannt werden müssen. In der Natur
ist ein Erreger da, der beide Töne hervorbringt.
Der unbefangene Mensch horcht auf den Zusammenklang. Er erkennt
in der ideellen Sprache seines Innern die Aussagen, die ihm die
Dinge zukommen lassen. Nur wer die Unbefangenheit verloren hat,
der deutet die Sache anders. Er glaubt, die Sprache seines
Inneren komme aus einem andern Reich als die Sprache der
äußeren Anschauung. Plato ist es zum Bewußtsein
gekommen, welches Gewicht für die menschliche
Weltanschauung die Tatsache hat, daß die Welt sich dem
Menschen von zwei Seiten her offenbart. Aus der einsichtsvollen
Wertung dieser Tatsache erkannte er, daß der Sinneswelt,
allein für sich betrachtet, nicht Wirklichkeit
zugesprochen werden darf. Erst wenn aus dem Seelenleben heraus
die Ideenwelt aufleuchtet und im Anschauen der Welt der Mensch
Idee und Sinnesbeobachtung als einheitliches Erkenntniserlebnis
vor seinen Geist stellen kann, hat er wahre Wirklichkeit vor
sich. Was die Sinnesbeobachtung vor sich hat, ohne daß es
von dem Lichte der Ideen durchstrahlt wird, ist eine
Scheinwelt. So betrachtet fällt von Platos Einsicht aus
auch Licht auf die Ansicht des Parmenides von dem Trugcharakter
der Sinnendinge. Und man kann sagen, die Philosophie Platos ist
eines der erhabensten Gedankengebäude, die je aus dem
Geiste der Menschheit entsprungen sind. Platonismus ist die
Überzeugung, daß das Ziel alles Erkenntnisstrebens
die Aneignung der die Welt tragenden und deren Grund bildenden
Ideen sein müsse. Wer diese Überzeugung in
sich nicht erwecken kann, der versteht die platonische
Weltanschauung nicht. - Insofern aber der Platonismus in die
abendländische Gedankenentwickelung eingegriffen hat,
zeigt er noch eine andere Seite. Plato ist nicht dabei stehen
geblieben, die Erkenntnis zu betonen, daß im
menschlichen Anschauen die Sinneswelt zu einem Schein
wird, wenn das Licht der Ideenwelt nicht auf sie geworfen wird,
sondern er hat durch seine Darstellung dieser Tatsache der
Meinung Vorschub geleistet, als ob die Sinneswelt für
sich, abgesehen von dem Menschen, eine Scheinwelt sei und nur
in den Ideen wahre Wirklichkeit zu finden. Aus dieser Meinung
heraus entsteht die Frage: wie kommen Idee und Sinnenwelt
(Natur) außerhalb des Menschen zu einander? Wer
außerhalb des Menschen keine ideenlose Sinneswelt
anerkennen kann, für den ist die Frage nach dem
Verhältnis von Idee und Sinneswelt eine solche, die
innerhalb der menschlichen Wesenheit gesucht und gelöst
werden muß. Und so steht die Sache vor der Goetheschen
Weltanschauung. Für diese ist die Frage: «welches
Verhältnis besteht außerhalb des Menschen
zwischen Idee und Sinneswelt?» eine ungesunde, weil es
für sie keine Sinneswelt (Natur) ohne Idee
außerhalb des Menschen gibt. Nur der Mensch kann
für sich die Idee von der Sinneswelt lösen und so die
Natur ideenlos vorstellen. Deshalb kann man sagen:
für die Goethesche Weltanschauung ist die Frage: «wie
kommen Idee und Sinnendinge zu einander?» welche die
abendländische Gedankenentwickelung durch Jahrhunderte
beschäftigt hat, eine vollkommen überflüssige
Frage. Und der Niederschlag dieser durch die
abendländische Gedankenentwickelung laufenden
Strömung des Platonismus, der Goethe z. B. in dem
angeführten Gespräche mit Schiller, aber auch in
anderen Fällen entgegentrat, wirkte auf seine Empfindung
wie ein ungesundes Element des menschlichen Vorstellens. Was er
nicht deutlich mit Worten aussprach, was aber in seiner
Empfindung lebte und ein mitgestaltender Impuls seiner eigenen
Weltanschauung wurde, das ist die Ansicht: was das gesunde
menschliche Empfinden in jedem Augenblicke lehrt: wie die
Sprache der Anschauung und des Denkens sich verbinden, um die
volle Wirklichkeit zu offenbaren, das wurde von den
grübelnden Denkern nicht beachtet. Statt hinzusehen, wie
die Natur zu dem Menschen spricht, bildeten sie künstliche
Begriffe über das Verhältnis von Ideenwelt und
Erfahrung aus. Um vollends zu überschauen, welch tiefe
Bedeutung diese von Goethe als ungesund empfundene Denkrichtung
in den Weltanschauungen hatte, die ihm entgegentraten und an
denen er sich orientieren wollte, muß man bedenken, wie
die angedeutete Strömung des Platonismus, welche die
Sinnenwelt in Schein verflüchtigt, und die Ideenwelt
dadurch in ein schiefes Verhältnis zu ihr bringt, durch
eine einseitige philosophische Erfassung der christlichen
Wahrheit im Laufe der abendländischen Gedankenentwicklung
eine Verstärkung erfahren hat. Weil Goethe die christliche
Anschauung, mit der von ihm als ungesund empfundenen
Strömung des Platonismus verbunden, entgegentrat, konnte
er nur unter Schwierigkeiten sein Verhältnis zu dem
Christentum ausbilden. Goethe hat das Fortwirken der von ihm
abgelehnten Strömung des Platonismus in der christlichen
Gedankenentwicklung nicht im einzelnen verfolgt, aber er hat
den Niederschlag dieses Fortwirkens in den Denkungsarten
empfunden, die ihm entgegentraten. Daher wirft auf die
Gestaltung seiner Vorstellungsart Licht eine
Betrachtung, welche das Zustandekommen dieses Niederschlages in
den Gedankenrichtungen verfolgt, welche sich durch die
Jahrhunderte vor dem Auftreten Goethes ausgebildet haben. Die
christliche Gedankenentwicklung war in vielen ihrer Vertreter
bestrebt, sich auseinanderzusetzen mit dem Jenseitsglauben und
mit dem Werte, den das Sinnesdasein hat gegenüber der
geistigen Welt. Gab man sich der Anschauung hin, daß das
Verhältnis der Sinneswelt zur Ideenwelt eine von dem
Menschen abgesonderte Bedeutung hat, so kam man mit der daraus
entstehenden Frage in die Anschauung der göttlichen
Weltordnung hinein. Und Kirchenväter, an welche diese
Frage herantrat, mußten sich Gedanken darüber machen,
welche Rolle die platonische Ideenwelt innerhalb dieser
göttlichen Weltordnung spielt. Damit stand man vor der
Gefahr, dasjenige, was im menschlichen Erkennen durch
unmittelbares Anschauen sich verbindet: Idee und Sinneswelt
nicht nur für sich außer dem Menschen gesondert zu
denken, sondern sie auseinander zu sondern, daß die Ideen
außerhalb dessen, was dem Menschen als Natur gegeben ist,
auch noch in einer von der Natur abgesonderten Geistigkeit
für sich ein Dasein führen. Verband man diese
Vorstellung, die auf einer unwahren Anschauung von Ideenwelt
und Sinnenwelt beruhte mit der berechtigten Ansicht, daß
das Göttliche nie in der Menschenseele vollbewußt
anwesend sein kann, so er gab sich ein völliges
Auseinanderreißen von Ideenwelt und Natur. Dann wird, was
immer im menschlichen Geiste gesucht werden sollte,
außerhalb desselben in der Schöpfung gesucht. In dem
göttlichen Geist werden die Urbilder aller Dinge enthalten
gedacht. Die Welt wird der unvollkommene Abglanz der in Gott
ruhenden vollkommenen Ideenwelt. Es wird dann in Folge einer
einseitigen Auffassung des Platonismus die Menschenseele von
dem Verhältnis zwischen Idee und «Wirklichkeit»
getrennt. Sie dehnt ihr berechtigt gedachtes Verhältnis
zur göttlichen Weltordnung aus auf das Verhältnis,
das in ihr lebt zwischen Ideenwelt und
Sinnes-Scheinwelt. Augustinus kommt durch solche
Vorstellungsart zu Ansichten wie diese: «Ohne jedes
Schwanken wollen wir glauben, daß die denkende Seele nicht
wesensgleich sei mit Gott, denn dieser gestattet keine
Gemeinschaft, daß aber die Seele erleuchtet werden
könne durch Teilnahme an der Gottesnatur.» Auf diese
Art wird der Menschenseele dann, wenn diese Vorstellungsart
einseitig übertrieben wird, die Möglichkeit entzogen,
in der Naturbetrachtung die Ideenwelt als Wesen der
Wirklichkeit mitzuerleben. Und es wird solches Miterleben als
unchristlich gedeutet. Über das Christentum selbst wird
die einseitige Anschauung des Platonismus gebreitet. Der
Platonismus als philosophische Weltanschauung hält sich
mehr im Elemente des Denkens; das religiöse Empfinden
taucht das Denken in das Gefühlsleben und befestigt es auf
diese Art in der Menschennatur. So im Menschenseelenleben
verankert konnte das Ungesunde des einseitigen Platonismus in
der abendländischen Gedankenentwicklung tiefere Bedeutung
gewinnen, als wenn es bloß Philosophie geblieben
wäre. Durch Jahrhunderte stand diese Gedankenentwicklung
vor Fragen wie diese: wie steht, was der Mensch als Idee
ausbildet, zu den Dingen der Wirklichkeit? Sind die in der
Menschenseele durch die Ideenwelt lebenden Begriffe nur
Vorstellungen, Namen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun
haben? Sind sie selbst etwas Wirkliches, das der Mensch
empfängt, indem er die Wirklichkeit wahrnimmt und durch
seinen Verstand begreift? Solche Fragen sind für die
Goethesche Weltanschauung keine Verstandesfragen über
irgend etwas, das außerhalb der menschlichen Wesenheit
liegt. Im menschlichen Anschauen der Wirklichkeit lösen
sich diese Fragen in immerwährender Lebendigkeit durch das
wahre menschliche Erkennen. Und diese Goethesche Weltanschauung
muß nicht nur finden, daß in den christlichen
Gedanken der Niederschlag eines einseitigen Platonismus lebt,
sondern sie empfindet sich selbst dem echten Christentum
entfremdet, wenn dieses von solchem Platonismus getränkt,
ihr entgegentritt. - Was in vielen Gedanken lebt, die Goethe in
sich ausgebildet hat, um sich die Welt verständlich zu
machen, das war Ablehnung der von ihm als ungesund empfundenen
Strömung des Platonismus. Daß er daneben einen freien
Sinn hatte für die platonische Erhebung der Menschenseele
zur Ideenwelt, das wird durch manchen Ausspruch bezeugt, den er
in dieser Richtung getan hat. Er fühlte in sich die
Wirksamkeit der Ideenwirklichkeit, indem er in seiner Art der
Natur betrachtend und forschend gegenübertrat; er
fühlte, daß die Natur selbst in der Sprache der Ideen
redet, wenn sich die Seele solcher Sprache erschließt.
Aber er konnte nicht zugeben, daß man die Ideenwelt als
Abgesondertes betrachtet, und sich dadurch die Möglichkeit
schuf gegenüber einer Idee von dem Pflanzenwesen zu sagen:
Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Da empfand er,
daß sein geistiges Auge die Idee als Wirklichkeit schaute,
wie das sinnliche Auge den physischen Teil des Pflanzenwesens
sieht. So stellte sich in Goethes Weltanschauung die auf die
Ideenwelt gehende Richtung des Platonismus in ihrer Reinheit
her, und es wird in ihr die von der Wirklichkeit ablenkende
Strömung desselben überwunden. Wegen dieser
Gestaltung seiner Weltanschauung mußte Goethe auch
ablehnen, was ihm sich als christliche Vorstellungen so gab,
daß es ihm nur als umgewandelter einseitiger Platonismus
erscheinen konnte. Und er mußte empfinden, daß in den
Formen mancher Weltanschauung, die ihm entgegentraten und mit
denen er sich auseinandersetzen wollte, es nicht gelungen sei,
die christlich-platonische, nicht natur- und
ideengemäße Ansicht über die Wirklichkeit
innerhalb der abendländischen Bildung zu
überwinden.
Die Folgen der platonischen Weltanschauung
Vergeblich hat sich Aristoteles gegen die platonische Spaltung
der Weltvorstellung aufgelehnt. Er sah in der Natur ein
einheitliches Wesen, das die Ideen ebenso enthält, wie die
durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen. Nur im
menschlichen Geiste können die Ideen ein
selbständiges Dasein haben. Aber in dieser
Selbständigkeit kommt ihnen keine Wirklichkeit zu.
Bloß die Seele kann sie abtrennen von den wahrnehmbaren
Dingen, mit denen zusammen sie die Wirklichkeit ausmachen.
Hätte die abendländische Philosophie an die richtig
verstandene Anschauung des Aristoteles angeknüpft, so
wäre sie bewahrt geblieben vor manchem, was der
Goetheschen Weltanschauung als Verirrung erscheinen
muß.
Aber dieser richtig verstandene Aristoteles war zunächst
manchem unbequem, der eine Gedankengrundlage für die
christlichen Vorstellungen gewinnen wollte. Mit einer
Naturauffassung, welche das höchste wirksame Prinzip in
die Erfahrungswelt verlegt, wußte mancher, der sich
für einen echt «christlichen» Denker hielt,
nichts anzufangen. Manche christliche Philosophen und Theologen
deuteten deshalb den Aristoteles um. Sie legten seinen
Ansichten einen Sinn unter, der nach ihrer Meinung geeignet
war, dem christlichen Dogma zur logischen Stütze zu
dienen. Nicht suchen sollte der Geist in den Dingen die
schaffenden Ideen. Die Wahrheit ist ja den Menschen von Gott in
Form der Offenbarung mitgeteilt. Nur bestätigen
sollte die Vernunft, was Gott geoffenbart hat. Die
aristotelischen Sätze wurden von den christlichen Denkern
des Mittelalters so gedeutet, daß die religiöse
Heilswahrheit durch sie ihre philosophische Bekräftigung
erhielt. Erst die Auffassung Thomas' von Aquino, des
bedeutendsten christlichen Denkers, sucht die aristotelischen
Gedanken in einer tiefgehenden Art in die christliche
Ideenentwicklung so weit einzuweben, als es in der Zeit dieses
Denkers möglich war. Nach dieser Auffassung enthält
die Offenbarung die höchsten Wahrheiten, die Heilslehre
der heiligen Schrift; aber es ist der Vernunft möglich, in
aristotelischer Weise in die Dinge sich zu vertiefen und deren
Ideengehalt aus ihnen herauszuholen. Die Offenbarung steigt so
tief herab und die Vernunft kann sich so weit erheben, daß
die Heilslehre und die menschliche Erkenntnis an einer Grenze
in einander übergehen. Die Art des Aristoteles, in die
Dinge einzudringen, dient also für Thomas dazu, bis zu dem
Gebiete der Offenbarung zu kommen.
*
Als
mit Bacon von Verulam und Descartes eine Zeit anhob, in welcher
der Wille sich geltend machte, die Wahrheit durch die eigene
Kraft der menschlichen Persönlichkeit zu suchen, waren die
Denkgewohnheiten in solche Richtungen gebracht, daß alles
Streben zu nichts anderem führte als zur Aufstellung von
Ansichten, die trotz ihrer scheinbaren Unabhängigkeit von
der vorangehenden abendländischen Vorstellungswelt, doch
nichts waren als neue Formen derselben. Auch Bacon und
Descartes haben den bösen Blick für das
Verhältnis von Erfahrung und Idee als Erbstück einer
entarteten Gedankenwelt mitbekommen. Bacon hatte nur Sinn und
Verständnis für die Einzelheiten der Natur. Durch
Sammeln desjenigen, was durch die räumliche und zeitliche
Mannigfaltigkeit als Gleiches oder Ähnliches sich
hindurchzieht, glaubte er zu allgemeinen Regeln über das
Naturgeschehen zu kommen. Goethe spricht über ihn das
treffende Wort: «Denn ob er schon selbst immer darauf
hindeutet, man solle die Partikularien nur deswegen sammeln,
damit man aus ihnen wählen, sie ordnen und endlich zu
Universalien gelangen könne, so behalten doch bei ihm
die einzelnen Fälle zu viele Rechte, und ehe man durch
Induktion, selbst diejenige, die er anpreist, zur Vereinfachung
und zum Abschluß gelangen kann, geht das Leben weg, und
die Kräfte verzehren sich.» Für Bacon sind diese
allgemeinen Regeln Mittel, durch welche es der Vernunft
möglich ist, das Gebiet der Einzelheiten bequem zu
überschauen. Aber er glaubt nicht, daß diese Regeln
in dem Ideengehalte der Dinge begründet und wirklich
schaffende Kräfte der Natur sind. Deshalb sucht er auch
nicht unmittelbar in der Einzelheit die Idee auf, sondern
abstrahiert sie aus einer Vielheit von Einzelheiten. Wer nicht
daran glaubt, daß in dem einzelnen Dinge die Idee lebt,
kann auch keine Neigung haben, sie in demselben zu suchen. Er
nimmt das Ding so hin, wie es sich der bloßen
äußeren Anschauung darbietet. Bacons Bedeutung ist
darin zu suchen, daß er auf die durch den gekennzeichneten
einseitigen Platonismus herabgewürdigte äußere
Anschauungsweise hinwies. Daß er betonte, in ihr sei eine
Quelle der Wahrheit. Er war aber nicht im Stande, der Ideenwelt
in gleicher Weise zu ihrem Rechte gegenüber der
Anschauungswelt zu verhelfen. Er erklärte das Ideelle
für ein subjektives Element im menschlichen Geiste. Seine
Denkweise ist umgekehrter Platonismus. Plato sieht nur in der
Ideenwelt, Bacon nur in der ideenlosen Wahrnehmungswelt die
Wirklichkeit. In Bacons Auffassung liegt der Ausgangspunkt
jener Denkergesinnung, von welcher die Naturforscher bis in die
Gegenwart beherrscht sind. Sie leidet an einer falschen Ansicht
über das ideelle Element der Erfahrungswelt. Sie konnte
nicht zurechtkommen mit der durch eine einseitige Fragestellung
erzeugten Ansicht des Mittelalters, die dahin ging, daß
die Ideen nur Namen, keine in den Dingen liegenden
Wirklichkeiten seien.
*
Von
anderen Gesichtspunkten aus, aber nicht minder beeinflußt
durch einseitig platonisierende Denkungsarten, stellte drei
Jahrzehnte nach Bacon Descartes seine Betrachtungen an. Auch er
krankt an der Erbsünde des abendländischen Denkens,
an dem Mißtrauen gegenüber der unbefangenen
Beobachtung der Natur. Der Zweifel an der Existenz und
Erkennbarkeit der Dinge ist der Anfang seines Forschens. Nicht
auf die Dinge richtet er den Blick, um Zugang zur
Gewißheit zu erlangen, sondern eine ganz kleine Pforte,
einen Schleichweg, im vollsten Sinne des Wortes sucht er auf.
In das intimste Gebiet des Denkens zieht er sich zurück.
Alles, was ich bisher als Wahrheit geglaubt habe, kann falsch
sein, sagt er sich. Was ich gedacht habe, kann auf
Täuschung beruhen. Aber die eine Tatsache bleibt
doch bestehen, daß ich über die Dinge denke. Auch
wenn ich Lug und Trug denke, so denke ich doch. Und wenn ich
denke, so existiere ich auch. Ich denke, also bin ich. Damit
glaubt Descartes einen festen Ausgangspunkt für alles
weitere Nachdenken gewonnen zu haben. Er fragt sich weiter:
gibt es nicht in dem Inhalte meines Denkens noch anderes, das
auf ein wahrhaftes Sein hindeutet? Und da findet er die Idee
Gottes, als eines allervollkommensten Wesens. Da der Mensch
selbst unvollkommen ist: wie kommt die Idee eines
allervollkommensten Wesens in seine Gedankenwelt? Ein
unvollkommenes Wesen kann eine solche Idee unmöglich aus
sich selbst erzeugen. Denn das vollkommenste, das es zu denken
vermag, ist eben ein unvollkommenes. Es muß also diese
Idee von dem vollkommensten Wesen selbst in den Menschen gelegt
sein. Also muß auch Gott existieren. Wie aber soll ein
vollkommenes Wesen uns eine Täuschung vorspiegeln? Die
Außenwelt, die sich uns als wirklich darstellt, muß
deshalb auch wirklich sein. Sonst wäre sie ein Trugbild,
das uns die Gottheit vormachte. Auf diese Weise sucht Descartes
das Vertrauen zur Wirklichkeit zu gewinnen, das ihm wegen
ererbter Empfindungen zuerst fehlte. Auf einem
äußerst künstlichen Wege sucht er die Wahrheit.
Einseitig vom Denken geht er aus. Nur dem Denken gesteht er die
Kraft zu, Überzeugung hervorzubringen. Über die
Beobachtung kann nur eine Überzeugung gewonnen werden,
wenn sie durch das Denken vermittelt wird. Die Folge dieser
Ansicht war, daß es das Streben der Nachfolger Descartes
wurde, den ganzen Umfang der Wahrheiten, die das Denken aus
sich heraus entwickeln und beweisen kann, festzustellen. Die
Summe aller Erkenntnisse aus reiner Vernunft wollte man finden.
Von den einfachsten unmittelbar klaren Einsichten wollte man
ausgehen, und fortschreitend den ganzen Kreis des reinen
Denkens durchwandern. Nach dem Muster der Euklidischen
Geometrie sollte dieses System aufgebaut werden. Denn man war
der Ansicht, auch diese gehe von einfachen, wahren Sätzen
aus und entwickle durch bloße Schlußfolgerung, ohne
Zuhilfenahme der Beobachtung, ihren ganzen Inhalt. Ein solches
System reiner Vernunftwahrheiten zu liefern, hat Spinoza in
seiner «Ethik» versucht. Eine Anzahl von
Vorstellungen: Substanz, Attribut, Modus, Denken, Ausdehnung
usw. nimmt er vor und untersucht rein verstandesmäßig
die Beziehungen und den Inhalt dieser Vorstellungen. In dem
Gedankengebäude soll das Wesen der Wirklichkeit sich
aussprechen. Spinoza betrachtet nur die Erkenntnis, die durch
diese wirklichkeitsfremde Tätigkeit zustande kommt, als
eine solche, die dem wahren Wesen der Welt entspricht, die
adäquate Ideen liefert. Die aus der Sinneswahmehmung
entsprungenen Ideen sind ihm inadäquat, verworren und
verstümmelt. Es ist leicht einzusehen, daß auch in
dieser Vorstellungswelt die einseitig platonische
Auffassungsweise von dem Gegensatz der Wahrnehmungen und der
Ideen nachwirkt. Die Gedanken, die unabhängig von
der Wahrnehmung gebildet werden, sind allein das Wertvolle
für die Erkenntnis. Spinoza geht noch weiter. Er dehnt den
Gegensatz auch auf das sittliche Empfinden und Handeln der
Menschen aus. Unlustempfindungen können nur aus Ideen
entspringen, die von der Wahrnehmung stammen; solche Ideen
erzeugen die Begierden und Leidenschaften im Menschen, deren
Sklave er werden kann, wenn er sich ihnen hingibt. Nur was aus
der Vernunft entspringt, erzeugt unbedingte Lustempfindungen.
Das höchste Glück des Menschen ist daher sein Leben
in den Vernunftideen, die Hingabe an die Erkenntnis der reinen
Ideenwelt. Wer überwunden hat, was aus der
Wahrnehmungswelt stammt, und nur noch in der reinen Erkenntnis
lebt, empfindet die höchste Seligkeit.
Nicht ganz ein Jahrhundert nach Spinoza tritt der Schotte David
Hume mit einer Denkweise auf, die wieder aus der Wahrnehmung
allein die Erkenntnis entspringen läßt. Nur einzelne
Dinge in Raum und Zeit sind gegeben. Das Denken verknüpft
die einzelnen Wahrnehmungen, aber nicht, weil in diesen selbst
etwas liegt, was dieser Verknüpfung entspricht, sondern
weil sich der Verstand daran gewöhnt hat, die Dinge
in einen Zusammenhang zu bringen. Der Mensch ist gewohnt, zu
sehen, daß ein Ding auf ein anderes der Zeit nach folgt.
Er bildet sich die Vorstellung, daß es folgen müsse.
Er macht das erste zur Ursache, das zweite zur Wirkung. Der
Mensch ist ferner gewohnt zu sehen, daß auf einen Gedanken
seines Geistes eine Bewegung seines Leibes folgt. Er
erklärt sich dies dadurch, daß er sagt, der Geist
habe die Leibesbewegung bewirkt. Denkgewohnheiten, nichts
weiter sind die menschlichen Ideen. Wirklichkeit haben nur die
Wahrnehmungen.
*
Die
Vereinigung der verschiedensten durch die Jahrhunderte hindurch
zum Dasein gelangten Denkrichtungen ist die Kantsche
Weltanschauung. Auch Kant fehlt die natürliche Empfindung
für das Verhältnis von Wahrnehmung und Idee. Er lebt
in philosophischen Vorurteilen, die er durch Studium seiner
Vorgänger in sich aufgenommen hat. Das eine dieser
Vorurteile ist, daß es notwendige Wahrheiten gebe, die
durch reines, von aller Erfahrung freies Denken erzeugt werden.
Der Beweis davon ist, nach seiner Ansicht, durch die Existenz
der Mathematik und der reinen Physik erbracht, die solche
Wahrheiten enthalten. Ein anderes seiner Vorurteile besteht
darin, daß er der Erfahrung die Fähigkeit abspricht,
zu gleich notwendigen Wahrheiten zu gelangen. Das
Mißtrauen gegenüber der Wahrnehmungswelt ist auch in
Kant vorhanden. Zu diesen seinen Denkgewohnheiten tritt bei
Kant der Einfluß Humes hinzu. Er gibt Hume recht in Bezug
auf die Behauptung, daß die Ideen, in die das Denken die
einzelnen Wahrnehmungen zusammenfaßt, nicht aus der
Erfahrung stammen. Sondern daß das Denken sie zur
Erfahrung hinzufügt. Diese drei Vorurteile sind die
Wurzeln des Kantschen Gedankengebäudes. Der Mensch besitzt
notwendige Wahrheiten. Sie können nicht aus der Erfahrung
stammen, weil diese keine solchen darbietet. Dennoch wendet sie
der Mensch auf die Erfahrung an. Er verknüpft die
einzelnen Wahrnehmungen diesen Wahrheiten gemäß. Sie
stammen aus dem Menschen selbst. Es liegt in seiner Natur,
daß er die Dinge in einen solchen Zusammenhang bringt, der
den durch reines Denken gewonnenen Wahrheiten entspricht. Kant
geht nun noch weiter. Er spricht auch den Sinnen die
Fähigkeit zu, das was ihnen von außen gegeben wird,
in eine bestimmte Ordnung zu bringen. Auch diese Ordnung
fließt nicht mit den Eindrücken der Dinge von
außen ein. Die räumliche und die zeitliche Ordnung
erhalten die Eindrücke erst durch die sinnliche
Wahrnehmung. Raum und Zeit gehören nicht den Dingen an.
Der Mensch ist so organisiert, daß er, wenn die Dinge auf
seine Sinne Eindrücke machen, diese in räumliche oder
zeitliche Zusammenhänge bringt. Nur Eindrücke,
Empfindungen erhält der Mensch von außen. Die
Anordnung derselben im Raum und in der Zeit, ihre
Zusammenfassung zu Ideen ist sein eigenes Werk. Aber auch die
Empfindungen sind nichts, was aus den Dingen stammt. Nicht die
Dinge nimmt der Mensch wahr, sondern nur die Eindrücke,
die sie auf ihn ausüben. Ich weiß nichts von einem
Dinge, wenn ich eine Empfindung habe. Ich kann nur sagen: ich
bemerke das Auftreten einer Empfindung bei mir. Durch welche
Eigenschaften das Ding befähigt ist, in mir die
Empfindungen hervorzurufen, darüber kann ich nichts
erfahren. Der Mensch hat es, nach Kants Meinung, nicht mit den
Dingen an sich zu tun, sondern nur mit den Eindrücken, die
sie auf ihn machen und mit den Zusammenhängen, in die er
selbst diese Eindrücke bringt. Nicht objektiv von
außen aufgenommen, sondern nur auf äußere
Veranlassung hin, subjektiv von innen erzeugt, ist die
Erfahrungswelt. Das Gepräge, das sie trägt, geben ihr
nicht die Dinge, sondern die menschliche Organisation. Sie ist
folglich als solche unabhängig von dem Menschen gar nicht
vorhanden. Von diesem Standpunkte aus ist die Annahme
notwendiger, von der Erfahrung unabhängiger Wahrheiten
möglich. Denn diese Wahrheiten beziehen sich bloß auf
die Art, wie der Mensch von sich selbst aus seine
Erfahrungswelt bestimmt. Sie enthalten die Gesetze seiner
Organisation. Sie haben keinen Bezug auf die Dinge an sich
selbst. Kant hat also einen Ausweg gefunden, der es ihm
gestattet, bei seinem Vorurteile stehen zu bleiben, daß es
notwendige Wahrheiten gebe, die für den Inhalt der
Erfahrungswelt gelten, ohne doch daraus zu stammen. Allerdings
mußte er, um diesen Ausweg zu finden, sich zu der Ansicht
entschließen, daß der menschliche Geist unfähig
sei, irgend etwas über die Dinge an sich zu wissen. Er
mußte alles Erkennen auf die Erscheinungswelt
einschränken, welche die menschliche Organisation aus sich
herausspinnt infolge der von den Dingen verursachten
Eindrücke. Aber was kümmerte Kant das Wesen der Dinge
an sich, wenn er nur die ewigen, notwendig-gültigen
Wahrheiten in dem Sinne retten konnte, wie er sich dieselben
vorstellte. Der einseitige Platonismus hat in Kant eine die
Erkenntnis lähmende Frucht hervorgebracht. Plato hat sich
von der Wahrnehmung abgewendet und den Blick auf die ewigen
Ideen gerichtet, weil ihm jene das Wesen der Dinge nicht
auszusprechen schien. Kant aber verzichtet darauf, daß die
Ideen eine wirkliche Einsicht in das Wesen der Welt
eröffnen, wenn ihnen nur die Eigenschaft des Ewigen und
Notwendigen verbleibt. Plato hält sich an die Ideenwelt,
weil er glaubt, daß das wahre Wesen der Welt ewig,
unzerstörbar, unwandelbar sein muß, und er diese
Eigenschaften nur den Ideen zusprechen kann. Kant ist
zufrieden, wenn er nur diese Eigenschaften von den Ideen
behaupten kann. Sie brauchen dann gar nicht mehr das Wesen der
Welt auszusprechen.
*
Die
philosophische Vorstellungsart Kants wurde noch besonders
genährt von seiner religiösen Empfindungsrichtung. Er
ging nicht davon aus, in der menschlichen Wesenheit den
lebendigen Zusammenklang von Ideenwelt und Sinneswahmehmung zu
schauen, sondern er legte sich die Frage vor: Kann von dem
Menschen durch das Erleben der Ideenwelt etwas erkannt werden,
das niemals in den Bereich der Sinneswahrung eintreten kann?
Wer im Sinne der Goetheschen Weltanschauung denkt, der sucht
den Wirklichkeitscharakter der Ideenwelt dadurch zu erkennen,
daß er das Wesen der Idee erfaßt, indem ihm klar
wird, wie diese in der sinnlichen Scheinwelt Wirklichkeit
anschauen läßt. Dann darf er sich fragen: In wie weit
kann ich durch den so erlebten Wirklichkeitscharakter der
Ideenwelt in die Gebiete dringen, in denen die
übersinnlichen Wahrheiten der Freiheit, der
Unsterblichkeit, der göttlichen Weltordnung ihr
Verhältnis zur menschlichen Erkenntnis finden? Kant
verneinte die Möglichkeit, über die Wirklichkeit der
Ideenwelt aus deren Verhältnis zur Sinneswahmehmung etwas
wissen zu können. Aus dieser Voraussetzung heraus ergab
sich für ihn als wissenschaftliches Ergebnis dasjenige,
was, ihm unbewußt, von seiner religiösen
Empfindungsrichtung gefordert wurde: daß das
wissenschaftliche Erkennen Halt machen müsse vor solchen
Fragen, welche die Freiheit, die Unsterblichkeit, die
göttliche Weltordnung betreffen. Ihm ergab sich, daß
das menschliche Erkennen nur bis an die Grenzen gehen
könne, die den Sinnesbereich umschließen, und
daß für alles, was darüber hinausliegt, nur ein
Glaube möglich sei. Er wollte das Wissen eingrenzen, um
für den Glauben Platz zu erhalten. Im Sinne der
Goetheschen Weltanschauung liegt es, das Wissen erst dadurch
mit einer festen Grundlage zu versehen, daß die Ideenwelt
in ihrem Wesen an der Natur geschaut wird, um dann in der
befestigten Ideenwelt zu einer über die Sinnenwelt
hinausliegenden Erfahrung zu schreiten. Auch dann, wenn Gebiete
erkannt werden, die nicht im Bereich der Sinneswelt liegen,
wird der Blick auf den lebendigen Zusammenklang von Idee und
Erfahrung gelenkt und dadurch die Sicherheit des Erkennens
gesucht. Kant konnte eine solche Sicherheit nicht finden.
Deshalb ging er darauf aus, für die Vorstellungen von
Freiheit, Unsterblichkeit und Gottesordnung außerhalb des
Erkennens eine Grundlage zu finden. Im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung liegt es, von «Dingen an sich» so viel
erkennen zu wollen, als das an der Natur erfaßte Wesen der
Ideenwelt gestattet. Im Sinne der Kantschen Weltanschauung
liegt es, der Erkenntnis das Recht abzusprechen, in die Welt
der «Dinge an sich» hineinzuleuchten. Goethe will in
der Erkenntnis ein Licht anzünden, welches das Wesen der
Dinge beleuchtet. Ihm ist auch klar, daß im Licht nicht
das Wesen der beleuchteten Dinge liegt; aber er will trotzdem
nicht darauf verzichten, dieses Wesen durch die Beleuchtung mit
dem Lichte offenbar werden zu lassen. Kant hält daran
fest: in dem Lichte liegt nicht das Wesen der beleuchteten
Dinge; deshalb kann das Licht nichts offenbaren über
dieses Wesen.
Vor
der Goetheschen Weltanschauung kann diejenige Kants nur im
Sinne der folgenden Vorstellungen stehen: Nicht durch
Hinwegräumung alter Irrtümer, nicht durch eine freie,
ursprüngliche Vertiefung in die Wirklichkeit ist diese
Weltanschauung entstanden, sondern durch logische Verschmelzung
anerzogener und ererbter philosophischer und religiöser
Vorurteile. Sie konnte nur aus einem Geiste entspringen, in dem
der Sinn für das lebendige Schaffen innerhalb der Natur
unentwickelt geblieben ist. Und sie konnte nur auf solche
Geister wirken, die an dem gleichen Mangel litten. Aus dem
weitgehenden Einflusse, den Kants Denkweise auf seine
Zeitgenossen ausübte, ist zu ersehen, wie stark diese in
dem Banne des einseitigen Platonismus standen.
Goethe und die platonische Weltsicht
Ich
habe die Gedankenentwickelung von Platos bis zu Kants Zeit
geschildert, um zeigen zu können, welche Eindrücke
Goethe empfangen mußte, wenn er sich an den Niederschlag
der philosophischen Gedanken wandte, an die er sich halten
konnte, um sein so starkes Erkenntnisbedürfnis zu
befriedigen. Auf die unzähligen Fragen, zu denen ihn seine
Natur drängte, fand er in den Philosophien keine
Antworten. Ja, es zeigte sich, so oft er sich in die
Weltanschauung eines Philosophen vertiefte, ein Gegensatz
zwischen der Richtung, die seine Fragen einschlugen und der
Gedankenwelt, bei der er sich Rat holen wollte. Der Grund liegt
darin, daß die einseitig platonische Trennung von Idee und
Erfahrung seiner Natur zuwider war. Wenn er die Natur
beobachtete, so brachte sie ihm die Ideen entgegen. Er konnte
sie deshalb nur ideenerfüllt denken. Eine Ideenwelt,
welche die Dinge der Natur nicht durchdringt, ihr Entstehen und
Vergehen, ihr Werden und Wachsen nicht hervorbringt, ist ihm
ein kraftloses Gedankengespinst. Das logische Fortspinnen von
Gedankenreihen, ohne Versenkung in das wirkliche Leben und
Schaffen der Natur erscheint ihm unfruchtbar. Denn er
fühlt sich mit der Natur innig verwachsen. Er betrachtet
sich als ein lebendiges Glied der Natur. Was in seinem Geiste
entsteht, das hat, nach seiner Ansicht, die Natur in ihm
entstehen lassen. Der Mensch soll sich nicht in eine Ecke
stellen und glauben, daß er da aus sich heraus ein
Gedankengewebe spinnen könne, das über das Wesen der
Dinge aufklärt. Er soll den Strom des Weltgeschehens
beständig durch sich durchfließen lassen. Dann wird
er fühlen, daß die Ideenwelt nichts anderes ist, als
die schaffende und tätige Gewalt der Natur. Er wird nicht
über den Dingen stehen wollen, um über sie
nachzudenken, sondern er wird sich in ihre Tiefen eingraben und
aus ihnen herausholen, was in ihnen lebt und wirkt.
Zu
solcher Denkweise führte Goethe seine Künstlernatur.
Mit derselben Notwendigkeit, mit der eine Blume blüht,
fühlte er seine dichterischen Erzeugnisse aus seiner
Persönlichkeit herauswachsen. Die Art, wie der Geist in
ihm das Kunstwerk hervorbrachte, schien ihm nicht verschieden
von der zu sein, wie die Natur ihre Geschöpfe erzeugt. Und
wie im Kunstwerke das geistige Element von der geistlosen
Materie nicht zu trennen ist, so war es ihm auch
unmöglich, bei einem Dinge der Natur die Wahrnehmung ohne
die Idee vorzustellen. Fremd blickte ihn daher eine Anschauung
an, die in der Wahrnehmung nur etwas Unklares, Verworrenes sah
und die Ideenwelt abgesondert, gereinigt von aller Erfahrung
betrachten wollte. Er fühlte in jeder Weltanschauung, in
der die Elemente des einseitig verstandenen Platonismus lebten,
etwas Naturwidriges. Deshalb konnte er bei den Philosophen
nicht finden, was er bei ihnen suchte. Er suchte die Ideen, die
in den Dingen leben, und die alle Einzelheiten der Erfahrung
als hervorwachsend aus einem lebendigen Ganzen erscheinen
lassen, und die Philosophen lieferten ihm Gedankenhülsen,
die sie nach logischen Grundsätzen zu Systemen verbunden
hatten. Immer wieder fand er sich auf sich selbst
zurückgewiesen, wenn er bei andern Aufklärung suchte
über die Rätsel, die ihm die Natur aufgab. Es
gehört zu den Dingen, an denen Goethe vor seiner
italienischen Reise gelitten hat, daß sein
Erkenntnisbedürfnis keine Befriedigung finden konnte. In
Italien konnte er sich eine Ansicht bilden über die
Triebkräfte, aus denen die Kunstwerke hervorgehen. Er
erkannte, daß in den vollendeten Kunstwerken das enthalten
ist, was die Menschen als Göttliches, als Ewiges verehren.
Nach dem Anblicke von künstlerischen Schöpfungen, die
ihn besonders interessieren, schreibt er die Worte nieder:
«Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten
Naturwerke von Menschen nach wahren und
natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles
Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist
Notwendigkeit, da ist Gott.» Die Kunst der Griechen
entlockt ihm den Ausspruch: «Ich habe die Vermutung,
daß sie (die Griechen) nach eben den Gesetzen verfuhren,
nach welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf
der Spur bin.» Was Plato in der Ideenwelt zu finden
glaubte, was die Philosophen Goethe nie nahe bringen konnten,
das blickt ihm aus den Kunstwerken Italiens entgegen. In der
Kunst offenbart sich für Goethe zuerst das in vollkommener
Gestalt, was er als die Grundlage der Erkenntnis ansehen kann.
Er erblickt in der künstlerischen Produktion eine Art und
höhere Stufe des Naturwirkens; künstlerisches
Schaffen ist ihm gesteigertes Naturschaffen. Er hat das in
seiner Charakteristik Winckelmanns später ausgesprochen:
«... indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt
ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in
sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert
er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden
durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft
und sich endlich zur Produktion des Kunstwerkes
erhebt...». Nicht auf dem Wege logischer
Schlußfolgerung, sondern durch Betrachtung des Wesens der
Kunst gelangt Goethe zu seiner Weltanschauung. Und was er in
der Kunst gefunden hat, das sucht er auch in der Natur.
Die
Tätigkeit, durch die sich Goethe in den Besitz einer
Naturerkenntnis setzt, ist nicht wesentlich von der
künstlerischen verschieden. Beide gehen ineinander
über und greifen übereinander. Der Künstler
muß, nach Goethes Ansicht, größer und
entschiedener werden, wenn er zu seinem «Talente noch ein
unterrichteter Botaniker ist, wenn er, von der Wurzel an, den
Einließ der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und das
Wachstum der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitige
Wirkung erkennt, wenn er die sukzessive Entwicklung der Blumen,
Blätter, Befruchtung, Frucht und des neuen Keimes einsieht
und überdenkt. Er wird alsdann nicht bloß durch die
Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern er
wird uns auch durch eine richtige Darstellung der Eigenschaften
zugleich in Verwunderung setzen und belehren.» Das
Kunstwerk ist demnach um so vollkommener, je mehr in ihm
dieselbe Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck kommt, die in
dem Naturwerke enthalten ist, dem es entspricht. Es gibt nur
ein einheitliches Reich der Wahrheit, und dieses umfaßt
Kunst und Natur. Daher kann auch die Fähigkeit des
künstlerischen Schaffens von der des Naturerkennens nicht
wesentlich verschieden sein. Vom Stil des Künstlers sagt
Goethe, daß er «auf den tiefsten Grundfesten der
Erkenntnis ruhe, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns
erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu
erkennen.» Die aus einseitig erfaßten platonischen
Vorstellungen hervorgegangene Weltbetrachtung zieht eine
scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Kunst. Die
künstlerische Tätigkeit läßt sie auf der
Phantasie, auf dem Gefühle beruhen; die wissenschaftlichen
Ergebnisse sollen das Resultat einer Phantastereien
Begriffsentwicklung sein. Goethe stellt sich die Sache anders
vor. Für ihn ergibt sich, wenn er das Auge auf die Natur
richtet, eine Summe von Ideen; aber er findet, daß in dem
einzelnen Erfahrungsgegenstande der ideelle Bestandteil nicht
abgeschlossen ist; die Idee weist über das einzelne hinaus
auf verwandte Gegenstände, in denen sie auf ähnliche
Weise zur Erscheinung kommt. Der philosophierende Beobachter
hält diesen ideellen Bestandteil fest und bringt ihn in
seinen Gedankenwerken unmittelbar zum Ausdrucke. Auch auf den
Künstler wirkt dieses Ideelle. Aber es treibt ihn ein Werk
zu gestalten, in dem die Idee nicht bloß wie in einem
Naturwerke wirkt, sondern zur gegenwärtigen Erscheinung
wird. Was in dem Naturwerke bloß ideell ist und sich
dem geistigen Auge des Beobachters enthüllt, das wird in
dem Kunstwerke real, wird wahrnehmbare Wirklichkeit. Der
Künstler verwirklicht die Ideen der Natur. Er braucht sich
aber diese nicht in Form der Ideen zum Bewußtsein zu
bringen. Wenn er ein Ding oder ein Ereignis betrachtet, so
gestaltet sich in seinem Geiste unmittelbar ein anderes, das in
realer Erscheinung enthält, was jene nur als Idee. Der
Künstler liefert Bilder der Naturwerke, welche deren
Ideengehalt in einen Wahrnehmungsgehalt umsetzen. Der Philosoph
zeigt, wie sich die Natur der denkenden Betrachtung darstellt;
der Künstler zeigt, wie die Natur aussehen würde,
wenn sie ihre wirkenden Kräfte nicht bloß dem Denken,
sondern auch der Wahrnehmung offen entgegenbrächte. Es ist
eine und dieselbe Wahrheit, die der Philosoph in Form des
Gedankens, der Künstler in Form des Bildes darstellt.
Beide unterscheiden sich nur durch ihre Ausdrucksmittel. Die
Einsicht in das wahre Verhältnis von Idee und Erfahrung,
die sich Goethe in Italien angeeignet hat, ist nur die Frucht
aus dem Samen, der in seiner Naturanlage verborgen war. Die
italienische Reise brachte ihm jene Sonnenwärme, die
geeignet war, den Samen zur Reife zu bringen. In dem Aufsatz
«Die Natur», der 1782 im Tiefurter Journal erschienen
ist, und der Goethe zum Urheber hat (vgl. meinen Nachweis von
Goethes Urheberschaft im VII. Bande der Schriften der
Goethe-Gesellschaft), finden sich schon die Keime der
späteren Goetheschen Weltanschauung. Was hier dunkle
Empfindung ist, wird später klarer deutlicher Gedanke.
«Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen -
unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend,
tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie
uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns
fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen...
Gedacht hat sie (die Natur) und sinnt
beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur...
Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und
Herzen, durch die sie fühlt und spricht... Ich sprach
nicht von ihr. Nein, was wahr ist und falsch ist, alles hat sie
gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst!
-» Als Goethe diese Sätze niederschrieb, war ihm noch
nicht klar, wie die Natur durch den Menschen ihre ideelle
Wesenheit ausspricht; daß es aber die Stimme des Geistes
der Natur ist, die im Geiste des Menschen ertönt, das
fühlte er.
In
Italien fand Goethe die geistige Atmosphäre, in der sich
seine Erkenntnisorgane ausbilden konnten, wie sie es ihren
Anlagen gemäß mußten, wenn er zur vollen
Befriedigung kommen sollte. In Rom hat er «über Kunst
und ihre theoretischen Forderungen mit Moritz viel
verhandelt »; auf der Reise hat sich in ihm bei
Beobachtung der Pflanzenmetamorphose eine naturgemäße
Methode ausgebildet, die sich später für die
Erkenntnis der ganzen organischen Natur fruchtbar erwiesen hat.
«Denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr
Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern
mußte, indem ich sie gewähren ließ, die Wege und
Mittel anerkennen, wie sie den eingehülltesten Zustand zur
Vollendung nach und nach zu befördern weiß.»
Wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien gelang es
ihm, auch für die Betrachtung der unorganischen Natur ein
aus seinen geistigen Bedürfnissen geborenes Verfahren zu
finden. «Bei physischen Untersuchungen drängte sich
mir die Überzeugung auf, daß, bei aller Betrachtung
der Gegenstände, die höchste Pflicht sei, jede
Bedingung, unter welcher ein Phänomen erscheint, genau
aufzusuchen und nach möglichster Vollständigkeit der
Phänomene zu trachten: weil sie doch zuletzt sich
aneinanderzureihen, oder vielmehr übereinanderzugreifen
genötigt werden, und vor dem Anschauen des Forschers auch
eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben
manifestieren müssen.»
Goethe fand nirgends Aufklärung. Er mußte sich selbst
aufklären. Er suchte den Grund dafür und glaubte ihn
darin zu finden, daß er für Philosophie im
eigentlichen Sinne kein Organ hätte. Er ist aber darin zu
suchen, daß die einseitig erfaßte platonische
Denkweise, die alle ihm zugänglichen Philosophien
beherrschte, seiner gesunden Naturanlage widersprach. In seiner
Jugend hatte er sich wiederholt an Spinoza gewandt. Er gesteht
sogar, daß dieser Philosoph auf ihn immer eine
«friedliche Wirkung» hervorgebracht habe. Diese
beruht darauf, daß Spinoza das Weltall als eine große
Einheit ansieht, und alles Einzelne mit Notwendigkeit aus dem
Ganzen hervorgehend sich denkt. Wenn sich Goethe aber auf den
Inhalt der Spinozistischen Philosophie einließ, so
fühlte er doch, daß dieser ihm fremd blieb.
«Denke man aber nicht, daß ich seine Schriften
hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich
bekennen mögen. Denn, daß niemand den andern
versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe, was
der andere, denkt, daß ein Gespräch, eine
Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene
Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich
eingesehen, und man wird dem Verfasser von Werther und
Faust wohl zutrauen, daß er, von solchen
Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den
Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der als
Schüler von Descartes, durch mathematische und rabbinische
Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben; der bis
auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen
Bemühungen zu sein scheint.» Nicht der Umstand,
daß Spinoza durch Descartes geschult worden ist, auch
nicht der, daß er durch mathematische und rabbinische
Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens erhoben hat, machte ihn
für Goethe zu einem Element, an das er sich doch nicht
ganz hingeben konnte, sondern seine wirklichkeitsfremde, rein
logische Art, die Erkenntnis zu behandeln. Goethe konnte sich
dem reinen erfahrungsfreien Denken nicht hingeben, weil er es
nicht zu trennen vermochte von der Gesamtheit des Wirklichen.
Er wollte nicht einen Gedanken bloß logisch an den andern
angliedern. Vielmehr erschien ihm eine solche
Gedankentätigkeit von der wahren Wirklichkeit abzulenken.
Er mußte den Geist in die Erfahrung versenken, um zu den
Ideen zu kommen. Die Wechselwirkung von Idee und Wahrnehmung
war ihm ein geistiges Atemholen. «Durch die
Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselbewegung von
Idee und Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt
regiert.» Im Sinne dieses Satzes die Welt und ihre
Erscheinungen zu betrachten, schien Goethe
naturgemäß. Denn für ihn gab es keinen Zweifel
darüber, daß die Natur dasselbe Verfahren beobachtet:
daß sie « eine Entwicklung aus einem lebendigen
geheimnisvollen Ganzen» zu den mannigfaltigen besonderen
Erscheinungen hin ist, die den Raum und die Zeit erfüllen.
Das geheimnisvolle Ganze ist die Welt der Idee. «Die Idee
ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist
nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir
reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe
sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein
Begriff.» Das Schaffen der Natur geht aus dem Ganzen, das
ideeller Art ist, ins Einzelne, das als Reelles der Wahrnehmung
gegeben ist. Deshalb soll der Beobachter: «das Ideelle im
Reellen anerkennen und sein jeweiliges Mißbehagen mit dem
Endlichen durch Erhebung ins Unendliche beschwichtigen».
Goethe ist überzeugt davon, daß «die Natur nach
Ideen verfahre, ingleichen, daß der Mensch in allem, was
er beginnt, eine Idee verfolge». Wenn es dem Menschen
wirklich gelingt, sich zu der Idee zu erheben, und von der Idee
aus die Einzelheiten der Wahrnehmung zu begreifen, so
vollbringt er dasselbe, was die Natur vollbringt, indem sie
ihre Geschöpfe aus dem geheimnisvollen Ganzen hervorgehen
läßt. Solange der Mensch das Wirken und Schaffen der
Idee nicht fühlt, bleibt sein Denken von der lebendigen
Natur abgesondert. Er muß das Denken als eine bloß
subjektive Tätigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild von
der Natur entwerfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die
Idee in seinem Innern lebt und tätig ist, betrachtet er
sich und die Natur als ein Ganzes, und was als
Subjektives in seinem Innern erscheint, das gilt ihm zugleich
als objektiv; er weiß, daß er der Natur nicht mehr
als Fremder gegenübersteht, sondern er fühlt sich
verwachsen mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist
objektiv geworden; das Objektive von dem Geiste ganz
durchdrungen. Goethe ist der Meinung, der Grundirrtum Kants
bestehe darin, daß dieser «das subjektive
Erkenntnisvermögen nun selbst als Objekt betrachtet und
den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar
scharf aber nicht ganz richtig sondert.» (Sophien-Ausgabe,
2. Abteilung, Bd. XI, S.376.) Das Erkenntnisvermögen
erscheint dem Menschen nur so lange als subjektiv, als er nicht
beachtet, daß die Natur selbst es ist, die durch dasselbe
spricht. Subjektiv und objektiv treffen zusammen, wenn die
objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt, und in dem Geiste des
Menschen dasjenige lebt, was in der Natur selbst tätig
ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller Gegensatz von
subjektiv und objektiv auf. Dieser Gegensatz hat nur eine
Bedeutung, solange der Mensch ihn künstlich aufrecht
erhält, solange er die Ideen als seine Gedanken
betrachtet, durch die das Wesen der Natur abgebildet wird, in
denen es aber nicht selbst wirksam ist. Kant und die Kantianer
hatten keine Ahnung davon, daß in den Ideen der Vernunft
das Wesen, das Ansich der Dinge unmittelbar erlebt wird.
Für sie ist alles Ideelle ein bloß Subjektives.
Deshalb kamen sie zu der Meinung, das Ideelle könne nur
dann notwendig gültig sein, wenn auch dasjenige, auf das
es sich bezieht, die Erfahrungswelt, nur subjektiv ist. Mit
Goethes Anschauungen steht die Kantsche Denkweise in einem
scharfen Gegensatz. Es gibt zwar einzelne Äußerungen
Goethes, in denen er von Kants Ansichten in einer anerkennenden
Art spricht. Er erzählt, daß er manchem Gespräch
über diese Ansichten beigewohnt habe. «Mit einiger
Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte
Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die
Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich
hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner
Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es
mit unbewußter Naivität und glaubte wirklich, ich
sähe meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit
zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf diejenige Seite
stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab
allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaupteten:
wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so
entspringe sie darum doch nicht eben alle aus der
Erfahrung.» Die Idee stammt auch, nach Goethes Ansicht,
nicht aus dem Teile der Erfahrung, welcher der bloßen
Wahrnehmung durch die Sinne des Menschen sich darbietet. Die
Vernunft, die Phantasie müssen sich betätigen,
müssen in das Innere der Wesen dringen, um sich der
ideellen Elemente des Daseins zu bemächtigen. Insofern hat
der Geist des Menschen Anteil an dem Zustandekommen der
Erkenntnis. Goethe meint, es mache dem Menschen Ehre, daß
in seinem Geiste die höhere Wirklichkeit, die den Sinnen
nicht zugänglich ist, zur Erscheinung komme; Kant dagegen
spricht der Erfahrungswelt den Charakter der höheren
Wirklichkeit ab, weil sie Bestandteile enthält, die aus
dem Geiste stammen. Nur wenn er die Kantschen Sätze erst
im Sinne seiner Weltanschauung umdeutete, konnte Goethe sich
zustimmend zu ihnen verhalten. Die Grundlagen der Kantschen
Denkweise widersprechen Goethes Wesen aufs schärfste. Wenn
dieser den Widerspruch nicht scharf genug betonte, so liegt das
wohl nur darin, daß er sich auf diese Grundlagen nicht
einließ, weil sie ihm zu fremd waren. «Der Eingang
(der Kritik der reinen Vernunft) war es, der mir gefiel, ins
Labyrinth selbst konnte ich mich nicht wagen: bald hinderte
mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich
fühlte mich nirgends gebessert.» Über seine
Gespräche mit den Kantianern mußte sich Goethe
eingestehen: «Sie hörten mich wohl, konnten mir aber
nichts erwidern, noch irgend förderlich sein. Mehr als
einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit
lächelnder Verwunderung zugestand: es sei freilich ein
Analogon Kantscher Vorstellungsart, aber ein seltsames.»
Es war, wie ich gezeigt, auch kein Analogon, sondern das
entschiedenste Gegenteil der Kantschen Vorstellungsart.
Es
ist interessant zu sehen, wie Schiller sich über
den Gegensatz der Goetheschen Denkweise und seiner eigenen
aufzuklären sucht. Er empfindet das Ursprüngliche und
Freie der Goetheschen Weltanschauung. Aber er kann die
einseitig erfaßten platonischen Gedankenelemente aus
seinem eigenen Geiste nicht entfernen. Er kann sich nicht zu
der Einsicht erheben, daß Idee und Wahrnehmung in der
Wirklichkeit nicht getrennt vorhanden sind, sondern nur
künstlich von dem durch falsch gelenkte Ideenrichtung
verführten Verstand getrennt gedacht werden.
Deshalb stellt er der Goetheschen Geistesart, die er als eine
intuitive bezeichnet, die eigene als spekulative gegenüber
und behauptet, daß beide, wenn sie nur kraftvoll genug
wirken, zu einem gleichen Ziele führen müssen. Von
dem intuitiven Geiste nimmt Schiller an, daß er sich an
das Empirische, Individuelle halte und von da aus zu dem
Gesetze, zu der Idee aufsteige. Falls ein solcher Geist
genialisch ist, wird er in dem Empirischen das Notwendige, in
dem Individuellen die Gattung erkennen. Der spekulative Geist
dagegen soll den umgekehrten Weg machen. Ihm soll zuerst das
Gesetz, die Idee gegeben sein, und von ihr soll er zum
Empirischen und Individuellen herabsteigen. Ist ein solcher
Geist genialisch, so wird er zwar immer nur Gattungen im Auge
haben, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit
gegründeter Beziehung auf wirkliche Objekte. Die Annahme
einer besonderen Geistesart, der spekulativen gegenüber
der intuitiven, beruht auf dem Glauben, daß der Ideenwelt
ein abgesondertes ,von der Wahrnehmungswelt getrenntes Dasein
zukomme. Wäre dies der Fall, dann könnte es einen Weg
geben, auf dem der Inhalt der Ideen über die Dinge der
Wahrnehmung in den Geist käme, auch wenn ihn dieser nicht
in der Erfahrung aufsuchte. Ist aber die Ideenwelt mit der
Erfahrungswirklichkeit untrennbar verbunden, sind beide nur als
ein Ganzes vorhanden, so kann es nur eine intuitive
Erkenntnis, die in der Erfahrung die Idee aufsucht und mit dem
Individuellen zugleich die Gattung erfaßt, geben. In
Wahrheit gibt es auch keinen rein spekulativen Geist im Sinne
Schillers. Denn die Gattungen existieren nur innerhalb der
Sphäre, der auch die Individuen angehören; und der
Geist kann sie anderswo gar nicht finden. Hat ein sogenannter
spekulativer Geist wirklich Gattungsideen, so stammen diese aus
der Beobachtung der wirklichen Welt. Wenn das lebendige
Gefühl für diesen Ursprung, für den notwendigen
Zusammenhang des Gattungsmäßigen mit dem
Individuellen verloren geht, dann entsteht die Meinung, solche
Ideen können in der Vernunft auch ohne Erfahrung
entstehen. Die Bekenner dieser Meinung bezeichnen eine Summe
von abstrakten Gattungsideen als Inhalt der reinen Vernunft,
weil sie die Fäden nicht sehen, mit denen diese Ideen an
die Erfahrung gebunden sind. Eine solche Täuschung ist am
leichtesten bei den allgemeinsten, umfassendsten Ideen
möglich. Da solche Ideen weite Gebiete der Wirklichkeit
umspannen, so ist in ihnen manches ausgetilgt oder
abgeblaßt, was den zu diesem Gebiete gehörigen
Individualitäten zukommt. Man kann eine Anzahl solcher
allgemeiner Ideen durch Überlieferung in sich aufnehmen
und dann glauben, sie seien dem Menschen angeboren, oder man
habe sie aus der reinen Vernunft herausgesponnen. Ein Geist,
der einem solchen Glauben verfällt, kann sich als
spekulativ ansehen. Er wird aus seiner Ideenwelt aber nie mehr
herausholen können, als diejenigen hineingelegt haben, von
denen er sie überliefert erhalten hat. Wenn Schiller
meint, daß der spekulative Geist, wenn er genialisch ist,
«zwar immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit
des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche
Objekte» erzeugt (vgl. Schillers Brief an Goethe vom 23.
August. 1794), so ist er im Irrtum. Ein wirklich spekulativer
Geist, der nur in Gattungsbegriffen lebte, könnte in
seiner Ideenwelt keine andere gegründete Beziehung zur
Wirklichkeit finden, als diejenige, die schon in ihr liegt. Ein
Geist, der Beziehungen zur Wirklichkeit der Natur hat und sich
dennoch als spekulativ bezeichnet, ist in einer Täuschung
über seine eigene Wesenheit befangen. Diese Täuschung
kann ihn dazu verführen, seine Beziehungen zur
Wirklichkeit, zum unmittelbaren Leben zu vernachlässigen.
Er wird glauben, der unmittelbaren Beobachtung entraten zu
können, weil er andere Quellen der Wahrheit zu haben
meint. Die Folge davon ist immer, daß die Ideenwelt eines
solchen Geistes einen matten abgeblaßten Charakter
trägt. Die frischen Farben des Lebens werden seinen
Gedanken fehlen. Wer im Bunde mit der Wirklichkeit leben will,
wird aus einer solchen Gedankenwelt nicht viel gewinnen
können. Nicht als eine Geistesart, die neben der
intuitiven als gleichberechtigt anzusehen ist, kann die
spekulative gelten, sondern als eine verkümmerte, an Leben
verarmte Denkart. Der intuitive Geist hat es nicht bloß
mit Individuen zu tun, er sucht nicht in dem Empirischen
den Charakter der Notwendigkeit auf. Sondern wenn er sich der
Natur zuwendet, vereinigen sich bei ihm Wahrnehmung und Idee
unmittelbar zu einer Einheit. Beide werden ineinander geschaut
und als Ganzheit empfunden. Er kann zu den allgemeinsten
Wahrheiten, zu den höchsten Abstraktionen aufsteigen: das
unmittelbar wirkliche Leben wird in seiner Gedankenwelt immer
zu erkennen sein. Solcher Art war Goethes Denken. Heinroth hat
in seiner Anthropologie ein treffliches Wort über dieses
Denken gesprochen, das Goethe im höchsten Grade gefiel,
weil es ihn über seine Natur aufklärte. «Herr
Dr. Heinroth ... spricht von meinem Wesen und Wirken
günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine
eigentümliche: daß nämlich mein
Denkvermögen gegenständlich tätig sei,
womit er aussprechen will, daß mein Denken sich von den
Gegenständen nicht sondere; daß die Elemente der
Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von
ihm auf das innigste durchdrungen werden; daß mein
Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen
sei.» Im Grunde schildert Heinroth nichts als die Art, wie
sich jedes gesunde Denken zu den Gegenständen
verhält. Jede andere Verfahrungsart ist eine Abirrung von
dem naturgemäßen Wege. Wenn in einem Menschen die
Anschauung überwiegt, dann bleibt er an dem Individuellen
hängen; er kann nicht in die tieferen Gründe der
Wirklichkeit eindringen; wenn das abstrakte Denken in ihm
überwiegt, dann erscheinen seine Begriffe unzureichend, um
die lebendige Fülle des Wirklichen zu verstehen. Das
Extrem der ersten Abirrung stellt den rohen Empiriker dar, der
mit den individuellen Tatsachen sich begnügt; das Extrem
der andern Abirrung ist in dem Philosophen gegeben, der die
reine Vernunft anbetet und der nur denkt, ohne ein Gefühl
davon zu haben, daß Gedanken ihrem Wesen nach an
Anschauung gebunden sind. In einem schönen Bilde schildert
Goethe das Gefühl des Denkers, der zu den höchsten
Wahrheiten aufsteigt, ohne die Empfindung für die
lebendige Erfahrung zu verlieren. Er schreibt im Anfang des
Jahres 1784 einen Aufsatz über den Granit. Er versetzt
sich auf einen aus diesem Gestein bestehenden Gipfel, wo er
sich sagen kann: «Hier ruhst du unmittelbar auf einem
Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine
neuere Schicht, keine aufgehäuften, zusammengeschwemmten
Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der
Urwelt gelegt, du gehst nicht wie in jenen fruchtbaren
Tälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben
nichts Lebendiges erzeugt und nichts Lebendiges verschlungen,
sie sind vor allem Leben und über alles Leben. In diesem
Augenblicke, da die innern anziehenden und bewegenden
Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar auf mich wirken, da
die Einflüsse des Himmels mich näher umschweben,
werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur
hinaufgestimmt, und wie der Menschengeist alles belebt, so wird
auch ein Gleichnis in mir rege, dessen Erhabenheit ich nicht
widerstehen kann. So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich
diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe und kaum in der Ferne am
Fuße ein gering wachsendes Moos erblickte, so einsam, sage
ich, wird es dem Menschen zumute, der nur den ältesten,
ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele
eröffnen will. Ja, er kann zu sich sagen: Hier, auf dem
ältesten, ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der
Schöpfung gebaut ist, bring ich dem Wesen aller Wesen ein
Opfer. Ich fühle die ersten, festesten Anfänge unsers
Daseins; ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und
gelinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine
Seele wird über sich selbst und über alles erhaben
und sehnt sich nach dem nähern Himmel. Aber bald ruft die
brennende Sonne Durst und Hunger, seine menschlichen
Bedürfnisse, zurück. Er sieht sich nach jenen
Tälern um, über die sich sein Geist schon
hinausschwang.» Solchen Enthusiasmus der Erkenntnis,
solche Empfindungen für die ältesten, festen
Wahrheiten kann nur derjenige in sich entwickeln, der immer und
immer wieder aus den Regionen der Ideenwelt den Weg
zurückfindet zu den unmittelbaren Anschauungen.
Persönlichkeit und Weltanschauung
Die
Außenseite der Natur lernt der Mensch durch die Anschauung
kennen; ihre tiefer liegenden Triebkräfte enthüllen
sich in seinem eigenen Innern als subjektive Erlebnisse. In der
philosophischen Weltbetrachtung und im künstlerischen
Empfinden und Hervorbringen durchdringen die subjektiven
Erlebnisse die objektiven Anschauungen. Das wird wieder ein
Ganzes, Was sich in zwei Teile spalten mußte, um in den
menschlichen Geist einzudringen. Der Mensch befriedigt seine
höchsten geistigen Bedürfnisse, wenn er der objektiv
angeschauten Welt einverleibt, was sie in seinem Innern ihm als
ihre tieferen Geheimnisse offenbart. Erkenntnisse und
Kunsterzeugnisse sind nichts anderes, als von menschlichen
inneren Erlebnissen erfüllte Anschauungen. In dem
einfachsten Urteile über ein Ding oder Ereignis der
Außenwelt können ein menschliches Seelenerlebnis und
eine äußere Anschauung im innigen Bunde miteinander
gefunden werden. Wenn ich sage: ein Körper stößt
den andern, so habe ich bereits ein inneres Erlebnis auf die
Außenwelt übertragen. Ich sehe einen Körper in
Bewegung; er trifft auf einen andern; dieser kommt
infolgedessen auch in Bewegung. Mit diesen Worten ist der
Inhalt der Wahrnehmung erschöpft. Ich bin aber dabei nicht
beruhigt. Denn ich fühle: es ist in der ganzen Erscheinung
noch mehr vorhanden, als was die bloße Wahrnehmung
liefert. Ich greife nach einem inneren Erlebnis, das mich
über die Wahrnehmung aufklärt. Ich weiß,
daß ich selbst durch Anwendung von Kraft, durch
Stoßen, einen Körper in Bewegung versetzen kann.
Dieses Erlebnis übertrage ich auf die Erscheinung und
sage: der eine Körper stößt den andern.
«Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er
ist» (Goethe, Sprüche in Prosa. Kürschner Band
36,2, S. 353). Es gibt Menschen, die aus dem Vorhandensein
dieses subjektiven Bestandteiles in jedem Urteile über die
Außenwelt die Folgerung ziehen, daß der objektive
Wesenskern der Wirklichkeit dem Menschen unzugänglich sei.
Sie glauben, der Mensch verfälsche den unmittelbaren,
objektiven Tatbestand der Wirklichkeit, wenn er seine
subjektiven Erlebnisse in diese hineinlegt. Sie sagen: weil der
Mensch sich die Welt nur durch die Brille seines subjektiven
Lebens vorstellen kann, ist alle seine Erkenntnis nur eine
subjektive, beschränkt-menschliche. Wem es aber zum
Bewußtsein kommt, was im Innern des Menschen sich
offenbart, der wird nichts mit solchen unfruchtbaren
Behauptungen zu tun haben wollen. Er weiß, daß
Wahrheit eben dadurch zustande kommt, daß Wahrnehmung und
Idee sich im menschlichen Erkentnisprozeß durchdringen.
Ihm ist klar, daß in dem Subjektiven das eigentlichste und
tiefste Objektive lebt. «Wenn die gesunde Natur des
Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in
einem großen, schönen würdigen und werten Ganzen
fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies
Entzücken gewährt, dann würde das Weltall
wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel
gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und
Wesens bewundern.» (Kürschner, Band 27, S. 42.)
Die der bloßen Anschauung zugängliche Wirklichkeit
ist nur die eine Hälfte der ganzen Wirklichkeit; der
Inhalt des menschlichen Geistes ist die andere Hälfte.
Träte nie ein Mensch der Welt gegenüber, so käme
diese zweite Hälfte nie zur lebendigen Erscheinung, zum
vollen Dasein. Sie wirkte zwar als verborgene Kräftewelt;
aber es wäre ihr die Möglichkeit entzogen, sich in
einer eigenen Gestalt zu zeigen. Man möchte sagen, ohne
den Menschen würde die Welt ein unwahres Antlitz zeigen.
Sie wäre so, wie sie ist, durch ihre tieferen Kräfte,
aber diese tieferen Kräfte blieben selbst verhüllt
durch das, was sie wirken. Im Menschengeiste werden sie aus
ihrer Verzauberung erlöst. Der Mensch ist nicht bloß
dazu da, um sich von der fertigen Welt ein Bild zu machen;
nein, er wirkt selbst mit an dem Zustandekommen dieser
Welt.
Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei
verschiedenen Menschen. Für diejenigen, welche nicht an
die objektive Natur der Innenwelt glauben, ist das ein Grund
mehr, dem Menschen das Vermögen abzusprechen, in das Wesen
der Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen der Dinge sein, was
dem einen so, dem andern anders erscheint. Für denjenigen,
der die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt aus der
Verschiedenheit der Innenerlebnisse nur, daß die Natur
ihren reichen Inhalt auf verschiedene Weise aussprechen kann.
Dem einzelnen Menschen erscheint die Wahrheit in einem
individuellen Kleide. Sie paßt sich der Eigenart seiner
Persönlichkeit an. Besonders für die höchsten,
dem Menschen wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu
gewinnen, überträgt der Mensch seine geistigen,
intimsten Erlebnisse auf die angeschaute Welt und mit ihnen
zugleich das Eigenartigste seiner Persönlichkeit. Es gibt
auch allgemeingültige Wahrheiten, die jeder Mensch
aufnimmt, ohne ihnen eine individuelle Färbung zu geben.
Dies sind aber die oberflächlichsten, die trivialsten. Sie
entsprechen dem allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, der
bei allen der gleiche ist. Gewisse Eigenschaften, die in allen
Menschen gleich sind, erzeugen über die Dinge auch gleiche
Urteile. Die Art, wie die Menschen die Dinge nach Maß und
Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher finden alle die
gleichen mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber,
in denen sich die Einzelpersönlichkeit von dem allgemeinen
Gattungscharakter abhebt, liegt auch der Grund zu den
individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit. Nicht darauf kommt
es an, daß in dem einen Menschen die Wahrheit anders
erscheint als in dem andern, sondern darauf, daß alle zum
Vorschein kommenden individuellen Gestalten einem einzigen
Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen Welt. Die
Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene
Sprachen und Dialekte; in jedem großen Menschen spricht
sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen
Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine
Wahrheit, die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis
zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's
Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es
ist doch immer dieselbige.» Dies ist Goethes Meinung.
Nicht ein starres, totes Begriffssystem ist die Wahrheit, das
nur einer einzigen Gestalt fähig ist; sie ist ein
lebendiges Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und
das Wellen der verschiedensten Gestalt an seiner
Oberfläche zeigen kann. «Die Theorie an und für
sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den
Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht», sagt
Goethe. Er schätzt keine Theorie, die ein für allemal
abgeschlossen sein will, und in dieser Gestalt eine ewige
Wahrheit darstellen soll. Er will lebendige Begriffe, durch die
der Geist des einzelnen nach seiner individuellen Eigenart die
Anschauungen zusammenfaßt. Die Wahrheit erkennen
heißt ihm in der Wahrheit leben. Und in der
Wahrheit leben ist nichts anderes, als bei der Betrachtung
jedes einzelnen Dinges hinzusehen, welches innere Erlebnis sich
einstellt, wenn man diesem Dinge gegenübersteht. Eine
solche Ansicht von dem menschlichen Erkennen kann nicht von
Grenzen des Wissens, nicht von einer Eingeschränktheit
desselben durch die Natur des Menschen sprechen. Denn die
Fragen, die sich nach dieser Ansicht das Erkennen vorlegt,
entspringen nicht aus den Dingen; sie sind dem Menschen auch
nicht von irgend einer andern außerhalb seiner
Persönlichkeit gelegenen Macht auferlegt. Sie entspringen
aus der Natur der Persönlichkeit selbst. Wenn der Mensch
den Blick auf ein Ding richtet, dann entsteht in ihm der Drang,
mehr zu sehen, als ihm in der Wahrnehmung entgegentritt. Und so
weit dieser Drang reicht, so weit reicht sein
Erkenntnisbedürfnis. Woher stammt dieser Drang? Doch nur
davon, daß ein inneres Erlebnis sich in der Seele angeregt
fühlt, mit der Wahrnehmung eine Verbindung einzugehen.
Sobald die Verbindung vollzogen ist, ist auch das
Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Erkennen wollen ist eine
Forderung der menschlichen Natur und nicht der Dinge. Diese
können dem Menschen nicht mehr über ihr Wesen sagen,
als er ihnen abfordert. Wer von einer Beschränktheit des
Erkenntnisvermögens spricht, der weiß nicht, woher
das Erkenntnisbedürfnis stammt. Er glaubt, der Inhalt der
Wahrheit liege irgendwo aufbewahrt, und in dem Menschen lebe
nur der unbestimmte Wunsch, den Zugang zu dem Aufbewahrungsorte
zu finden. Aber es ist das Wesen der Dinge selbst, das sich aus
dem Innern des Menschen herausarbeitet und dahin strebt, wohin
es gehört: zu der Wahrnehmung. Nicht nach einem
Verborgenen strebt der Mensch im Erkenntnisprozeß, sondern
nach der Ausgleichung zweier Kräfte, die von zwei Seiten
auf ihn wirken. Man kann wohl sagen, ohne den Menschen
gäbe es keine Erkenntnis des Innern der Dinge, denn ohne
ihn wäre nichts da, wodurch dieses Innere sich aussprechen
könnte. Aber man kann nicht sagen, es gibt im Innern der
Dinge etwas, das dem Menschen unzugänglich ist. Daß
an den Dingen noch etwas anderes vorhanden ist, als was die
Wahrnehmung liefert, weiß der Mensch nur, weil dieses
andere in seinem eigenen Innern lebt. Von einem weiteren
unbekannten Etwas der Dinge sprechen, heißt Worte
über etwas machen, was nicht vorhanden ist.
*
Die
Naturen, die nicht zu erkennen vermögen, daß es die
Sprache der Dinge ist, die im Innern des Menschen gesprochen
wird, sind der Ansicht, alle Wahrheit müsse von außen
in den Menschen eindringen. Solche Naturen halten sich entweder
an die bloße Wahrnehmung und glauben, allein durch Sehen,
Hören, Tasten, durch Auflesung der geschichtlichen
Vorkommnisse und durch Vergleichen, Zählen, Rechnen,
Wägen des aus der Tatsachenwelt Aufgenommenen die Wahrheit
erkennen zu können; oder sie sind der Ansicht, daß
die Wahrheit nur zu dem Menschen kommen könne, wenn sie
ihm auf eine außerhalb des Erkennens gelegene Art
offenbart werde, oder endlich, sie wollen durch Kräfte
besonderer Natur, durch Ekstase oder mystisches Schauen in den
Besitz der höchsten Einsichten kommen, die ihnen, nach
ihrer Ansicht, die dem Denken zugängliche Ideenwelt nicht
darbieten kann. Den im Kantschen Sinne Denkenden und den
einseitigen Mystikern reihen sich noch besonders geartete
Metaphysiker an. Diese suchen zwar durch das Denken sich
Begriffe von der Wahrheit zu bilden. Aber sie suchen den Inhalt
für diese Begriffe nicht in der menschlichen Ideenwelt,
sondern in einer hinter den Dingen liegenden zweiten
Wirklichkeit. Sie meinen, durch reine Begriffe über einen
solchen Inhalt entweder etwas Sicheres ausmachen zu
können, oder wenigstens durch Hypothesen sich
Vorstellungen von ihm bilden zu können. Ich spreche hier
zunächst von der zuerst angeführten Art von Menschen,
von den Tatsachenfanatikern. Ihnen kommt es zuweilen zum
Bewußtsein, daß in dem Zählen und Rechnen
bereits eine Verarbeitung des Anschauungsinhaltes mit Hilfe des
Denkens stattfindet. Dann aber sagen sie, die Gedankenarbeit
sei bloß das Mittel, durch das der Mensch den
Zusammenhang der Tatsachen zu erkennen bestrebt ist. Was aus
dem Denken bei Bearbeitung der Außenwelt fließt, gilt
ihnen als bloß subjektiv; als objektiven Wahrheitsgehalt,
als wertvollen Erkenntnisinhalt sehen sie nur das an, was mit
Hilfe des Denkens von außen an sie herankommt. Sie fangen
zwar die Tatsachen in ihre Gedankennetze ein, lassen aber nur
das Eingefangene als objektiv gelten. Sie übersehen,
daß dieses Eingefangene durch das Denken eine Auslegung,
Zurechtrückung, eine Interpretation erfährt, die es
in der bloßen Anschauung nicht hat. Die Mathematik ist ein
Ergebnis reiner Gedankenprozesse, ihr Inhalt ist ein geistiger,
subjektiver. Und der Mechaniker, der die Naturvorgänge in
mathematischen Zusammenhängen vorstellt, kann dies nur
unter der Voraussetzung, daß diese Zusammenhänge in
dem Wesen dieser Vorgänge begründet sind. Das
heißt aber nichts anderes als: in der Anschauung ist eine
mathematische Ordnung verborgen, die nur derjenige sieht, der
die mathematischen Gesetze in seinem Geiste ausbildet. Zwischen
den mathematischen und mechanischen Anschauungen und den
intimsten geistigen Erlebnissen ist aber kein Art-, sondern nur
ein Gradunterschied. Und mit demselben Rechte wie die
Ergebnisse der mathematischen Forschung kann der Mensch andere
innere Erlebnisse, andere Gebiete seiner Ideenwelt auf die
Anschauungen übertragen. Nur scheinbar stellt der
Tatsachenfanatiker rein äußere Vorgänge fest. Er
denkt zumeist über die Ideenwelt und ihren Charakter, als
subjektives Erlebnis, nicht nach. Auch sind seine inneren
Erlebnisse inhaltsame, blutleere Abstraktionen, die von dem
kraftvollen Tatsacheninhalt verdunkelt werden. Die
Täuschung, der er sich hingibt, kann nur so lange
bestehen, als er auf der untersten Stufe der
Naturinterpretation stehen bleibt, solange er bloß
zählt, wägt, berechnet. Auf den höheren Stufen
drängt sich die wahre Natur der Erkenntnis bald auf. Man
kann es aber an den Tatsachenfanatikern beobachten, daß
sie sich vorzüglich an die unteren Stufen halten. Sie
gleichen dadurch einem Ästhetiker, der ein Musikstück
bloß danach beurteilen will, was an ihm berechnet und
gezählt werden kann. Sie wollen die Erscheinungen der
Natur von dem Menschen absondern. Nichts Subjektives soll in
die Beobachtung einfließen. Goethe verurteilt dieses
Verfahren mit den Worten: «Der Mensch an sich selbst,
insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der
größte und genaueste physikalische Apparat, den es
geben kann, und das ist eben das größte Unheil der
neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom
Menschen abgesondert hat, und bloß in dem, was
künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was
sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen
will.» Es ist die Angst vor dem Subjektiven, die zu
solcher Verfahrungsweise führt, und die aus einer
Verkennung der wahrhaften Natur desselben herrührt.
«Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß
sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn
eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr
des Musikers? Ja man kann sagen, was sind die elementarischen
Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle
erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich
einigermaßen assimilieren zu können?»
(Kürschner, Band 36, 2, S.351) Nach Goethes Ansicht soll
der Naturforscher nicht allein darauf aufmerksam sein, wie die
Dinge erscheinen, sondern wie sie erscheinen würden, wenn
alles, was in ihnen als ideelle Triebkräfte wirkt, auch
wirklich zur äußeren Erscheinung käme. Erst wenn
sich der leibliche und geistige Organismus des Menschen den
Erscheinungen gegenüberstellt, dann enthüllen sie ihr
Inneres.
Wer
mit freiem, offenem Beobachtungsgeist und mit einem
entwickelten Innenleben, in dem die Ideen der Dinge sich
offenbaren, an die Erscheinungen herantritt, dem enthüllen
diese, nach Goethes Meinung, alles, was an ihnen ist. Goethes
Weltanschauung entgegengesetzt ist daher diejenige, welche das
Wesen der Dinge nicht innerhalb der Erfahrungswirklichkeit,
sondern in einer hinter derselben liegenden zweiten
Wirklichkeit sucht. Ein Bekenner einer solchen Weltanschauung
trat Goethe in Fr. H. Jacobi entgegen. Goethe macht seinem
Unwillen in einer Bemerkung der Tag- und Jahreshefte (zum Jahre
1811) Luft: « Jacobi <Von den göttlichen
Dingen> machte mir nicht wohl; wie konnte mir das Buch eines
so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die
These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott.
Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angebotenen und
geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die
Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so
daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz
machte, mußte nicht ein so seltsamer,
einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von
dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für
ewig entfernen?» Goethes Anschauungsweise gibt ihm die
Sicherheit, daß er in der ideellen Durchdringung der Natur
ein ewig Gesetzmäßiges erlebe, und das ewig
Gesetzmäßige ist ihm mit dem Göttlichen
identisch. Wenn das Göttliche hinter den Naturdingen sich
verbergen würde und doch das schöpferische Element in
ihnen bildete, könnte es nicht angeschaut werden;
der Mensch müßte an dasselbe glauben. In einem
Briefe an Jacobi nimmt Goethe sein Schauen
gegenüber dem Glauben in Schutz:
«Gott hat Dich mit der Metaphysik gestraft und dir
einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich mit der
Physik gesegnet. Ich halte mich an die Gottesverehrung
des Atheisten (Spinoza) und überlasse Euch alles,
was ihr Religion heißt und heißen mögt. Du
hältst aufs Glauben an Gott; ich aufs
Schauen.» Wo dieses Schauen aufhört, da hat
der menschliche Geist nichts zu suchen. In den Sprüchen in
Prosa lesen wir: «Der Mensch ist wirklich in die Mitte
einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt,
daß er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche
erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunden Menschen haben
die Überzeugung ihres Daseins und eines Daseienden um sich
her. Indessen gibt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn,
d.h. eine Stelle, wo sich kein Gegenstand ab spiegelt, wie denn
auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird
der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er
sich darin, so verfällt er in eine
Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge einer andern
Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder
Gestalt noch Begrenzung haben, sondern als leere
Nacht-Räumlichkeit ängstigen und den, der sich
nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen.»
(Kürschner, Band 36, 2, S. 458.) Aus derselben Gesinnung
heraus ist der Ausspruch: «Das Höchste wäre, zu
begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die
Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der
Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen;
sie selbst sind die Lehre.»
Kant spricht dem Menschen die Fähigkeit ab, in das Gebiet
der Natur einzudringen, in dem ihre schöpferischen
Kräfte unmittelbar anschaulich werden. Nach seiner
Meinung sind die Begriffe abstrakte Einheiten, in die der
menschliche Verstand die mannigfaltigen Einzelheiten der Natur
zusammenfaßt, die aber nichts zu tun haben mit der
lebendigen Einheit, mit dem schaffenden Ganzen der
Natur, aus der diese Einzelheiten wirklich hervorgehen. Der
Mensch erlebt in dem Zusammenfassen nur eine subjektive
Operation. Er kann seine allgemeinen Begriffe auf die
empirische Anschauung beziehen; aber diese Begriffe sind nicht
in sich lebendig, produktiv, so daß der Mensch das
Hervorgehen des Individuellen aus ihnen anschauen könnte.
Eine tote, bloß im Menschen vorhandene Einheit sind
für Kant die Begriffe. «Unser Verstand ist ein
Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand,
für den es freilich zufällig sein muß,
welcherlei und wie verschieden das Besondere sein mag, das ihm
in der Natur gegeben werden, und was unter seine Begriffe
gebracht werden kann.» Dies ist Kants Charakteristik des
Verstandes (§ 77 der «Kritik der Urteilskraft»).
Aus ihr ergibt sich folgendes mit Notwendigkeit: «Es liegt
der Vernunft unendlich viel daran, den Mechanismus der Natur in
ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der
Erklärung derselben nicht vorbei zu gehen. weil ohne
diesen keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden
kann. Wenn man uns gleich einräumt: daß ein
höchster Architekt die Formen der Natur, so wie sie von je
her da sind, unmittelbar geschaffen, oder die, so sich in ihrem
Laufe kontinuierlich nach eben demselben Muster bilden,
prädeterminiert habe, so ist doch dadurch unsere
Erkenntnis der Natur nicht im mindesten gefördert; weil
wir jenes Wesens Handlungsart und die Ideen desselben,
welche die Prinzipien der Möglichkeit der Naturwesen
enthalten sollen, gar nicht kennen, und von demselben
als von oben herab (apriori) die Natur nicht erklären
können» (§ 78 der «Kritik der
Urteilskraft»). Goethe ist der Überzeugung, daß
der Mensch in seiner Ideenwelt die Handlungsart des
schöpferischen Naturwesens unmittelbar erlebt. «Wenn
wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und
Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das
erste Wesen annähern sollen: so dürfte es wohl im
Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das
Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme
an ihren Produktionen würdig machten.» Ein
wirkliches Hineinleben in das Schaffen und Walten der Natur ist
für Goethe die Erkenntnis des Menschen. Ihr ist es
gegeben: «zu erforschen, zu erfahren, wie Natur im
Schaffen lebt.»
Es
widerspricht dem Geist der Goetheschen Weltanschauung, von
Wesenheiten zu sprechen, die außerhalb der dem
menschlichen Geiste zugänglichen Erfahrungs- und Ideenwelt
liegen und die doch die Gründe dieser Welt enthalten
sollen. Alle Metaphysik wird von dieser Weltanschauung
abgelehnt. Es gibt keine Fragen der Erkenntnis, die, richtig
gestellt, nicht auch beantwortet werden können. Wenn die
Wissenschaft zu irgend einer Zeit über ein gewisses
Erscheinungsgebiet nichts ausmachen kann, so liegt das nicht an
der Natur des menschlichen Geistes, sondern an dem
zufälligen Umstande, daß die Erfahrung über
dieses Gebiet zu dieser Zeit noch nicht vollständig
vorliegt. Hypothesen können nicht über Dinge
aufgestellt werden, die außerhalb des Gebietes
möglicher Erfahrung liegen, sondern nur über solche,
die einmal in dieses Gebiet eintreten können. Eine
Hypothese kann immer nur besagen: es ist wahrscheinlich,
daß innerhalb eines Erscheinungsgebietes diese oder jene
Erfahrung gemacht werden wird. Über die Dinge und
Vorgänge, die nicht innerhalb der menschlichen sinnlichen
oder geistigen Anschauung liegen, kann innerhalb dieser
Denkungsart gar nicht gesprochen werden. Die Annahme eines
«Dinges an sich», das die Wahrnehmungen in dem
Menschen bewirkt, aber nie selbst wahrgenommen werden kann, ist
eine unstatthafte Hypothese. «Hypothesen sind
Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und
die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist; sie
sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das
Gerüste nicht für das Gebäude ansehen.»
Einem Erscheinungsgebiete gegenüber, für das alle
Wahrnehmungen vorliegen und das ideell durchdrungen ist,
erklärt sich der menschliche Geist befriedigt. Er
fühlt, daß sich in ihm ein lebendiges Zusammenklingen
von Idee und Wahrnehmung abspielt. Die befriedigende
Grundstimmung, die Goethes Weltanschauung für ihn hat, ist
derjenigen ähnlich, die man bei den Mystikern beobachten
kann. Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den
Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist
gerade so wie Goethe davon überzeugt, daß ihm in
inneren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt
manchem Mystiker die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das
innere Erlebnis, auf das es ihm ankommt. Über die klaren
Ideen der Vernunft hat mancher einseitige Mystiker
ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für
ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur und
gehören nur dem menschlichen Verstande an. Ein solcher
Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch
Entwicklung ungewöhnlicher Zustände, z. B. durch
Ekstase, zu einem Schauen höherer Art zu gelangen. Er
tötet die sinnliche Beobachtung und das
vernunftgemäße Denken in sich ab, und sucht sein
Gefühlsleben zu steigern. Dann meint er in sich die
wirkende Geistigkeit sogar als Gottheit unmittelbar zu
fühlen. Er glaubt in Augenblicken, in denen ihm das
gelingt, Gott lebe in ihm. Eine ähnliche Empfindung ruft
auch die Goethesche Weltanschauung in dem hervor, der sich zu
ihr bekennt. Nur schöpft sie ihre Erkenntnisse nicht aus
Erlebnissen, die nach Ertötung von Beobachtung und Denken
eintreten, sondern eben aus diesen beiden Tätigkeiten. Sie
flüchtet nicht zu abnormen Zuständen des menschlichen
Geisteslebens, sondern sie ist der Ansicht, daß die
gewöhnlichen naiven Verfahrungsarten des Geistes einer
solchen Vervollkommnung fähig sind, daß der Mensch
das Schaffen der Natur in sich erleben kann. «Es sind am
Ende doch nur, wie mich dünkt, die praktischen und sich
selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen
Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre
zu üben wagt.» (Vgl. Goethes Werke in der
Sophien-Ausgabe. z. Abt., Band II, S. 41) In eine Welt unklarer
Empfindungen und Gefühle versenkt sich mancher Mystiker;
in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die einseitigen
Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese
Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was
Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte
Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert einen solchen Mystiker,
wenn er sich der Ideenwelt hingibt. Er sucht einen Weltinhalt,
der Wärme ausströmt. Aber der, welchen er findet,
klärt über die Welt nicht auf. Er besteht nur in
subjektiven Erregungen, in verworrenen Vorstellungen. Wer von
der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur
denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in
der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt
in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist.
Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern.
So hat Goethe empfunden, als ihm die Anschauung der wirkenden
Natur in Italien aufging. Damals wußte er, wie jene
Sehnsucht zu stillen ist, die er in Frankfurt seinen Faust mit
den Worten aussprechen läßt:
Wo
faß' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt...
Die Metamorphose der Welterscheinungen
Den
höchsten Grad der Reife erlangte Goethes Weltanschauung,
als ihm die Anschauung der zwei großen Triebräder der
Natur: die Bedeutung der Begriffe von Polarität und
von Steigerung aufging. (Vgl. den Aufsatz:
Erläuterung zu dem Aufsatz «Die Natur».
Kürschner Band 34, S. 63 f.) Die Polarität ist den
Erscheinungen der Natur eigen, insofern wir sie materiell
denken. Sie besteht darin, daß sich alles Materielle in
zwei entgegengesetzten Zuständen äußert, wie der
Magnet in einem Nordpol und einem Südpol. Diese
Zustände der Materie liegen entweder offen vor Augen, oder
sie schlummern in dem Materiellen und können durch
geeignete Mittel in demselben erweckt werden. Die Steigerung
kommt den Erscheinungen zu, insofern wir sie geistig denken.
Sie kann beobachtet werden bei den Naturvorgängen, die
unter die Idee der Entwicklung fallen. Auf den verschiedenen
Stufen der Entwicklung zeigen diese Vorgänge die ihnen zu
Grunde liegende Idee mehr oder weniger deutlich in ihrer
äußeren Erscheinung. In der Frucht ist die Idee der
Pflanze, das vegetabilische Gesetz, nur undeutlich in der
Erscheinung ausgeprägt. Die Idee, die der Geist erkennt,
und die Wahrnehmung sind einander unähnlich. «In den
Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine
höchste Erscheinung, und die Rose wäre nur wieder der
Gipfel der Erscheinung.» In der Herausarbeitung des
Geistigen aus dem Materiellen durch die schaffende Natur
besteht das, was Goethe Steigerung nennt. Die Natur ist
«in immerstrebendem Aufsteigen» begriffen,
heißt, sie sucht Gebilde zu schaffen, die, in
aufsteigender Ordnung, die Ideen der Dinge auch in der
äußeren Erscheinung immer mehr zur Darstellung
bringen. Goethe ist der Ansicht, daß «die Natur kein
Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen
Beobachter nackt vor die Augen stellt». Die Natur
kann Erscheinungen hervorbringen, von denen sich die Ideen
für ein großes Gebiet verwandter Vorgänge
unmittelbar ablesen lassen. Es sind die Erscheinungen, in denen
die Steigerung ihr Ziel erreicht hat, in denen die Idee
unmittelbare Wahrheit wird. Der schöpferische Geist der
Natur tritt hier an die Oberfläche der Dinge; was an den
grob-materiellen Erscheinungen nur dem Denken erfaßbar
ist, was nur mit geistigen Augen geschaut werden kann: das wird
in den gesteigerten dem leiblichen Auge sichtbar. Alles
Sinnliche ist hier auch geistig und alles Geistige sinnlich.
Durchgeistigt denkt sich Goethe die ganze Natur. Ihre Formen
sind dadurch verschieden, daß der Geist in ihnen mehr oder
weniger auch äußerlich sichtbar wird. Eine tote
geistlose Materie kennt Goethe nicht. Als solche erscheinen
diejenigen Dinge, in denen sich der Geist der Natur eine seinem
ideellen Wesen unähnliche äußere Form gibt. Weil
ein Geist in der Natur und im menschlichen Innern wirkt,
deshalb kann der Mensch sich zur Teilnahme an den Produktionen
der Natur erheben. «... vom Ziegelstein, der dem Dache
entstürzt, bis zum leuchtenden Geistesblitz, der dir
aufgeht und den du mitteilst», gilt für Goethe alles
im Weltall als Wirkung, als Manifestation eines
schöpferischen Geistes. «Alle Wirkungen, von welcher
Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen
auf die stetigste Weise zusammen, gehen ineinander über;
sie undulieren von der ersten bis zur letzten.» «Ein
Ziegelstein löst sich vom Dache los: wir nennen dies im
gemeinen Sinne zufällig; er trifft die Schultern
eines Vorübergehenden doch wohl mechanisch, allein
nicht ganz mechanisch, er folgt den Gesetzen der Schwere, und
so wirkt er physisch. Die zerrissenen
Lebensgefäße geben sogleich ihre Funktion auf; im
Augenblicke wirken die Säfte chemisch, die
elementaren Eigenschaften treten hervor. Allein das
gestörte organische Leben widersetzt sich ebenso
schnell und sucht sich herzustellen; indessen ist das
menschliche Ganze mehr oder weniger bewußtlos und
psychisch zerrüttet. Die sich wiedererkennende
Person fühlt sich ethisch im tiefsten verletzt; sie
beklagt ihre gestörte Tätigkeit, von welcher Art sie
auch sei, aber ungern ergäbe der Mensch sich in Geduld.
Religiös hingegen wird ihm leicht, diesen Fall
einer höheren Schickung zuzuschreiben, ihn als Bewahrung
vor größerem Übel, als Einleitung zu
höherem Guten anzusehen. Dies reicht hin für den
Leidenden; aber der Genesende erhebt sich genial, vertraut Gott
und sich selbst und fühlt sich gerettet, ergreift auch
wohl das Zufällige, wendet's zu seinem Vorteil, um einen
ewig frischen Lebenskreis zu beginnen.» Als Modifikationen
des Geistes erscheinen Goethe alle Weltwirkungen, und der
Mensch, der sich in sie vertieft und sie beobachtet von der
Stufe des Zufälligen bis zu der des Genialen, durchlebt
die Metamorphose des Geistes von der Gestalt, in der sich
dieser in einer ihm unähnlichen äußeren
Erscheinung darstellt, bis zu der, wo er in seiner ihm
ureigensten Form erscheint. Einheitlich wirkend sind im Sinne
der Goetheschen Weltanschauung alle schöpferischen
Kräfte. Ein Ganzes, das sich in einer Stufenfolge von
verwandten Mannigfaltigkeiten offenbart, sind sie. Goethe war
aber nie geneigt, die Einheit der Welt sich als
einförmig vorzustellen. Oft verfallen die
Anhänger des Einheitsgedankens in den Fehler, die
Gesetzmäßigkeit, die sich auf einem
Erscheinungsgebiete beobachten läßt, auf die ganze
Natur auszudehnen. In diesem Falle ist z.B. die mechanistische
Weltanschauung. Sie hat ein besonderes Auge und
Verständnis für das, was sich mechanisch
erklären laßt. Deshalb erscheint ihr das Mechanische
als das einzig Naturgemäße. Sie sucht auch die
Erscheinungen der organischen Natur auf mechanische
Gesetzmäßigkeit zurückzuführen. Bin
Lebendiges ist ihr nur eine komplizierte Form des
Zusammenwirkens mechanischer Vorgänge. In besonders
abstoßender Form fand Goethe eine solche Weltanschauung in
Holbachs «Systeme de la nature» ausgesprochen, das
ihm in Straßburg in die Hände fiel. Eine Materie
sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und
sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen
Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des
Daseins hervorbringen. «Dies alles wären wir sogar
zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner
bewegten Materie die Welt vor unsern Augen aufgebaut
hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als
wir: denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt,
verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher
als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur
erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch
richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt
dadurch recht viel gewonnen zu haben. »(Dichtung und
Wahrheit, II. Buch.) In ähnlicher Weise hätte sich
Goethe geäußert, wenn er den Satz Du Bois-Reymonds
(«Grenzen des Naturerkennens», S.13) hätte
hören können: «Naturerkennen ... ist
Zurückführung der Veränderungen in der
Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von
der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden,
oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik
der Atome.» Goethe dachte sich die Arten von
Naturwirkungen miteinander verwandt und ineinander
übergehend; aber er wollte sie nie auf eine einzige Art
zurückführen. Er trachtete nicht nach einem
abstrakten Prinzip, auf das alle Naturerscheinungen
zurückgeführt werden sollen, sondern nach Beobachtung
der charakteristischen Art, wie sich die schöpferische
Natur in jedem einzelnen ihrer Erscheinungsgebiete durch
besondere Formen ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit
offenbart. Nicht eine Gedankenform wollte er
sämtlichen Naturerscheinungen aufzwängen, sondern
durch Einleben in verschiedene Gedankenformen wollte er sich
den Geist so lebendig und biegsam erhalten, wie die Natur
selbst ist. Wenn die Empfindung von der großen Einheit
alles Naturwirkens in ihm mächtig war, dann war er
Pantheist. «Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen
Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben;
als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist als
Naturforscher, und eines so entschieden als das andere. Bedarf
ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als
sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt.»
(An Jacobi, 6. Jan. 1813.) Als Künstler wandte sich Goethe
an jene Naturerscheinungen, in denen die Idee in unmittelbarer
Anschauung gegenwärtig ist. Das Einzelne erschien hier
unmittelbar göttlich; die Welt als eine Vielheit
göttlicher Individualitäten. Als Naturforscher
mußte Goethe auch in den Erscheinungen, deren Idee nicht
in ihrem individuellen Dasein sichtbar wird, die Kräfte
der Natur verfolgen. Als Dichter konnte er sich bei der
Vielheit des Göttlichen beruhigen; als Naturforscher
mußte er die einheitlich wirkenden Naturideen suchen.
«Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der
größten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen,
bringt das Objektiv-Schöne hervor, welches freilich
würdige Subjekte finden muß, von denen es
aufgefaßt wird.» Dieses Objektiv-Schöne im
einzelnen Geschöpf will Goethe als Künstler
anschauen; aber als Naturforscher will er «die Gesetze
kennen, nach welchen die allgemeine Natur handeln will».
Polytheismus ist die Denkweise, die in dem Einzelnen ein
Geistiges sieht und verehrt; Pantheismus die andere, die den
Geist des Ganzen erfaßt. Beide Denkweisen können
nebeneinander bestehen; die eine oder die andere macht sich
geltend, je nachdem der Blick auf das Naturganze gerichtet ist,
das Leben und Folge ist aus einem Mittelpunkte, oder auf
diejenigen Individuen, in denen die Natur in einer Form
vereinigt, was sie in der Regel über ein ganzes Reich
ausbreitet. Solche Formen entstehen, wenn z.B. die
schöpferischen Naturkräfte nach
«tausendfältigen Pflanzen», noch eine machen,
worin «alle übrigen enthalten», oder «nach
tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle
enthält: den Menschen».
*
Goethe macht einmal die Bemerkung: «Wer sie (meine
Schriften) und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt,
wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere
Freiheit gewonnen.» (Unterhaltungen mit dem Kanzler von
Müller, . Jan.1831.) Damit hat er auf die wirkende Kraft
hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnisstreben
geltend macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die
Gegensätze um sich her wahrzunehmen und ihre Gesetze als
ihnen eingepflanzte Prinzipien zu betrachten, von denen sie
beherrscht werden, hat er das Gefühl, daß sie ihm als
unbekannte Mächte gegenüberstehen, die auf ihn wirken
und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdrängen. Er
fühlt sich den Dingen gegenüber unfrei; er empfindet
die Gesetzmäßigkeit der Natur als starre
Notwendigkeit, der er sich zu fügen hat. Erst wenn der
Mensch gewahr wird, daß die Naturkräfte nichts
anderes sind als Formen desselben Geistes, der auch in ihm
selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, daß er der
Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit wird nur so
lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt
ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man
sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern
betätigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes
Element beim Werden und Wesen der Dinge. Man ist Du und Du mit
aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Tun das aufgenommen,
was man sonst nur als äußeren Antrieb empfindet. Dies
ist der Befreiungs-Prozeß, den im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die
Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den
italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare
Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das
Innehaben dieser Ideen auf den Menschen ausübt. Eine Folge
dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen
Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister
bezeichnet. «Die Umfassenden, die man in einem stolzern
Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im
höchsten Sinne produktiv; indem sie nämlich von Ideen
ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und
es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in
diese Idee zu fügen.» Zu der unmittelbaren
Anschauung des Befreiungsaktes hat es aber Goethe nie gebracht.
Diese Anschauung kann nur derjenige haben, der sich selbst in
seinem Erkennen belauscht. Goethe hat zwar die höchste
Erkenntnisart ausgeübt; aber er hat diese Erkenntnisart
nicht an sich beobachtet. Gesteht er doch selbst:
«Wie hast du's denn so weit gebracht?
Sie
sagen, du habest es gut vollbracht!»
Mein
Kind! Ich hab' es klug gemacht;
Ich
habe nie über das Denken gedacht.
Aber so wie die schöpferischen Naturkräfte «nach
tausendfältigen Pflanzen» noch eine machen, worin
« alle übrigen enthalten» sind, so bringen sie
auch nach tausendfältigen Ideen noch eine hervor, worin
die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfaßt
der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und
Vorgänge auch diejenige des Denkens fügt. Eben weil
Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung
erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein
Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen,
das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die
Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des
Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken
und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht.
Sonst wäre er zur Einsicht gelangt, daß man gerade im
Sinne seiner Weltanschauung es wohl ablehnen könne,
über das Denken zu denken, daß man aber doch zu einer
Anschauung der Gedankenwelt kommen könne. An dem
Zustandekommen aller übrigen Anschauungen ist der Mensch
unbeteiligt. In ihm leben die Ideen dieser Anschauungen auf.
Diese Ideen würden aber nicht da sein, wenn in ihm nicht
die produktive Kraft vorhanden wäre, sie zur Erscheinung
zu bringen. Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind, was in
den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie
durch die menschliche Tätigkeit. Die eigene Natur der
Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine
Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung
durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt
wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In
der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in
seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos
in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint
nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist
jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst
Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der
Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das
Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses
Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee
selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist
hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der
Ideenwelt. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende
Tätigkeit anschaut, fühlt die Freiheit. Goethe hat
diese Empfindung zwar erlebt, aber nicht in der
höchsten Form ausgesprochen. Er übte in seiner
Naturbetrachtung eine freie Tätigkeit; aber sie wurde ihm
nie gegenständlich. Er hat nie hinter die Kulissen des
menschlichen Erkennens geschaut und deshalb die Idee des
Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner
höchsten Metamorphose nie in sein Bewußtsein
aufgenommen. Sobald der Mensch zur Anschauung dieser
Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge.
Er hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den
wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen. Er
wird nicht mehr nach unbekannten Gründen, nach außer
ihm liegenden Ursachen der Dinge forschen; er weiß,
daß das höchste Erlebnis, dessen er fähig ist,
in der Selbstbetrachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer
ganz durchdrungen ist von den Gefühlen, die dieses
Erlebnis hervorruft, der wird die wahrsten Verhältnisse zu
den Dingen gewinnen. Bei wem das nicht der Fall ist, der wird
die höchste Form des Daseins anderswo suchen, und, da er
sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem unbekannten
Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung der Dinge
wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der
Beantwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt,
fortwährend auf ein Unerforschliches berufen. Weil Goethe
durch sein Leben in der Ideenwelt ein Gefühl hatte
von dem festen Mittelpunkt, innerhalb der Persönlichkeit,
ist es ihm gelungen, innerhalb bestimmter Grenzen im
Naturbetrachten zu sicheren Begriffen zu kommen. Weil ihm aber
die unmittelbare Anschauung des innersten Erlebnisses abging,
tastet er außer halb dieser Grenzen unsicher umher. Er
redet aus diesem Grunde davon, daß der Mensch nicht
geboren sei, die « Probleme der Welt zu lösen, wohl
aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der
Grenze des Begreiflichen zu halten». Er sagt: «Kant
hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen
zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei,
und daß er die unauflöslichen Probleme liegen
ließ.» Hätte ihm die Anschauung des
höchsten Erlebnisses Sicherheit in der Betrachtung der
Dinge gegeben, so hätte er auf seinem Wege mehr gekonnt
als «durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter
Zuverlässigkeit gelangen». Statt geradewegs durch die
Erfahrung durchzuschreiten in dem Bewußtsein, daß das
Wahre nur eine Bedeutung hat, insoweit es von der menschlichen
Natur gefordert wird, gelangt er doch zu der Überzeugung,
daß « ein höherer Einfluß die
Standhaften, die Tätigen, die Verständigen, die
Geregelten und Regelnden, die Menschlichen, die Frommen»
begünstige, und daß sich «die moralische
Weltordnung» am schönsten da zeige, wo sie «dem
Guten, dem wacker Leidenden mittelbar zu Hilfe kommt».
*
Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war
es ihm unmöglich, zu den letzten Gedanken über die
sittliche Weltordnung zu gelangen, die zu seiner
Naturanschauung notwendig gehören. Die Ideen der Dinge
sind der Inhalt des in den Dingen Wirksamen und Schaffenden.
Die sittlichen Ideen erlebt der Mensch unmittelbar in der
Ideenform. Wer zu erleben imstande ist, wie in der Anschauung
der Ideenwelt das Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit
sich selbst erfüllt, der ist auch in der Lage, die
Produktion des Sittlichen innerhalb der menschlichen Natur zu
erleben. Wer die Naturideen nur in ihrem Verhältnis zu der
Anschauungswelt kennt, der wird auch die sittlichen Begriffe
auf etwas ihnen Äußeres beziehen wollen. Er wird eine
ähnliche Wirklichkeit für diese Begriffe suchen, wie
sie für die aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe
vorhanden ist. Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit
anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr,
daß nichts Äußeres ihnen entspricht, daß
sie unmittelbar im Geist-Erleben als Ideen produziert werden.
Ihm ist klar, daß weder ein nur äußerlich
wirkender göttlicher Wille, noch eine solche sittliche
Weltordnung wirksam sind, um diese Ideen zu erzeugen. Denn es
ist in ihnen nichts von einem Bezug auf solche Gewalten zu
bemerken. Alles was sie aussprechen, ist in ihrer geistig
erlebten reinen Ideenform auch eingeschlossen. Nur durch ihren
eigenen Inhalt wirken sie auf den Menschen als sittliche
Mächte. Kein kategorischer Imperativ steht mit der
Peitsche hinter ihnen und drängt den Menschen, ihnen zu
folgen. Der Mensch empfindet, daß er sie selbst
hervorgebracht hat und liebt sie, wie man sein Kind liebt. Die
Liebe ist das Motiv des Handelns. Die geistige Lust am eigenen
Erzeugnis ist der Quell des Sittlichen.
Es
gibt Menschen, die keine sittlichen Ideen zu produzieren
vermögen. Sie nehmen diejenigen anderer Menschen durch
Überlieferung in sich auf. Und wenn sie kein
Anschauungsvermögen für Ideen als solche haben,
erkennen sie den im Geiste erlebbaren Ursprung des Sittlichen
nicht. Sie suchen ihn in einem übermenschlichen, ihnen
äußerlichen Willen. Oder sie glauben, daß eine
außerhalb der menschlich erlebten Geistwelt bestehende
objektive sittliche Weltordnung bestehe, aus der die
moralischen Ideen stammen. In dem Gewissen des Menschen wird
oft das Sprachorgan dieser Weltordnung gesucht. Wie über
gewisse Dinge seiner übrigen Weltanschauung ist Goethe
auch in seinen Gedanken über den Ursprung des Sittlichen
unsicher. Auch hier treibt sein Gefühl für das
Ideengemäße Sätze hervor, die den Forderungen
seiner Natur gemäß sind. «Pflicht: wo man liebt,
was man sich selbst befiehlt.» Nur wer die Gründe des
Sittlichen rein in dem Inhalt der sittlichen Ideen sieht,
sollte sagen: «Lessing, der mancherlei Beschränkung
unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen
sagen: niemand muß müssen. Ein geistreicher,
frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muß. Ein
dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: Wer
einsieht, der will auch. Und so glaubte man den ganzen
Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu
haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis des
Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Tun und Lassen;
deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit
handeln zu sehen.» Daß in Goethe ein Gefühl
für die echte Natur des Sittlichen herrscht, welches sich
nur nicht zur klaren Anschauung erhebt, zeigt folgender
Ausspruch: «Der Wille muß, um vollkommen zu werden,
sich im Sittlichen dem Gewissen, das nicht irrt ... fügen
... Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, mit ihm ist
alles gegeben; es hat nur mit der innern eigenen Welt zu
tun.» Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, kann nur
heißen: der Mensch findet in sich keinen sittlichen Inhalt
ursprünglich vor; er gibt sich ihn selbst. Diesen
Aussprüchen stehen andere gegenüber, die den Ursprung
des Sittlichen in ein Gebiet außerhalb des Menschen
verlegen: «Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht
mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den
Blick sehnend zum Himmel auf... weil er es tief und klar in
sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen
Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen, noch
aufzugeben vermögen.» «Was gar nicht
aufzulösen ist, überlassen wir Gott als dem
allbedingenden und allbefreienden Wesen.»
*
Für die Betrachtung der innersten Menschennatur, für
die Selbstbeschauung fehlt Goethe das Organ. «Hierbei
bekenne ich, daß mir von jeher die große und so
bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer
verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter
Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen
verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt
zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollten.
Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt,
die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue
Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns
auf» Davon ist gerade das Umgekehrte wahr: der Mensch
kennt die Welt nur, insofern er sich kennt. Denn in seinem
Innern offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den
Außendingen nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol als
Anschauung vorhanden ist. Wovon der Mensch sonst nur als von
einem Unergründlichen, Unerforschlichen, Göttlichen
sprechen kann: das tritt ihm in der Selbstanschauung in wahrer
Gestalt vor Augen. Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle
in unmittelbarer Gestalt sieht, gewinnt er die Kraft und
Fähigkeit, dieses Ideelle auch in aller äußeren
Erscheinung, in der ganzen Natur aufzusuchen und anzuerkennen.
Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat, denkt nicht
mehr daran, hinter den Erscheinungen einen
«verborgenen» Gott zu suchen: er ergreift das
Göttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der
Natur. Goethe bemerkte in Beziehung auf Schelling: «Ich
würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf
poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei
mir die Poesie, und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt
treibt, indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann,
sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muß
und deshalb gleich in die Natur hinaus fliehe.» Die
höchste Anschauung, die Anschauung der Ideenwelt selbst,
hat er eben nicht finden können. Sie kann die Poesie nicht
zerstören, denn sie befreit den Geist nur von allen
Vermutungen, daß in der Natur ein Unbekanntes,
Unergründliches sein könne. Dafür aber macht sie
ihn fähig, sich unbefangen ganz den Dingen hinzugeben;
denn sie gibt ihm die Überzeugung, daß aus der Natur
alles zu entnehmen ist, was der Geist von ihr nur wünschen
kann.
Die
höchste Anschauung befreit aber den Menschengeist auch von
allem einseitigen Abhängigkeitsgefühl. Er fühlt
sich durch ihren Besitz souverän im Reiche der sittlichen
Weltordnung. Er weiß, daß die Triebkraft, die alles
hervorbringt, in seinem Innern als in seinem eigenen Willen
wirkt, und daß die höchsten Entscheidungen über
Sittliches in ihm selbst liegen. Denn diese höchsten
Entscheidungen fließen aus der Welt der sittlichen Ideen,
bei deren Produktion die Seele des Menschen anwesend ist. Mag
der Mensch im einzelnen sich beschränkt fühlen, mag
er auch von tausend Dingen abhängig sein; im ganzen gibt
er sich sein sittliches Ziel und seine sittliche Richtung. Das
Wirksame aller übrigen Dinge kommt im Menschen als Idee
zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er
selbst hervorbringt. In jeder einzelnen menschlichen
Individualität vollzieht sich der Prozeß, der im
Ganzen der Natur sich abspielt: die Schöpfung eines
Tatsächlichen aus der Idee heraus. Und der Mensch selbst
ist der Schöpfer. Denn auf dem Grunde seiner
Persönlichkeit lebt die Idee, die sich selbst einen Inhalt
gibt. Über Goethe hinausgehend, muß man seinen Satz
erweitern, die Natur sei «in dem Reichtum der
Schöpfung so groß, nach tausendfältigen Pflanzen
eine zu machen, worin alle übrigen enthalten sind,
und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie
alle enthält, den Menschen». Die Natur ist in ihrer
Schöpfung so groß, daß sie den Prozeß,
durch den sie frei aus der Idee heraus alle Geschöpfe
hervorbringt, in jedem Menschenindividuum wiederholt, indem die
sittlichen Handlungen aus dem ideellen Grunde der
Persönlichkeit entspringen. Was der Mensch auch als
objektiven Grund seines Handelns empfindet, es ist alles nur
Umschreibung und zugleich Verkennung seiner eigenen Wesenheit.
Sich selbst realisiert der Mensch in seinem sittlichen Handeln.
In lapidaren Sätzen hat Max Stirner diese Erkenntnis in
seiner Schrift «Der Einzige und sein Eigentum»
ausgesprochen. «Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin
es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im
Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein
schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren
wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei
es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit
und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins.
Stell' ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie
auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer
seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab'
mein Sach' auf Nichts gestellt.» Aber zugleich darf der
Mensch zu diesem Stirnerschen Geist, wie Faust zu
Mephistopheles sagen: «In deinem Nichts hoff' ich das All
zu finden», denn in meinem Innern wohnt in individueller
Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All
schafft. So lange der Mensch in sich diese Wirkungskraft nicht
geschaut hat, wird er sich ihr gegenüber erscheinen wie
Faust dem Erdgeist gegenüber. Sie wird ihm stets die Worte
zurufen: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht
mir!» Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens zaubert
diesen Geist hervor, der von sich sagt:
In
Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Ich
habe in meiner «Philosophie der Freiheit»
darzustellen versucht, wie die Erkenntnis, daß der Mensch
in seinem Tun auf sich selbst gestellt ist, hervorgeht aus dem
innersten Erlebnis, aus der Anschauung der eigenen Wesenheit.
Stirner hat 1844 die Ansicht verteidigt, daß der Mensch,
wenn er sich wahrhaft versteht, nur in sich selbst den Grund
für seine Wirksamkeit sehen könne. Bei ihm geht aber
diese Erkenntnis nicht aus der Anschauung des innersten
Erlebnisses, sondern aus dem Gefühle der Freiheit
und Ungebundenheit gegenüber allen Zwang heischenden
Weltmächten hervor. Stirner bleibt bei der
Forderung der Freiheit stehen; er wird auf diesem
Gebiete zu der denkbar schroffsten Betonung der auf sich selbst
gestellten Menschennatur geführt. Ich versuche auf
breiterer Basis das Leben in der Freiheit zu schildern, indem
ich zeige, was der Mensch erblickt, wenn er auf den Grund
seiner Seele sieht. Goethe ist bis zu der Anschauung der
Freiheit nicht gekommen, weil er eine Abneigung gegen die
Selbsterkenntnis hatte. Wäre das nicht der Fall gewesen,
so hätte die Erkenntnis des Menschen als einer freien, auf
sich selbst gegründeten Persönlichkeit die Spitze
seiner Weltanschauung bilden müssen. Die Keime zu dieser
Erkenntnis treten uns bei ihm überall entgegen; sie sind
zugleich die Keime seiner Naturansicht. Innerhalb seiner
eigentlichen Naturstudien spricht Goethe nirgends von
unerforschlichen Gründen, von verborgenen
Triebkräften der Erscheinungen. Er begnügt sich
damit, die Erscheinungen in ihrer Folge zu beobachten und sie
mit Hilfe derjenigen Elemente zu erklären, die sich den
Sinnen und dem Geiste bei der Beobachtung offenbaren. Am 5. Mai
1786 schreibt er in diesem Sinne an Jacobi, daß er den Mut
habe, sein «ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu
widmen, die er reichen» und von deren Wesenheit er sich
« eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann»,
ohne sich im mindesten zu bekümmern, wie weit er kommen
werde und was ihm zugeschnitten ist. Wer sich dem
Göttlichen in dem einzelnen Naturdinge zu nähern
glaubt, der braucht sich nicht mehr eine besondere Vorstellung
von einem Gotte zu bilden, der außer und neben den Dingen
existiert. Nur wenn Goethe das Gebiet der Natur
verläßt, dann hält auch sein Gefühl
für die Wesenheit der Dinge nicht mehr stand. Dann
führt ihn der Mangel an menschlicher Selbsterkenntnis zu
Behauptungen, die weder mit seiner ihm angeborenen Denkweise,
noch mit der Richtung seiner Naturstudien zu vereinigen sind.
Wer Neigung hat, sich auf solche Behauptungen zu berufen, der
mag annehmen, daß Goethe an einen menschenähnlichen
Gott und eine individuelle Fortdauer derjenigen Lebensform der
Seele geglaubt hat, die an die Bedingungen der physischen
Leibesorganisation gebunden ist. Mit Goethes Naturstudien steht
ein solcher Glaube im Widerspruch. Sie hätten nie die
Richtung nehmen können, die sie genommen haben, wenn sich
Goethe bei ihnen von diesem Glauben hätte bestimmen
lassen. Im Sinne seiner Naturstudien liegt es durchaus, das
Wesen der menschlichen Seele so zu denken, daß diese nach
der Ablegung des Leibes in einer übersinnlichen
Daseinsform lebt. Diese Daseinsform bedingt, daß ihr durch
die andern Lebensbedingungen auch eine andere
Bewußtseinsart eigen wird als die ist, die sie durch den
physischen Leib hat. So führt die Goethesche
Metamorphosenlehre auch zu der Anschauung von Metamorphosen des
Seelenlebens. Aber man wird diese Goethesche
Unsterblichkeitsidee nur recht ins Auge fassen können,
wenn man weiß, daß Goethe zu einer
unmetamorphosierten Fortsetzung desjenigen Geisteslebens, das
durch den physischen Leib bedingt ist, durch seine
Weltanschauung nicht hat geführt werden können. Weil
Goethe in dem hier angedeuteten Sinn eine Anschauung des
Gedankenlebens nicht versuchte, wurde er auch im Fortgang
seiner Lebensführung nicht dazu veranlaßt, diejenige
Unsterblichkeitsidee besonders auszugestalten, welche die
Fortsetzung seiner Metamorphosengedanken wäre.
Diese Idee aber wäre in Wahrheit dasjenige, was in
Bezug auf dieses Erkenntnisgebiet aus seiner Weltanschauung
folgte. Was er im Hinblick auf die Lebensansicht dieses oder
jenes Zeitgenossen, oder aus anderer Veranlassung als Ausdruck
einer persönlichen Empfindung gab, ohne dabei an den
Zusammenhang mit seiner an den Naturstudien gewonnenen
Weltanschauung zu denken, darf nicht als charakteristisch
für Goethes Unsterblichkeitsidee angeführt
werden.
Für die Wertung eines Goetheschen Ausspruches im
Gesamtbilde seiner Weltanschauung kommt auch in Betracht,
daß die Stimmung seiner Seele in seinen verschiedenen
Lebensaltern solchen Aussprüchen besondere Nuancen gibt.
Dieses Wandels in der Ausdrucksform seiner Ideen war er sich
voll bewußt. Als Förster die Ansicht aussprach, die
Lösung des Faust-Problems werde sich aus dem Worte
ergeben: «Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist
sich des rechten Weges wohl bewußt» entgegnete
Goethe:
«Das wäre ja Aufklärung: Faust endet als Greis,
und im Greisenalter werden wir Mystiker»(aus Försters
Nachlaß, S.216). Und in den Prosasprüchen lesen wir:
«Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse
Philosophie. Das Kind erscheint als Realist; denn es findet
sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel
als von dem seinigen. Der Jüngling, von inneren
Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken,
sich vorfühlen, er wird zum Idealisten umgewandelt.
Dagegen ein Skeptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er
tut wohl zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke
gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im
Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu
erhalten, damit er nicht nachher sich über eine falsche
Wahl zu betrüben habe. Der Greis jedoch wird sich immer
zum Mystizismus bekennen; er sieht, daß so vieles vom
Zufall abzuhängen scheint; das Unvernünftige gelingt,
das Vernünftige schlägt fehl, Glück und
Unglück stellen sich unerwartet ins gleiche; so ist es, so
war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist,
der da war und der da sein wird» (Kürschner, Band
36,2 S. 454).
Ich
habe in dieser Schrift die Weltanschauung Goethes im Auge, aus
der seine Einsichten in das Leben der Natur hervorgewachsen
sind und welche die treibende Kraft in ihm war von der
Entdeckung des Zwischenknochens beim Menschen bis zur
Vollendung der Farbenlehre. Und ich glaube gezeigt zu haben,
daß diese Weltanschauung vollkommener der
Gesamtpersönlichkeit Goethes entspricht, als die
Zusammenstellung von Aussprüchen, bei denen man vor allem
Rücksicht nehmen müßte, wie solche Gedanken
gefärbt sind, durch die Stimmung seiner Jugend- oder
seiner Altersepoche. Ich glaube, Goethe hat in seinen
Naturstudien, wenn auch nicht geleitet von einer klaren,
ideengemäßen Selbsterkenntnis, so doch von einem
richtigen Gefühle, eine freie, aus dem wahren
Verhältnis der menschlichen Natur zur Außenwelt
fließende Verfahrungsweise beobachtet. Goethe ist sich
selbst darüber klar, daß in seiner Denkweise etwas
Unvollendetes liegt: «Ich war mir edler, großer
Zwecke bewußt, konnte aber niemals die Bedingungen
begreifen, unter denen ich wirkte; was mir mangelte, merkte
ich wohl, was an mir zu viel sei, gleichfalls; deshalb
unterließ ich nicht mich zu bilden, nach außen und
von innen. Und doch blieb es beim alten. Ich verfolgte jeden
Zweck mit Ernst, Gewalt und Treue; dabei gelang mir oft,
widerspenstige Bedingungen vollkommen zu überwinden, oft
aber auch scheiterte ich daran, weil ich nachgeben und umgehen
nicht lernen konnte. Und so ging mein Leben hin unter Tun und
Genießen, Leiden und Widerstreben, unter Liebe,
Zufriedenheit, Haß und Mißfallen anderer. Hieran
spiegele sich, dem das gleiche Schicksal geworden.»
Die
Anschauungen über Natur und Entwicklung der Lebewesen
Die Metamorphosenlehre
Man
kann Goethes Verhältnis zu den Naturwissenschaften nicht
verstehen, wenn man sich bloß an die Einzelentdeckungen
hält, die er gemacht hat. Ich sehe als leitenden
Gesichtspunkt für die Betrachtung dieses
Verhältnisses die Worte an, die Goethe am 18. August 1787
von Italien aus an Knebel gerichtet hat: «Nach dem, was
ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen
habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger
wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu
machen, nicht um etwas Neues zu entdecken, sondern um das
Entdeckte nach meiner Art anzusehen.» Auf die Art, wie
Goethe die ihm bekannten Naturerscheinungen in einer seiner
Denkungsart gemäßen Naturansicht zusammengefaßt
hat, scheint es mir anzukommen. Wenn alle die
Einzelentdeckungen, die ihm gelungen sind, schon vor ihm
gemacht gewesen wären, und er uns nichts als seine
Naturansicht gegeben hätte, so schmälerte dies
die Bedeutung seiner Naturstudien nicht im geringsten. Ich bin
mit Du Bois-Reymond einer Meinung darüber, daß «
auch ohne Goethe die Wissenschaft überhaupt so weit
wäre, wie sie ist», daß die ihm gelungenen
Schritte früher oder später andere getan hätten.
(Goethe und kein Ende, S.1) Ich kann diese Worte nur nicht, wie
es Du Bois-Reymond tut, auf den ganzen Umfang von Goethes
naturwissenschaftlichen Arbeiten beziehen. Ich beschränke
sie auf die in ihrem Verlaufe gemachten Einzelentdeckungen.
Keine einzige derselben würde uns wahrscheinlich heute
fehlen, wenn Goethe sich nie mit Botanik, mit Anatomie usw.
beschäftigt hätte. Seine Naturansicht aber ist ein
Ausfluß seiner Persönlichkeit; kein anderer
hätte zu ihr kommen können. Ihn interessierten auch
nicht die Einzelentdeckungen. Sie drängten sich ihm
während seiner Studien von selbst auf, weil über die
Tatsachen, die sie betreffen, zu seiner Zeit Ansichten Geltung
hatten, die unvereinbar mit seiner Art, die Dinge zu
betrachten, waren. Hätte er mit dem, was die
Naturwissenschaft ihm überlieferte, seine Anschauung
aufbauen können: so würde er sich nie mit
Detailstudien beschäftigt haben. Er mußte ins
Einzelne gehen, weil das, was ihm über das Einzelne von
den Naturforschern gesagt wurde, seinen Forderungen nicht
entsprach. Und nur wie zufällig ergaben sich bei diesen
Detailstudien die Einzelentdeckungen. Ihn beschäftigte
zunächst nicht die Frage: ob der Mensch wie die
übrigen Tiere einen Zwischenkieferknochen in der oberen
Kinnlade habe. Er wollte den Plan entdecken, nach dem die Natur
die Stufenfolge der Tiere und auf der Höhe dieser
Stufenfolge den Menschen bildet. Das gemeinsame Urbild, das
allen Tiergattungen und zuletzt in seiner höchsten
Vollkommenheit auch der Menschengattung zu Grunde liegt, wollte
er finden. Die Naturforscher sagten ihm: es besteht ein
Unterschied im Bau des tierischen und des menschlichen
Körpers. Die Tiere haben in der oberen Kinnlade den
Zwischenknochen, der Mensch habe ihn nicht. Seine Ansicht war,
daß sich der menschliche physische Bau nur dem Grade der
Vollkommenheit nach von dem tierischen unterscheiden
könne, nicht aber in Einzelheiten. Denn, wenn das letztere
der Fall wäre, könnte nicht ein gemeinsames Urbild
der tierischen und der menschlichen Organisation zu Grunde
liegen. Er konnte mit der Behauptung der Naturforscher nichts
anfangen. Deshalb suchte er nach dem Zwischenknochen bei dem
Menschen und fand ihn. Ähnliches ist bei allen seinen
Einzelentdeckungen zu beobachten. Sie sind ihm nie Selbstzweck.
Sie müssen gemacht werden, um seine Vorstellungen
über die Naturerscheinungen als berechtigt erscheinen zu
lassen.
Im
Gebiete der organischen Naturerscheinungen ist das Bedeutsame
in Goethes Ansicht die Vorstellung, die er vom Wesen des
Lebens aus bildete. Nicht auf die Betonung der Tatsache,
daß Blatt, Kelch, Krone usw. Organe an der Pflanze sind,
die miteinander identisch sind, und sich aus einem
gemeinschaftlichen Grundgebilde entwickeln, kommt es an.
Sondern darauf, welche Vorstellung Goethe von dem Ganzen der
Pflanzennatur als einem Lebendigen hatte und wie er sich das
Einzelne aus diesem Ganzen hervorgehend dachte. Seine Idee von
dem Wesen des Organismus ist seine ureigenste zentrale
Entdeckung im Gebiete der Biologie zu nennen. Daß sich in
der Pflanze, in dem Tiere etwas anschauen lasse, was der
bloßen Sinnenbeobachtung nicht zugänglich ist, war
Goethes Grundüberzeugung. Was das leibliche Auge an dem
Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur die Folge zu
sein des lebendigen Ganzen durcheinander wirkender
Bildungsgesetze, die dem geistigen Auge allein
zugänglich sind. Was er mit dem geistigen Auge an der
Pflanze, an dem Tier erschaut, das hat er beschrieben. Nur wer
ebenso wie er zu sehen fähig ist, kann seine Idee von dem
Wesen des Organismus nachdenken. Wer bei dem stehen bleibt, was
die Sinne und das Experiment liefern, der kann Goethe nicht
verstehen. Wenn wir seine beiden Gedichte lesen «Die
Metamorphose der Pflanzen» und «Die Metamorphose der
Tiere», so scheint es zunächst, als ob die Worte uns
nur von einem Glied des Organismus zum andern führten, als
ob bloß äußerlich Tatsächliches
verknüpft werden sollte. Wenn wir uns aber durchdringen
mit dem, was Goethe als Idee des Lebewesens vorschwebt, dann
fühlen wir uns in die Sphäre des Lebendig-Organischen
versetzt, und aus einer zentralen Vorstellung wachsen die
Vorstellungen über die einzelnen Organe hervor.
*
Als
Goethe anfing, selbständig über die Erscheinungen der
Natur nachzusinnen, nahm vor allem andern der Begriff des
Lebens seine Aufmerksamkeit in Anspruch. In einem Briefe
aus der Straßburger Zeit vom 14. Juli 1770 schreibt er von
einem Schmetterling: «Das arme Tier zittert im Netz,
streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ja
unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos
da; der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch
etwas dazu, noch ein Hauptstück, und bei der Gelegenheit,
wie bei jeder andern, ein sehr hauptsächliches
Hauptstück: das Leben.-» Daß ein
Organismus nicht wie ein totes Naturprodukt betrachtet werden
kann, daß noch mehr darin steckt als die Kräfte, die
auch in der unorganischen Natur leben, war Goethe von
vornherein klar. Wenn Du Bois-Reymond meint, daß «die
rein mechanische Weltkonstruktion, welche heute die
Wissenschaft ausmacht, dem Weimarschen Dichterfürsten
nicht minder verhaßt gewesen wäre, als einst
Friederikens Freund das 9systeme de la nature:», so hat er
unzweifelhaft Recht; und nicht minder hat er Recht mit den
andern Worten: von dieser Weltkonstruktion, die «durch die
Urzeugung an die Kant-Laplace'sche Theorie grenzt, von der
Entstehung des Menschen aus dem Chaos durch das von Ewigkeit
zu Ewigkeit mathematisch bestimmte Spiel der Atome, von dem
eisigen Weltende - von diesen Bildern, welche unser Geschlecht
so unfühlend ins Auge faßt, wie es an die
Schrecknisse des Eisenbahnfahrens sich gewöhnte -
hätte Goethe sich schaudernd abgewandt»
(Goethe und kein Ende, S.35 f.). Gewiß hätte er sich
schaudernd abgewandt, weil er einen höheren Begriff des
Lebendigen suchte und ihn auch fand als den eines
komplizierten, mathematisch bestimmten Mechanismus. Nur wer
unfähig ist, einen solchen höhern Begriff zu fassen
und das Lebendige mit dem Mechanischen identifiziert, weil er
am Organismus nur das Mechanische zu sehen vermag, der wird
sich für die mechanische Weltkonstruktion und ihr Spiel
der Atome erwärmen und unfühlend die Bilder ins Auge
fassen, die Du Bois-Reymond entwirft. Wer aber den Begriff des
Organischen im Sinne Goethes in sich aufnehmen kann, der wird
über seine Berechtigung ebensowenig streiten wie über
das Vorhandensein des Mechanischen. Man streitet ja auch nicht
mit dem Farbenblinden über die Farbenwelt. Alle
Anschauungen, welche das Organische sich mechanisch vorstellen,
verfallen dem Richterspruch, den Goethe seinen Mephistopheles
sagen läßt:
Wer
will was Lebendig's erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in der Hand.
Fehlt, leider! nur das geistige Band.
Die
Möglichkeit, sich intimer mit dem Leben der Pflanzen zu
beschäftigen, fand sich für Goethe, als ihm der
Herzog Karl August am 21. April 1776 einen Garten schenkte.
Auch durch die Streifzüge im Thüringerwald, auf denen
er die Lebenserscheinungen der niederen Organismen beobachten
konnte, wird Goethe angeregt. Moose und Flechten nehmen seine
Aufmerksamkeit in Anspruch. Am 31. Oktober bittet er Frau von
Stein um Moose von allen Sorten, womöglich mit den Wurzeln
und feucht, damit er sie benützen könne, um die
Fortpflanzung zu beobachten. Es ist wichtig, im Auge zu
behalten, daß Goethe sich im Anfange seiner botanischen
Studien mit den niederen Pflanzenformen beschäftigte. Denn
er hat später bei der Konzeption seiner Idee der Urpflanze
nur die höheren Pflanzen berücksichtigt. Dies kann
also nicht davon herrühren, daß ihm das Gebiet der
niederen fremd war, sondern davon, daß er die Geheimnisse
der Pflanzennatur an den höheren deutlicher
ausgeprägt glaubte. Er wollte die Idee der Natur da
aufsuchen, wo sie sich am klarsten offenbart und dann von dem
Vollkommenen zum Unvollkommenen herabsteigen, um dieses aus
jenem zu begreifen. Nicht das Zusammengesetzte wollte er durch
das Einfache erklären; sondern jenes mit einem
Blick als wirkendes Ganzes überschauen und dann das
Einfache und Unvollkommene als einseitige Ausbildung des
Zusammengesetzten und Vollkommenen erklären. Wenn die
Natur fähig ist, nach unzähligen Pflanzenformen noch
eine zu machen, die sie alle enthält, so muß auch dem
Geiste beim Anschauen dieser vollkommenen Form das Geheimnis
der Pflanzenbildung in unmittelbarer Anschauung aufgehen, und
er wird dann leicht das an dem Vollkommenen Beobachtete auf das
Unvollkommene anwenden können. Umgekehrt machen es die
Naturforscher, die das Vollkommene nur als eine mechanische
Summe der einfachen Vorgänge ansehen. Sie gehen von diesem
Einfachen aus und leiten das Vollkommene von demselben ab.
Als
sich Goethe nach einem wissenschaftlichen Führer für
seine botanischen Studien umsah, konnte er keinen andern finden
als Linné. Wir erfahren von seiner
Beschäftigung mit Linné zuerst aus den Briefen an
Frau von Stein vom Jahre 1782. Wie ernst es Goethe mit seinen
naturwissenschaftlichen Bestrebungen war, geht aus dem
Interesse hervor, das er an Linnés Schriften genommen hat.
Er gesteht, daß nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die
größte Wirkung von Linné ausgegangen ist. Aber
wie wenig konnte ihn Linné befriedigen. Goethe wollte die
verschiedenen Pflanzenformen beobachten, um das Gemeinsame, das
in ihnen lebt, zu erkennen. Er wollte wissen, was alle diese
Gebilde zu Pflanzen macht. Und Linné hatte sich damit
begnügt, die mannigfaltigsten Pflanzenformen in einer
bestimmten Ordnung nebeneinander zu stellen und zu beschreiben.
Hier stieß Goethes naive, unbefangene Naturbeobachtung in
einem einzelnen Falle auf die durch einseitig aufgefaßten
Platonismus beeinflußte Denkweise der Wissenschaft. Diese
Denkweise sieht in den einzelnen Formen Verwirklichungen
ursprünglicher, nebeneinander bestehender, platonischer
Ideen oder Schöpfungsgedanken. Goethe sieht in dem
einzelnen Gebilde nur eine besondere Ausgestaltung eines
ideellen Urwesens, das in allen Formen lebt. Jene Denkweise
will möglichst genau die einzelnen Formen unterscheiden,
um die Vielgliedrigkeit der Ideenformen oder des
Schöpfungsplanes zu erkennen; Goethe will die
Vielgliedrigkeit des Besonderen aus der ursprünglichen
Einheit erklären. Daß vieles in mannigfaltigen Formen
da ist, ist für jene Denkungsart ohne weiteres klar, denn
schon die idealen Urbilder sind für sie das Mannigfaltige.
Für Goethe ist das nicht klar, denn das Viele gehört
nach seiner Ansicht nur zusammen, wenn sich Eines darin
offenbart. Goethe sagt deshalb, was Linné «mit Gewalt
auseinander zu halten suchte, mußte nach dem innersten
Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben».
Linné nimmt die vorhandenen Formen einfach hin, ohne
danach zu fragen, wie sie aus einer Grundform geworden sind:
«Spezies zählen wir so viele, als verschiedene Formen
im Prinzip geschaffen worden sind »: dies ist sein
Grundsatz. Goethe sucht im Pflanzenreich das Wirksame, das
durch Spezifizierung der Grundform das Einzelne schafft.
Ein
naiveres Verhältnis zur Pflanzenwelt als bei Linné
fand Goethe bei Rousseau. Am i6. Juni 1782 schreibt er an Karl
August: «In Rousseaus Werken finden sich ganz allerliebste
Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf
das faßlichste und zierlichste einer Dame vorträgt.
Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und eine
Beilage zum Emil. Ich nehme daher Anlaß, das schöne
Reich der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs neue zu
empfehlen.» In seiner «Geschichte meines botanischen
Studiums»legt Goethe dar, was ihn zu Rousseaus botanischen
Ideen hingezogen hat: «Sein Verhältnis zu
Pflanzenfreunden und -kennern, besonders zu der Herzogin von
Portland, mag seinen Scharfblick mehr in die Breite gewiesen
haben, und ein Geist wie der seinige, der den Nationen Ordnung
und Gesetz vorzuschreiben sich berufen fühlt, mußte
doch zur Vermutung gelangen, daß in dem
unermeßlichen Pflanzenreiche keine so große
Mannigfaltigkeit der Formen erscheinen könnte, ohne
daß ein Grundgesetz, es sei auch noch so verborgen, sie
wieder sämtlich zur Einheit
zurückbrächte.» Ein solches Grundgesetz, das
die Mannigfaltigkeit zur Einheit zurückbringt, von der sie
ursprünglich ausgegangen ist, sucht auch Goethe.
Zwei Schriften vom Freiherrn von Gleichen, genannt
Rußwurm, fielen damals in Goethes geistigen Horizont. Sie
behandeln beide das Leben der Pflanze in einer Weise, die
für ihn fruchtbar werden konnte: «Das Neueste aus dem
Reiche der Pflanzen»(Nürnberg 1764) und
«Auserlesene mikroskopische Entdeckungen bei den
Pflanzen» (Nürnberg 1777-1781). Sie beschäftigen
sich mit den Befruchtungsvorgängen der Pflanzen.
Blütenstaub, Staubfäden und Stempel sind in ihnen
sorgfältig beschrieben, und in gut ausgeführten
Tafeln die Vorgänge bei der Befruchtung dargestellt.
Goethe macht nun selbst Versuche, um die von
Gleichen-Rußwurm beschriebenen Ergebnisse mit eigenen
Augen zu beobachten. Er schreibt am 12. Januar 1785 an Jacobi:
«Ein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des v.
Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingseintritt
nachzubeobachten und zu kontrollieren.» Zur selben Zeit
studiert er die Wesenheit des Samens, wie aus einem Bericht an
Knebel vom 2. April 1785 hervorgeht: «Die Materie vom
Samen habe ich durchgedacht, so weit meine Erfahrungen
reichen.» Diese Beobachtungen Goethes erscheinen erst im
rechten Lichte, wenn man berücksichtigt, daß er schon
dazumal nicht bei ihnen stehen geblieben ist, sondern eine
Gesamtanschauung der Naturvorgänge zu gewinnen suchte, der
sie zur Stütze und Bekräftigung dienen sollten. Am 8.
April desselben Jahres meldet er Merck, daß er nicht nur
Tatsachen beobachtet, sondern auch «hübsche
Kombinationen» über diese Tatsachen gemacht
habe.
*
Von
wesentlichem Einfluß auf die Ausbildung der Ideen Goethes
über organische Naturwirkungen war der Anteil, den er an
Lavaters großem Werke: «Physiognomische Fragmente zur
Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe»
nahm, das in den Jahren 1775-1778 erschienen ist. Er hat selbst
Beiträge zu diesem Werke geliefert. In der Art, wie er
sich in diesen Beiträgen ausspricht, ist seine
spätere Weise, das Organische anzusehen, schon
vorgebildet. Lavater blieb dabei stehen, die Gestalt des
menschlichen Organismus als Ausdruck der Seele zu behandeln. Er
wollte aus den Formen der Körper die Charaktere der Seelen
deuten. Goethe fing bereits damals an, die äußere
Gestalt um ihrer selbst willen zu betrachten, ihre eigene
Gesetzmäßigkeit und Bildungskraft zu studieren. Er
beschäftigt sich zugleich mit den Schriften des
Aristoteles über die Physiognomik und versucht es, auf
Grundlage des Studiums der organischen Gestalt, den Unterschied
des Menschen von den Tieren festzustellen. Er findet diesen in
dem durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten
Hervortreten des Kopfes, in der vollkommenen Ausbildung des
menschlichen Gehirns, zu dem alle Teile wie zu einem Organ
hindeuten, auf das sie gestimmt sind. Im Gegenteil ist bei dem
Tiere der Kopf an den Rückgrat bloß angehängt,
das Gehirn, das Rückenmark haben nicht mehr Umfang als zur
Auswirkung der untergeordneten Lebensgeister und zur Leitung
der bloß sinnlichen Verrichtungen unbedingt notwendig ist.
Goethe sucht schon damals den Unterschied des Menschen von den
Tieren nicht in irgend einem einzelnen, sondern in dem
verschiedenen Grade der Vollkommenheit, den das gleiche
Grundgebilde in dem einen oder anderen Falle erreicht. Es
schwebt ihm bereits das Bild eines Typus vor, der sowohl bei
den Tieren wie beim Menschen sich findet, der bei den ersteren
so ausgebildet ist, daß der ganze Bau den animalischen
Funktionen dient, während bei letzterem der Bau das
Grundgerüste für die Entwicklung des Geistes abgibt.
Aus solchen Betrachtungen heraus erwächst Goethes
Spezialstudium der Anatomie. Am 22. Januar 1776 berichtet er an
Lavater: «Der Herzog hat mir sechs Schädel kommen
lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer
Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht
ohne mich fanden.» Im Tagebuche Goethes lesen wir unter
dem i Oktober 1781, daß er in Jena mit dem alten Einsiedel
Anatomie trieb und in demselben Jahre fing er an, sich von
Loder in diese Wissenschaft genauer einführen zu lassen.
Er erzählt davon in Briefen an Frau von Stein vom 29.
Oktober 1781 und an den Herzog vom 4. November. Er hat auch die
Absicht, den jungen Leuten an der Zeichenakademie «das
Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis des menschlichen
Körpers anzuführen». - «Ich tue es»,
sagt er, «um meinet- und ihretwillen; die Methode, die ich
gewählt habe, wird sie diesen Winter über völlig
mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen.
» Er hat, wie aus dem Tagebuch zu ersehen, diese
Vorlesungen auch gehalten. Auch mit Loder hat er in dieser Zeit
über den Bau des menschlichen Körpers manches
Gespräch geführt. Und wieder ist es seine allgemeine
Naturansicht, die als treibende Kraft und als eigentliches Ziel
dieser Studien erscheint. Er behandelt die« Knochen als
einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche
anhängen läßt» (Briefe an Lavater und Merck
vom 14. November 1781). Vorstellungen über das Wirken des
Organischen, über den Zusammenhang der menschlichen
Bildung mit der tierischen beschäftigen damals seinen
Geist. Daß der menschliche Bau nur die höchste Stufe
des tierischen ist, und daß er durch diesen vollkommeneren
Grad des Tierischen die sittliche Welt aus sich hervorbringt,
ist eine Idee, die bereits in der Ode «das Göttliche
»vom Jahre 1782 niedergelegt ist.
Edel
sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.- - - -
Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen Müssen wir alle
Unsers Daseins
Kreise vollenden.
Die
«ewigen, ehrnen Gesetze» wirken im Menschen gerade so
wie in der übrigen Organismenwelt; sie erreichen in ihm
nur eine Vollkommenheit, durch die es ihm möglich ist,
«edel, hilfreich und gut» zu sein.
Während in Goethe sich solche Ideen immer mehr
festsetzten, arbeitete Herder an seinen «Ideen zu einer
Philosophie der Geschichte der Menschheit». Alle Gedanken
dieses Buches wurden von den beiden durchgesprochen. Goethe war
von Herders Auffassung der Natur befriedigt. Sie fiel mit
seinen eigenen Vorstellungen zusammen. «Herders Schrift
macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere
waren... Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen
Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen
ist, wird äußerst interessant», schreibt am 1.
Mai 1784 Frau von Stein an Knebel. Wie sehr man berechtigt ist,
von Herders Ideen auf die Goethes zu schließen, zeigen die
Worte, die Goethe am 8. Dez. 1783 an Knebel richtet:
«Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte, wie Du
Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben
wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind köstlich.»
Sätze wie die folgenden liegen ganz in Goethes
Denkrichtung. «Das Menschengeschlecht ist der große
Zusammenfluß niederer organischer Kräfte.»
« Und so können wir den vierten Satz annehmen:
daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den
Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Zuge
aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff
sammeln.»
Mit
solchen Vorstellungen war allerdings die Ansicht der damaligen
Anatomen nicht zu vereinigen, daß der kleine Knochen, den
die Tiere in der oberen Kinnlade haben, der Zwischenkiefer, der
die oberen Schneidezähne enthält, dem Menschen fehle.
Sömmering, einer der bedeutendsten Anatomen der damaligen
Zeit, schrieb am 8. Oktober 1782 an Merck: «Ich
wünschte, daß Sie Blumenbach nachsähen, wegen
des ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der einzige
Knochen ist, den alle Tiere vom Affen an, selbst der
Orang-Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie
beim Menschen findet; wenn Sie diesen Knochen abrechnen, so
fehlt Ihnen nichts, um nicht alles vom Menschen auf die Tiere
transferieren zu können. Ich lege deshalb einen Kopf von
einer Hirschkuh bei, um Sie zu überzeugen, daß
dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach) oder os incisivum
(wie es Camper nennt) selbst bei Tieren vorhanden ist, die
keine Schneidezähne in der oberen Kinnlade haben.»
Das war die allgemeine Meinung der Zeit. Auch der berühmte
Camper, für den Merck und Goethe die innigste Verehrung
hatten, bekannte sich zu ihr. Der Umstand, daß der
Zwischenknochen beim Menschen links und rechts mit den
Oberkieferknochen verwachsen ist, ohne daß bei einem
normal gebildeten Individuum eine deutliche Grenze zu sehen
ist, hat zu dieser Ansicht geführt. Hätten die
Gelehrten recht gehabt mit derselben, dann wäre es
unmöglich, ein gemeinsames Urbild für den Bau des
tierischen und menschlichen Organismus aufzustellen; eine
Grenze zwischen den beiden Formen müßte angenommen
werden. Der Mensch wäre nicht nach dem Urbilde geschaffen,
das auch den Tieren zu Grunde liegt. Dieses Hindernis seiner
Weltanschauung mußte Goethe hinwegräumen. Es gelang
ihm im Frühling 1784 in Gemeinschaft mit Loder. Nach
seinem allgemeinen Grundsatze, «daß die Natur kein
Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen
Beobachter nackt vor die Augen stellt», ging Goethe vor.
Er fand bei einzelnen abnorm gebildeten Schädeln die
Grenze zwischen Ober- und Zwischenkiefer wirklich vorhanden.
Freudig berichtet er von dem Fund am 27. März an Herder
und Frau von Stein. An Herder schreibt er: «Es soll Dich
auch herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein
zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich
habe mirs auch in Verbindung mit Deinem Ganzen gedacht, wie
schön es da wird.» Und als Goethe die Abhandlung, die
er über die Sache geschrieben hat, im November 1784 an
Knebel schickt, deutet er die Bedeutung, die er der Entdeckung
für seine ganze Vorstellungswelt beilegt, mit den Worten
an: «Ich habe mich enthalten, das Resultat, worauf schon
Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzt merken zu lassen,
daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom
Tier in nichts einzelnem finden könne.» Goethe
konnte erst Vertrauen zu seiner Naturansicht gewinnen, als die
irrtümliche Ansicht über das fatale Knöchelchen
beseitigt war. Er gewann allmählich den Mut, seine Ideen
über die Art, wie die Natur, mit einer Hauptform
gleichsam spielend, das mannigfaltige Leben hervorbringt,
«auf alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich
auszudehnen». In diesem Sinne schreibt er im Jahre 1786 an
Frau von Stein.
Immer lesbarer wird Goethe das Buch der Natur, nachdem er den
einen Buchstaben richtig entziffert hat. «Mein langes
Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt wirkts auf einmal und
meine stille Freude ist unaussprechlich», schreibt er der
Frau von Stein am 15. Mai 1785. Er hält sich jetzt auch
bereits für fähig, eine kleine botanische Abhandlung
für Knebel zu schreiben. Die Reise, die er 1785 nach
Karlsbad mit diesem zusammen unternimmt, wird zu einer
förmlichen botanischen Studienreise. Nach der
Rückkehr werden mit Hilfe Linnés die Reiche der
Pilze, Moose, Flechten und Algen durchgegangen. Er teilt am 9.
November der Frau von Stein mit: «Ich lese Linné
fort, denn ich muß wohl, ich habe kein anderes Buch. Es
ist das die beste Art, ein Buch gewiß zu lesen, die ich
öfters praktizieren muß, besonders da ich nicht
leicht ein Buch auslese. Dieses ist aber vorzüglich nicht
zum Lesen, sondern zum Rekapitulieren gemacht und tut mir nun
treffliche Dienste, da ich über die meisten Punkte selbst
gedacht habe.» Während dieser Studien bekommt auch
die Grundform, aus welcher die Natur alle mannigfaltigen
Pflanzengebilde herausarbeitet, einzelne, wenn auch noch nicht
deutliche Umrisse in seinem Geiste. In einem Briefe an die Frau
von Stein vom 9. Juli 1786 sind die Worte enthalten: «Es
ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur
gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben
hervorbringt.» Im April und Mai 1786 beobachtete Goethe
durch das Mikroskop die niederen Organismen, die sich in
Aufgüssen verschiedener Substanzen (Pisangmark, Kaktus,
Trüffeln, Pfefferkörnern, Tee, Bier usw.) entwickeln.
Er notiert sorgfältig die Vorgänge, die er an diesen
Lebewesen beobachtet und verfertigt Zeichnungen dieser
organischen Formen (vgl. Goethes naturwissenschaftliche
Schriften in der Sophien-Ausgabe, 2. Abteilung, Band 7,
S.289-309). Man kann auch aus diesen Notizen ersehen, daß
Goethe der Erkenntnis des Lebens nicht durch solche
Beobachtung niederer und einfacher Organismen näher zu
kommen sucht. Es ist ganz offenbar, daß er die
wesentlichen Züge der Lebensvorgänge an den
höheren Organismen ebenso zu erfassen glaubt, wie an den
niederen. Er ist der Ansicht, daß sich an dem
Infusionstierchen dieselbe Art von Gesetzmäßigkeit
wiederholt, die das Auge des Geistes an dem Hund wahrnimmt. Die
Beobachtung durch das Mikroskop lehrt nur Vorgänge kennen,
die im Kleinen das sind, was das unbewaffnete Auge im
Großen sieht. Sie bietet eine Bereicherung der sinnlichen
Erfahrung. Einer höheren Art des Anschauens, nicht
einer Verfolgung der den Sinnen zugänglichen Vorgänge
bis in ihre kleinsten Bestandteile, offenbart sich das Wesen
des Lebens. Goethe sucht dieses Wesen durch die Betrachtung der
höheren Pflanzen und Tiere zu erkennen. Er würde
diese Erkenntnis ohne Zweifel in derselben Weise gesucht haben,
auch wenn zu seiner Zeit die Pflanzen- und Tieranatomie schon
ebenso weit vorgeschritten gewesen wäre, wie sie
gegenwärtig ist. Wenn Goethe die Zellen, aus denen sich
der Pflanzen- und Tierkörper aufbaut, hätte
beobachten können, so würde er erklärt haben,
daß sich an diesen elementaren organischen Formen dieselbe
Gesetzmäßigkeit zeigt, die auch am Zusammengesetzten
wahrzunehmen ist. Er hätte sich durch dieselben Ideen,
durch die er sich die Lebensvorgänge der höheren
Organismen erklärte, auch die Erscheinungen an diesen
kleinen Wesen begreiflich gemacht.
Den
lösenden Gedanken des Rätsels, das ihm die organische
Bildung und Umbildung aufgegeben hat, findet Goethe erst in
Italien. Am 3. September verläßt er Karlsbad, um nach
dem Süden zu gehen. In wenigen, aber bedeutsamen
Sätzen schildert er in seiner «Geschichte meines
botanischen Studiums » (Kürschner, Band 33, S. 61
ff.) die Gedanken, welche die Beobachtung der Pflanzenwelt in
ihm aufregt bis zu dem Augenblicke, da ihm in Sizilien eine
klare Vorstellung darüber sich offenbart, wie es
möglich ist, daß den Pflanzenformen «bei einer
eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit
eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen
ist, um in so viele Bedingungen, die über dem Erdkreis auf
sie einwirken, sich zu fügen und darnach bilden und
umbilden zu können». Beim Übergang über die
Alpen, im botanischen Garten von Padua und an anderen Orten
zeigte sich ihm das «Wechselhafte der
Pflanzengestalten». «Wenn in der tiefern Gegend
Zweige und Stengel stärker und mastiger waren, die Augen
näher aneinander standen und die Blätter breit waren,
so wurden höher ins Gebirge hinauf Zweige und Stengel
zarter, die Augen rückten auseinander, so daß von
Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum stattfand
und die Blätter sich lanzenförmiger bildeten. Ich
bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und
überzeugte mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten
wären. Auch am Walchensee bemerkte ich längere und
schlankere Binsen, als im Unterland» (Italienische Reise,
8. Sept.). Am 8. Oktober findet er in Venedig am Meere
verschiedene Pflanzen, an denen ihm die Wechselbeziehung des
Organischen zu seiner Umgebung besonders anschaulich wird.
«Sie sind alle zugleich mastig und streng, saftig und
zäh, und es ist offenbar, daß das alte Salz des
Sandbodens, mehr aber die salzige Luft ihnen diese
Eigenschaften gibt; sie strotzen von Säften wie
Wasserpflanzen, sie sind fest und zäh wie Bergpflanzen;
wenn ihre Blätterenden eine Neigung zu Stacheln haben, wie
Disteln tun, sind sie gewaltig spitz und stark. Ich fand einen
solchen Busch Blätter; es schien mir unser unschuldiger
Huflattig, hier aber mit scharfen Waffen bewaffnet, und das
Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die Stiele, alles
mastig und fett» (Italienische Reise). Im botanischen
Garten zu Padua bekommt der Gedanke in Goethes Geiste eine
bestimmtere Gestalt, wie man sich alle Pflanzengestalten
vielleicht aus einer entwickeln könne (Italienische
Reise, 27. Sept.); im November teilt er Knebel mit: «So
freut mich doch mein bißchen Botanik erst recht in diesen
Landen, wo eine frohere, weniger unterbrochene Vegetation zu
Hause ist. Ich habe schon recht artige, ins allgemeine gehende
Bemerkungen gemacht, die auch Dir in der Folge angenehm sein
werden.» Am 25. März 1787 kommt ihm eine «gute
Erleuchtung über botanische Gegenstände». Er
bittet Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald
zustande sei. Nur fürchtet er, «daß niemand die
übrige Pflanzenwelt darin wird erkennen wollen »
(Italienische Reise). Am ,7. April geht er mit dem
«festen, ruhigen Vorsatz, seine dichterischen Träume
fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten». Allein
ehe er sichs versieht, erhascht ihn das Pflanzenwesen wie ein
Gespenst. «Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in
Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des
Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen
hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre
Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher.
Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes, fiel mir
die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser Schar
die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es
denn doch geben! woran würde ich sonst erkennen, daß
dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle
nach einem Muster gebildet wären.» Er bemüht
sich, die abweichenden Gestalten zu unterscheiden, aber immer
wieder werden seine Gedanken zu dem einen Urbild, das
ihnen allen zu Grunde liegt, hingelenkt (Italienische Reise, 7.
April 1787). Goethe legt sich ein botanisches Tagebuch an, in
dem er alle während der Reise über das Pflanzenreich
gemachten Erfahrungen und Reflexionen einzeichnet (vgl.
Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 7, S.273 ff.). Diese
Tagebuchblätter zeigen, wie unermüdlich er damit
beschäftigt ist, Pflanzenexemplare ausfindig zu machen,
die geeignet sind, auf die Gesetze des Wachstums und der
Fortpflanzung hinzuleiten. Glaubt er irgend einem Gesetze auf
der Spur zu sein, so stellt er es zunächst in
hypothetischer Form auf, um es sich dann im Verlauf seiner
weiteren Erfahrungen bestätigen zu lassen. Die
Vorgänge der Keimung, der Befruchtung, des Wachstums
notiert er sorgfältig. Daß das Blatt das Grundorgan
der Pflanze ist, und daß die Formen aller übrigen
Pflanzenorgane am besten zu verstehen sind, wenn man sie als
umgewandelte Blätter betrachtet, leuchtet ihm immer mehr
ein. Er schreibt in das Tagebuch: «Hypothese: Alles ist
Blatt und durch diese Einfachheit wird die größte
Mannigfaltigkeit möglich.» Und am ,7. Mai teilt er
Herder mit: « Ferner muß ich Dir vertrauen, daß
ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz
nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht
werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten
Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe
ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige sehe
ich auch schon im Ganzen und nur einige Punkte müssen
bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste
Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst
beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu
kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche erfinden, die
konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch
nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht etwa
malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern
eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe
Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden
lassen..... «Vorwärts und rückwärts ist die
Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so
unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht
denken darf Einen solchen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn
in der Natur aufzufinden, ist eine Aufgabe, die uns in einen
peinlich süßen Zustand versetzt» (Italienische
Reise).
*
Goethe nimmt zur Erklärung der Lebenserscheinungen einen
Weg, der gänzlich verschieden ist von denen, welche die
Naturforscher gewöhnlich gehen. Diese scheiden sich in
zwei Parteien. Es gibt Verteidiger einer in den organischen
Wesen wirkenden Lebenskraft, die gegenüber anderen
Naturursachen eine besondere, höhere Kräfteform
darstellt. Wie es Schwerkraft, chemische Anziehung und
Abstoßung, Magnetismus usw. gibt, so soll es auch eine
Lebenskraft geben, welche die Stoffe des Organismus in eine
solche Wechselwirkung bringt, daß dieser sich erhalten,
wachsen, nähren und fortpflanzen kann. Die Naturforscher,
welche dieser Meinung sind, sagen: in dem Organismus wirken
dieselben Kräfte wie in der übrigen Natur; aber sie
wirken nicht wie in einer leblosen Maschine. Sie werden von der
Lebenskraft gleichsam eingefangen und auf eine höhere
Stufe des Wirkens gehoben. Den Bekennern dieser Meinung stehen
andere Naturforscher gegenüber, welche glauben, daß
in den Organismen keine besondere Lebenskraft wirke. Sie halten
die Lebenserscheinungen für komplizierte chemische und
physikalische Vorgänge und geben sich der Hoffnung hin,
daß es einst vielleicht gelingen werde, einen Organismus
ebenso durch Zurückführung auf unorganische
Kraftwirkungen zu erklären wie eine Maschine. Die erste
Ansicht wird als Vitalismus, die andere als Mechanismus
bezeichnet. Von beiden ist die Goethesche Auffassungsweise
durchaus verschieden. Daß in dem Organismus noch etwas
anderes wirksam ist, als die Kräfte der unorganischen
Natur, erscheint ihm selbstverständlich. Zur mechanischen
Auffassung der Lebenserscheinungen kann er sich nicht bekennen.
Ebensowenig sucht er, um die Wirkungen im Organismus zu
erklären, nach einer besonderen Lebenskraft. Er ist
überzeugt, daß zur Erfassung der Lebensvorgänge
eine Anschauung gehört, die anderer Art ist als diejenige,
durch welche die Erscheinungen der unorganischen Natur
wahrgenommen werden. Wer zur Annahme einer Lebenskraft sich
entschließt, der sieht zwar ein, daß die organischen
Wirkungen nicht mechanisch sind, aber es fehlt ihm zugleich die
Fähigkeit, jene andere Art der Anschauung in sich
auszubilden, durch die ihm das Organische erkennbar werden
könnte. Die Vorstellung der Lebenskraft bleibt dunkel und
unbestimmt. Ein neuerer Anhänger des Vitalismus, Gustav
Bunge, meint: «In der kleinsten Zelle - da stecken schon
alle Rätsel des Lebens drin, und bei der Erforschung der
kleinsten Zelle - da sind wir mit den bisherigen Hilfsmitteln
bereits an der Grenze angelangt» («Vitalismus und
Mechanismus», Leipzig 1886, S. 7). Es ist durchaus im
Sinne der Goetheschen Denkweise, darauf zu antworten: Dasjenige
Anschauungsvermögen, welches nur das Wesen der
unorganischen Erscheinungen erkennt, ist mit seinen
Hilfsmitteln an der Grenze angelangt, die überschritten
werden muß, um das Lebendige zu erfassen. Dieses
Anschauungsvermögen wird aber nie innerhalb seines
Bereiches Mittel finden, die zur Erklärung des Lebens auch
nur der kleinsten Zelle geeignet sein können. Wie zur
Wahrnehmung der Farbenerscheinungen das Auge gehört, so
gehört zur Auffassung des Lebens die Fähigkeit, in
dem Sinnlichen ein Übersinnliches unmittelbar anzuschauen.
Dieses Übersinnliche wird demjenigen immer
entschlüpfen, der nur die Sinne auf die organischen Formen
richtet. Goethe sucht die sinnliche Anschauung der
Pflanzengestalten auf eine höhere Art zu beleben und sich
die sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze
vorzustellen (vgl.« Geschichte meines botanischen
Studiums»in Kürschner, Band 33, S.80). Der Vitalist
nimmt seine Zuflucht zu dem inhaltleeren Begriff der
Lebenskraft, weil er das, was seine Sinne im Organismus
nicht wahrnehmen können, überhaupt nicht sieht.
Goethe sieht das Sinnliche von einem Übersinnlichen so
durchdrungen, wie eine gefärbte Fläche von der Farbe.
Die Anhänger des Mechanismus sind der Ansicht, daß es
einmal gelingen könne, lebende Substanzen auf
künstlichem Wege aus unorganischen Stoffen herzustellen.
Sie sagen, vor noch nicht vielen Jahren wurde behauptet,
daß es im Organismus Substanzen gebe, die nicht auf
künstlichem Wege, sondern nur durch die Wirkung der
Lebenskraft entstehen können. Gegenwärtig ist man
bereits imstande, einige dieser Substanzen künstlich im
Laboratorium zu erzeugen. Ebenso könne es dereinst
möglich sein, aus Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und
Salzen ein lebendiges Eiweiß herzustellen, welches die
Grundsubstanz der einfachsten Organismen ist. Dann, meinen die
Mechanisten, werde unbestreitbar erwiesen sein, daß Leben
nichts weiter ist, als eine Kombination unorganischer
Vorgänge, der Organismus nichts weiter als eine auf
natürlichem Wege entstandene Maschine.
Vom
Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung ist darauf zu
erwidern: die Mechanisten sprechen ineiner Weise von Stoffen
und Kräften, die durch keine Erfahrung gerechtfertigt ist.
Und man hat sich an diese Weise zu sprechen so gewöhnt,
daß es sehr schwer wird, diesen Begriffen gegenüber
die reinen Aussprüche der Erfahrung geltend zu machen. Man
betrachte aber doch einen Vorgang der Außenwelt
unbefangen. Man nehme ein Quantum Wasser von einer bestimmten
Temperatur. Wodurch weiß man etwas von diesem Wasser? Man
sieht es an und bemerkt, daß es einen Raum einnimmt und
zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen ist. Man steckt den
Finger oder ein Thermometer hinein, und findet es mit einem
bestimmten Grade von Wärme behaftet. Man drückt gegen
seine Oberfläche und erfährt, daß es
flüssig ist. Das sind Aussprüche, welche die Sinne
über den Zustand des Wassers machen. Nun erhitze man das
Wasser. Es wird sieden und zuletzt sich in Dampf verwandeln.
Wieder kann man sich durch die Wahrnehmung der Sinne von den
Beschaffenheiten des Körpers, des Dampfes, in den sich das
Wasser verwandelt hat, Kenntnis verschaffen. Statt das Wasser
zu erhitzen, kann man es dem elektrischen Strom unter gewissen
Bedingungen aussetzen. Es verwandelt sich in zwei Körper,
Wasserstoff und Sauerstoff. Auch über die Beschaffenheit
dieser beiden Körper kann man sich durch die Aussagen der
Sinne belehren. Man nimmt also in der Körperwelt
Zustände wahr und beobachtet zugleich, daß diese
Zustände unter gewissen Bedingungen in andere
übergehen. Über die Zustände unterrichten die
Sinne. Wenn man noch von etwas anderem als von Zuständen,
die sich verwandeln, spricht, so beschränkt man sich nicht
mehr auf den reinen Tatbestand, sondern man fügt zu
demselben Begriffe hinzu. Sagt man, der Sauerstoff und der
Wasserstoff, die sich durch den elektrischen Strom aus dem
Wasser entwickelt haben, seien schon im Wasser enthalten
gewesen, nur so innig miteinander verbunden, daß sie in
ihrer Selbständigkeit nicht wahrzunehmen waren, so hat man
zu der Wahrnehmung einen Begriff hinzugefügt, durch den
man sich das Hervorgehen der beiden Körper aus dem einen
erklärt. Und wenn man weitergeht und behauptet, Sauerstoff
und Wasserstoff seien Stoffe, was man schon durch die Namen
tut, die man ihnen beilegt, so hat man ebenfalls zu dem
Wahrgenommenen einen Begriff hinzugefügt. Denn
tatsächlich ist in dem Raume, der vom Sauerstoff
eingenommen wird, nur eine Summe von Zuständen
wahrzunehmen. Zu diesen Zuständen denkt man den Stoff
hinzu, an dem sie haften sollen. Was man von dem Sauerstoff und
dem Wasserstoff in dem Wasser schon vorhanden denkt, das
Stoffliche, ist ein Gedachtes, das zu dem Wahmehmungsinhalt
hinzugefügt ist. Wenn man Wasserstoff und Sauerstoff durch
einen chemischen Prozeß zu Wasser vereinigt, so kann man
beobachten, daß eine Summe von Zuständen in eine
andere übergeht. Wenn man sagt: es haben sich zwei
einfache Stoffe zu einem zusammengesetzten vereinigt, so hat
man eine begriffliche Auslegung des Beobachtungsinhaltes
versucht. Die Vorstellung« Stoff» erhält ihren
Inhalt nicht aus der Wahrnehmung, sondern aus dem Denken. Ein
ähnliches wie vom «Stoffe» gilt von der
«Kraft». Man sieht einen Stein zur Erde fallen. Was
ist der Inhalt der Wahrnehmung? Eine Summe von
Sinneseindrücken, Zuständen, die an
aufeinanderfolgenden Orten auftreten. Man sucht sich diese
Veränderung in der Sinnenwelt zu erklären, und sagt:
die Erde ziehe den Stein an. Sie habe eine «Kraft»,
durch die sie ihn zu sich hinzwingt. Wieder hat unser Geist
eine Vorstellung zu dem Tatbestande hinzugefügt und
derselben einen Inhalt gegeben, der nicht aus der Wahrnehmung
stammt. Nicht Stoffe und Kräfte nimmt man wahr, sondern
Zustände und deren Übergänge in einander. Man
erklärt sich diese Zustandsänderungen durch
Hinzufügung von Begriffen zu den Wahrnehmungen.
Man
nehme einmal an, es gebe ein Wesen, das Sauerstoff und
Wasserstoff wahrnehmen könnte, nicht aber Wasser. Wenn wir
vor den Augen eines solchen Wesens den Sauerstoff und
Wasserstoff zu Wasser vereinigten, so verschwänden vor ihm
die Zustände, die es an den beiden Stoffen wahrgenommen
hat, in nichts. Wenn wir ihm nun die Zustände auch
beschrieben, die wir am Wasser wahrnehmen: es könnte sich
von ihnen keine Vorstellung machen. Das beweist, daß in
den Wahrnehmungsinhalten des Sauerstoffes nichts liegt, aus dem
der Wahrnehmungsinhalt Wasser abzuleiten ist. Ein Ding besteht
aus zwei oder mehreren anderen, heißt: es haben sich zwei
oder mehrere Wahrnehmungsinhalte in einen
zusammenhängenden, aber den ersteren gegenüber
durchaus neuen, verwandelt.
Was
wäre also erreicht, wenn es gelänge,
Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und Salze künstlich zu
einer lebenden Eiweißsubstanz im Laboratorium zu
vereinigen? Man wüßte, daß die
Wahrnehmungsinhalte der vielerlei Stoffe sich zu einem
Wahmehmungsinhalt vereinigen können. Aber dieser
Wahmehmungsinhalt ist aus jenen durchaus nicht abzuleiten. Der
Zustand des lebenden Eiweißes kann nur an diesem selbst
beobachtet, nicht aus den Zuständen der Kohlensäure,
des Ammoniaks, des Wassers und der Salze herausentwickelt
werden. Im Organismus hat man etwas von den unorganischen
Bestandteilen, aus denen er aufgebaut werden kann, völlig
verschiedenes vor sich. Die sinnlichen Wahrnehmungsinhalte
verwandeln sich bei der Entstehung des Lebewesens in
sinnlich-übersinnliche. Und wer nicht die Fähigkeit
hat, sich sinnlich-übersinnliche Vorstellungen zu machen,
der kann von dem Wesen eines Organismus ebensowenig etwas
wissen, wie jemand vom Wasser etwas erfahren könnte, wenn
ihm die sinnliche Wahrnehmung desselben unzugänglich
wäre.
*
Die
Keimung, das Wachstum, die Umwandlung der Organe, die
Ernährung und Fortpflanzung des Organismus sich als
sinnlich-übersinnlichen Vorgang vorzustellen, war Goethes
Bestreben bei seinen Studien über die Pflanzen- und die
Tierwelt. Er bemerkte, daß dieser
sinnlich-übersinnliche Vorgang in der Idee bei
allen Pflanzen derselbe ist, und daß er nur in der
äußeren Erscheinung verschiedene Formen
annimmt. Dasselbe konnte Goethe für die Tierwelt
feststellen. Hat man die Idee der sinnlich-übersinnlichen
Urpflanze in sich ausgebildet, so wird man sie in allen
einzelnen Pflanzenformen wiederfinden. Die Mannigfaltigkeit
entsteht dadurch, daß das der Idee nach Gleiche in der
Wahrnehmungswelt in verschiedenen Gestalten existieren kann.
Der einzelne Organismus besteht aus Organen, die auf ein
Grundorgan zurückzuführen sind. Das Grundorgan der
Pflanze ist das Blatt mit dem Knoten, an dem es sich
entwickelt. Dieses Organ nimmt in der äußeren
Erscheinung verschiedene Gestalten an: Keimblatt, Laubblatt,
Kelchblatt, Kronenblatt usw. «Es mag nun die Pflanze
sprossen, blühen oder Früchte bringen, so sind es
doch nur immer die selbigen Organe, welche in
vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten
Gestalten die Vorschrift der Natur erfüllen.»
*
Um
ein vollständiges Bild der Urpflanze zu erhalten,
mußte Goethe die Formen im allgemeinen verfolgen, welche
das Grundorgan im Fortgang des Wachstums einer Pflanze von der
Keimung bis zur Samenreife durchmacht. Im Anfang ihrer
Entwicklung ruht die ganze Pflanzengestalt in dem Samen. In
diesem hat die Urpflanze eine Gestalt angenommen, durch die sie
ihren ideellen Inhalt gleichsam in der äußeren
Erscheinung verbirgt.
Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes
Vorbild
Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos
Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,
Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
Kürschner, Band 33, S.105
Aus
dem Samen entwickelt die Pflanze die ersten Organe, die
Kotyledonen, nachdem sie «ihre Hüllen mehr oder
weniger in der Erde» zurückgelassen und «die
Wurzel in den Boden » befestigt hat. Und nun folgt im
weiteren Verlaufe des Wachstums Trieb auf Trieb; Knoten auf
Knoten türmt sich übereinander, und an jedem Knoten
findet sich ein Blatt. Die Blätter erscheinen in
verschiedenen Gestalten. Die unteren noch einfach, die oberen
mannigfach gekerbt, eingeschnitten, aus mehreren Blättchen
zusammengesetzt. Die Urpflanze breitet auf dieser Stufe der
Entwicklung ihren sinnlich-übersinnlichen Inhalt im Raume
als äußere sinnliche Erscheinung aus. Goethe stellt
sich vor, daß die Blätter ihre fortschreitende
Ausbildung und Verfeinerung dem Lichte und der Luft schuldig
sind. «Wenn wir jene in der verschlossenen Samenhülle
erzeugten Kotyledonen, mit einem rohen Safte nur gleichsam
ausgestopft, fast gar nicht oder nur grob organisiert und
ungebildet finden, so zeigen sich uns die Blätter der
Pflanzen, welche unter dem Wasser wachsen, gröber
organisiert als andere, der freien Luft ausgesetzte; ja, sogar
entwickelt die selbige Pflanzenart glättere und weniger
verfeinerte Blätter, wenn sie in tiefen, feuchten Orten
wächst, da sie hingegen, in höhere Gegenden versetzt,
rauhe, mit Haaren versehene, feiner ausgebildete Blätter
hervorbringt.» (Kürschner, Band 33, S.25 f.) In der
zweiten Epoche des Wachstums zieht die Pflanze wieder in einen
engeren Raum zusammen, was sie vorher ausgebreitet hat.
Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die
Gefäße,
Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.
Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder
zurücke,
Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere
Stengel,
Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
Um die Achse gedrängt, entscheidet der bergende Kelch
sich,
Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen
entläßt.
Im
Kelch zieht sich die Pflanzengestalt zusammen; in der
Blumenkrone breitet sie sich wieder aus. Nun folgt die
nächste Zusammenziehung in den Staubgefäßen und
dem Stempel, den Organen der Fortpflanzung. Die Bildungskraft
der Pflanze entwickelte sich in den vorhergehenden
Wachstumsperioden in einerlei Organen als Trieb, das
Grundgebilde zu wiederholen. Dieselbe Kraft verteilt sich auf
dieser Stufe der Zusammenziehung auf zwei Organe. Das Getrennte
sucht sich wieder zusammenzufinden. Dies geschieht im
Befruchtungsvorgang. Der in dem Staubgefäß vorhandene
männliche Blütenstaub vereinigt sich mit der
weiblichen Substanz, die im Stempel enthalten ist; und damit
ist der Keim zu einer neuen Pflanze gegeben. Goethe nennt die
Befruchtung eine geistige Anastomose und sieht in ihr nur eine
andere Form des Vorgangs, der in der Entwicklung von einem
Knoten zum andern stattfindet. «An allen Körpern, die
wir lebendig nennen, bemerken wir die Kraft, ihresgleichen
hervorzubringen. Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden,
bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden
Geschlechter.» (Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 6, S.361.)
Von Knoten zu Knoten bringt die Pflanze ihresgleichen hervor.
Denn Knoten und Blatt sind die einfache Form der Urpflanze. In
dieser Form heißt die Hervorbringung Wachstum. Ist die
Fortpflanzungskraft auf zwei Organe verteilt, so spricht man
von zwei Geschlechtern. Auf diese Weise glaubt Goethe die
Begriffe von Wachstum und Zeugung einander näher
gerückt zu haben. In dem Stadium der Fruchtbildung erlangt
die Pflanze ihre letzte Ausdehnung; in dem Samen erscheint sie
wieder zusammengezogen. In diesen sechs Schritten vollendet die
Natur einen Kreis der Pflanzenentwicklung, und sie beginnt den
ganzen Vorgang wieder von vorne. In dem Samen sieht Goethe nur
eine andere Form des Auges, das sich an den Laubblättern
entwickelt. Die aus den Augen sich entfaltenden Seitenzweige
sind ganze Pflanzen, die, statt in der Erde, auf einer
Mutterpflanze stehen. Die Vorstellung von dem sich stufenweise,
wie auf einer «geistigen Leiter » vom Samen bis zur
Frucht sich umbildenden Grundorgan ist die Idee der Urpflanze.
Gleichsam um die Verwandlungsfähigkeit des Grundorgans
für die sinnliche Anschauung zu beweisen, läßt
die Natur unter gewissen Bedingungen auf einer Stufe statt des
Organs, das nach dem regelmäßigen Wachstumsverlaufe
entstehen sollte, ein anderes sich entwickeln. Bei den
gefüllten Mohnen z. B. treten an der Stelle, wo die
Staubgefäße entstehen sollten, Blumenblätter auf
Das Organ, das der Idee nach zum Staubgefäß
bestimmt war, ist ein Blumenblatt geworden. In dem Organ, das
im regelmäßigen Fortgang der Pflanzenentwicklung eine
bestimmte Form hat, ist die Möglichkeit enthalten, auch
eine andere anzunehmen.
Als
Illustration seiner Idee von der Urpflanze betrachtet Goethe
das Bryophyllum calicinum, die gemeine Keim-Zumpe, eine
Pflanzenart, die von den Molukkeninseln nach Kalkutta und von
da nach Europa gekommen ist. Aus den Kerben der fetten
Blätter dieser Pflanzen entwickeln sich frische
Pflänzchen, die, nach ihrer Ablösung, zu
vollständigen Pflanzen auswachsen. Goethe sieht in diesem
Vorgang sinnlich-anschaulich dargestellt, daß in
dem Blatte eine ganze Pflanze der Idee nach ruht (vgl. Goethes
Bemerkungen über das Bryophyllum calicinum in der
Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band VI, S. 336 ff.).
Wer
die Vorstellung der Urpflanze in sich ausbildet und so
beweglich erhält, daß er sie in allen möglichen
Formen denken kann, die ihr Inhalt zuläßt, der kann
mit ihrer Hilfe sich alle Gestaltungen im Pflanzenreiche
erklären. Er wird die Entwicklung der einzelnen Pflanze
begreifen; aber er wird auch finden, daß alle
Geschlechter, Arten und Varietäten nach diesem Urbilde
geformt sind. Diese Anschauung hat Goethe in Italien
ausgebildet und in seiner 1790 erschienenen Schrift:
«Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu
erklären» niedergelegt.
*
Auch in der Entwicklung seiner Ideen über den menschlichen
Organismus schreitet Goethe in Italien vor. Am 20 Januar [1787]
schreibt er an Knebel: «Auf Anatomie bin ich so ziemlich
vorbereitet, und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen
Körpers, bis auf einen gewissen Grad, nicht ohne Mühe
erworben. Hier wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen
immerfort, aber auf eine höhere Weise, hingewiesen. Bei
unserer medizinisch-chirurgischen Anatomie kommt es bloß
darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein
kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts
heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle schöne Form
darbieten. - In dem großen Lazarett San Spirito hat man
den Künstlern zulieb einen sehr schönen
Muskelkörper dergestalt bereitet, daß die
Schönheit desselben in Verwunderung setzt. Er könnte
wirklich für einen geschundenen Halbgott, für einen
Marsyas gelten. - So pflegt man auch, nach Anleitung der Alten,
das Skelett nicht als eine künstlich zusammengereihte
Knochenmasse zu studieren, vielmehr zugleich mit den
Bändern, wodurch es schon Leben und Bewegung
erhält.» Auch nach seiner Rückkehr aus Italien
treibt Goethe fleißig anatomische Studien. Es drängt
ihn, die Bildungsgesetze der tierischen Gestalt ebenso zu
erkennen, wie ihm dies für diejenigen der Pflanze gelungen
war. Er ist überzeugt, daß auch die Einheit des
Tier-Organismus auf einem Grundorgan beruht, welches in der
äußeren Erscheinung verschiedene Formen annehmen
kann. Verbirgt sich die Idee des Grund-Organs, so erscheint
dieses ungeformt. Es stellt dann die einfacheren Organe des
Tieres dar; bemächtigt sich die Idee des Stoffes so,
daß sie ihn sich völlig ähnlich macht, dann
entstehen die höheren, die edleren Organe. Was in den
einfacheren Organen der Idee nach vorhanden ist, das
schließt sich in den höheren nach außen auf. Es
ist Goethe nicht geglückt glückt, die
Gesetzmäßigkeit der ganzen tierischen Gestalt in eine
einzige Vorstellung zu fassen, wie er es für die
Pflanzenform erreicht hat. Nur für einen Teil dieser
Gestalt hat er das Bildungsgesetz gefunden, für das
Rückenmark und Gehirn mit den diese Organe
einschließenden Knochen. In dem Gehirn sieht er eine
höhere Ausbildung des Rückenmarks. Jedes
Nervenzentrum der Ganglien gilt ihm als ein auf niederer Stufe
stehengebliebenes Gehirn. (Vgl. Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band
8, S. 360) Und die das Gehirn einschließenden
Schädelknochen deutet er als Umformungen der
Wirbelknochen, die das Rückenmark umhüllen. Daß
er die hintern Schädelknochen (Hinterhauptbein, hinteres
und vorderes Keilbein) als drei umgebildete Wirbel anzusehen
hat, ist ihm schon früher aufgegangen; für die
vorderen Schädelknochen behauptet er dasselbe, als er im
Jahre 1790 auf den Dünen des Lido einen Schafschädel
findet, der so glücklich geborsten ist, daß in dem
Gaumbein, der oberen Kinnlade und dem Zwischenknochen drei
Wirbel in verwandelter Gestalt unmittelbar sinnlich sich
darzustellen scheinen.
Die
Anatomie der Tiere war zu Goethes Zeit noch nicht so weit
vorgeschritten, daß er ein Lebewesen hätte
anführen können, welches wirklich an Stelle von
entwickelten Schädelknochen Wirbel hat und das also im
sinnlichen Bilde das zeigt, was bei den vollkommenen Tieren nur
der Idee nach vorhanden ist. Durch die Untersuchungen Carl
Gegenbauers, die im Jahre 1872 veröffentlicht worden sind,
ist es gelungen, eine solche Tierform anzugeben. Die Urfische
oder Selachier haben Schädelknochen und ein Gehirn, die
sich deutlich als Endglieder der Wirbelsäule und des
Rückenmarkes erweisen. Nach dem Befund an diesen Tieren
scheint allerdings eine größere Zahl von Wirbeln in
die Kopfbildung eingegangen zu sein (mindestens neun), als
Goethe angenommen hat. Dieser Irrtum über die Zahl der
Wirbel und auch noch die Tatsache, daß im Embryonalzustand
der Schädel der höheren Tiere keine Spur einer
Zusammensetzung aus wirbelartigen Teilen zeigt, sondern sich
aus einer einfachen knorpeligen Blase entwickelt, ist gegen den
Wert der Goetheschen Idee von der Umwandlung des
Rückenmarks und der Wirbelsäule angeführt
worden. Man gibt zwar zu, daß der Schädel aus Wirbeln
entstanden ist. Aber man leugnet, daß die Kopfknochen in
der Form, in der sie sich bei den höheren Tieren zeigen,
umgebildete Wirbel seien. Man sagt, daß eine vollkommene
Verschmelzung der Wirbel zu einer knorpeligen Blase
stattgefunden habe, in der die ursprüngliche
Wirbelstruktur vollständig verschwunden sei. Aus dieser
Knorpelkapsel haben sich dann die Knochenformen herausgebildet,
die an höheren Tieren wahrzunehmen sind. Diese Formen
haben sich nicht nach dem Urbilde des Wirbels gebildet, sondern
entsprechend den Aufgaben, die sie am entwickelten Kopfe zu
erfüllen haben. Man hätte also, wenn man nach einem
Erklärungsgrund für irgendeine
Schädelknochenform sucht, nicht zu fragen: wie hat sich
ein Wirbel umgebildet, um zu dem Kopfknochen zu werden; sondern
welche Bedingungen haben dazu geführt, daß sich diese
oder jene Knochengestalt aus der einfachen Knorpelkapsel
herausgetrennt hat? Man glaubt an die Bildung neuer Gestalten,
nach neuen Bildungsgesetzen, nachdem die ursprüngliche
Wirbelform in eine strukturlose Kapsel aufgegangen ist. Ein
Widerspruch zwischen dieser Auffassung und der Goetheschen kann
nur vom Standpunkte des Tatsachenfanatismus aus gefunden
werden. Was in der Knorpelkapsel des Schädels nicht mehr
sinnlich wahrnehmbar ist, die Wirbelstruktur, ist in ihr
gleichwohl der Idee nach vorhanden und tritt wieder in
die Erscheinung, sobald die Bedingungen dazu vorhanden sind. In
der knorpeligen Schädelkapsel verbirgt sich die Idee des
wirbelförmigen Grundorgans innerhalb der sinnlichen
Materie; in den ausgebildeten Schädelknochen tritt sie
wieder in die äußere Erscheinung.
*
Goethe hofft, daß sich ihm die Bildungsgesetze der
übrigen Teile des tierischen Organismus in derselben Weise
offenbaren werden, wie es diejenigen des Gehirns,
Rückenmarks und ihrer Umhüllungsorgane getan haben.
Über die am Lido gemachte Entdeckung läßt er am
30.April 1790 Herdern durch Frau von Kalb sagen, daß er
«der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen
um eine ganze Formel näher gerückt ist, und zwar
durch den sonderbarsten Zufall» (Goethe an Frau von Kalb).
Er glaubt, seinem Ziele so nahe zu sein, daß er noch in
demselben Jahre, das ihm den Fund gebracht hat, eine Schrift
über die tierische Bildung vollenden will, die sich der
«Metamorphose der Pflanzen» an die Seite stellen
läßt. (Briefwechsel mit Knebel, S. 98.) In Schlesien,
wohin er im Juli 1790 reist, treibt er Studien zur
vergleichenden Anatomie und beginnt an einem Aufsatz «
Über die Gestalt der Tiere» zu schreiben.
(Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 8, S. 261 ff.) Es ist Goethe
nicht gelungen, von dem glücklich gewonnenen
Ausgangspunkte aus zu den Bildungsgesetzen der ganzen
Tiergestalt fortzuschreiten. So viel Ansätze er auch dazu
macht, den Typus der tierischen Gestalt zu finden: etwas der
Idee der Urpflanze Analoges ist nicht zustande gekommen. Er
vergleicht die Tiere untereinander und mit dem Menschen und
sucht ein allgemeines Bild des tierischen Baues zu
gewinnen, nach welchem, als einem Muster, die Natur die
einzelnen Gestalten formt. Eine lebendige Vorstellung, die sich
nach den Grundgesetzen der tierischen Bildung mit einem Gehalt
erfüllt und so das Urtier der Natur gleichsam nachschafft,
ist dieses allgemeine Bild des tierischen Typus nicht. Ein
allgemeiner Begriff ist es nur, der von den besonderen
Erscheinungen abgezogen ist. Er stellt das Gemeinsame in den
mannigfaltigen Tierformen fest; aber er enthält nicht die
Gesetzmäßigkeit der Tierheit.
Alle
Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.
Gedicht «Die Metamorpbose der Tiere»
Wie
dieses Urbild durch gesetzmäßige Umformung eines
Grundgliedes sich als vielgliedrige Urform des tierischen
Organismus entwickelt, davon konnte Goethe eine einheitliche
Vorstellung nicht entwickeln. Sowohl der Versuch über
«die Gestalt der Tiere» als auch der 1795 in Jena
entstandene «Entwurf einer vergleichenden Anatomie,
ausgehend von der Osteologie» und seine spätere
ausführlichere Gestalt «Vorträge über die
drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung
in die vergleichende Anatomie» (1796) enthalten nur
Anleitungen darüber, wie die Tiere zweckmäßig zu
vergleichen sind, um ein allgemeines Schema zu gewinnen, nach
dem die schaffende Gewalt die «organischen Naturen erzeugt
und entwickelt »,eine Norm, nach welcher die
«Beschreibungen auszuarbeiten» und auf welche,
«indem solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere
abgezogen wäre, die verschiedensten Gestalten wieder
zurückzuführen» sind (vgl. die genannten
«Vorträge»). Bei der Pflanze hingegen hat Goethe
gezeigt, wie ein Urgebilde durch aufeinanderfolgende
Modifikationen sich gesetzmäßig zu der vollkommenen
organischen Gestalt ausbildet.
Wenn er auch nicht die schaffende Naturgewalt in ihrer
Bildungs- und Umbildungskraft durch die verschiedenen Glieder
des tierischen Organismus hindurch verfolgen konnte, so ist es
Goethe doch gelungen, einzelne Gesetze zu finden, an die sich
die Natur bei der Bildung der tierischen Formen hält,
welche die allgemeine Norm zwar festhalten, doch aber in der
Erscheinung verschieden sind. Er stellt sich vor, daß die
Natur nicht die Fähigkeit habe, das allgemeine Bild
beliebig zu verändern. Wenn sie in einer Form ein Glied in
besonders vollkommener Form ausbildet, so kann dies nur auf
Kosten eines andern geschehen. Im Urorganismus sind alle
Glieder enthalten, die bei irgendeinem Tiere vorkommen
können. Bei der einzelnen Tierform ist das eine
ausgebildet, das andere nur angedeutet; das eine besonders
vollkommen entwickelt, das andere vielleicht für die
sinnliche Beobachtung gar nicht wahrzunehmen. Für den
letzteren Fall ist Goethe überzeugt, daß in jedem
Tiere das, was von dem allgemeinen Typus an ihm nicht
sichtbar, doch in der Idee vorhanden ist.
Siehst
du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug
Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa
Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste.
Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den
Schlüssel,
Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den
obern
Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,
Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter
Ganz unmöglich zu bilden und böte sie alle Gewalt
auf:
Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne
Völlig zu pflanzen und auch ein Geweih und Hörner
zu
treiben.
«Die Metamotphose der Tiere»
Im
Urorganismus sind alle Glieder ausgebildet und halten sich das
Gleichgewicht; die Mannigfaltigkeit des Einzelnen entsteht
dadurch, daß die Kraft der Bildung sich auf das eine Glied
wirft und dafür ein anderes in der äußeren
Erscheinung gar nicht oder nur andeutungsweise entwikkelt.
Dieses Gesetz des tierischen Organismus nennt man heute das von
der Korrelation oder Kompensation der Organe.
*
Goethe denkt sich in der Urpflanze die ganze Pflanzenwelt, in
dem Urtiere die ganze Tierwelt der Idee nach enthalten. Aus
diesem Gedanken entsteht die Frage: wie kommt es, daß in
dem einen Falle diese bestimmten Pflanzen- oder Tierformen, in
dem andern Falle andere entstehen? Unter welchen Bedingungen
wird aus dem Urtiere ein Fisch? Unter welchen ein Vogel? Goethe
findet zur Erklärung des Baues der Organismen in der
Wissenschaft eine Vorstellungsart vor, die ihm zuwider ist. Die
Anhänger dieser Vorstellungsart fragen bei jedem Organ:
wozu dient es dem Lebewesen, an dem es vorkommt? Einer solchen
Frage liegt der allgemeine Gedanke zugrunde, daß ein
göttlicher Schöpfer oder die Natur jedem Wesen einen
bestimmten Lebenszweck vorgesetzt und ihm dann einen solchen
Bau gegeben habe, daß es diesen Zweck erfüllen
könnte. Goethe findet eine solche Frage ebenso ungereimt,
wie etwa die: zu welchem Zwecke bewegt sich eine elastische
Kugel, wenn sie von einer anderen gestoßen wird? Eine
Erklärung der Bewegung kann nur gegeben werden durch
Auffinden des Gesetzes, nach welchem die Kugel durch einen
Stoß oder eine andere Ursache in Bewegung versetzt worden
ist. Man fragt nicht: wozu dient die Bewegung der Kugel,
sondern: woher entspringt sie? Ebenso soll man, nach Goethes
Meinung, nicht fragen: wozu hat der Stier Hörner, sondern:
wie kann er Hörner haben. Durch welche Gesetze
tritt in dem Stier das Urtier als hörnertragende Form auf?
Goethe hat die Idee der Urpflanze und des Urtiers gesucht, um
in ihnen die Erklärungsgründe für die
Mannigfaltigkeit der organischen Formen zu finden. Die
Urpflanze ist das schaffende Element in der Pflanzenwelt. Will
man eine einzelne Pflanzenart erklären, so muß man
zeigen, wie dieses schaffende Element in dem besonderen Falle
wirkt. Die Vorstellung, ein organisches Wesen verdanke seine
Gestalt nicht den in ihm wirkenden und bildenden Kräften,
sondern sie sei ihm zu gewissen Zwecken von außen
aufgedrängt, wirkt auf Goethe geradezu abstoßend. Er
schreibt: «Neulich fand ich in einer leidig
apostolisch-kapuzinermäßigen Deklamation des
Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles, was
Leben hat, lebt durch etwas außer sich. Oder so
ungefähr klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer
hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht
beim Ärmel.» (Italienische Reise, 5.Oktober 1787.)
Goethe denkt sich das organische Wesen als eine kleine Welt,
die durch sich selbst da ist und sich nach ihren Gesetzen
gestaltet. «Die Vorstellungsart, daß ein lebendiges
Wesen zu gewissen Zwecken nach außen hervorgebracht und
seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determiniert
werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der
natürlichen Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten,
und hält uns noch auf, obgleich einzelne Männer diese
Vorstellungsart eifrig bestritten, die Hindernisse, welche sie
in den Weg legt, gezeigt haben... Es ist, wenn man sich so
ausdrücken darf, eine triviale Vorstellungsart, die eben
deswegen, wie alle trivialen Dinge, trivial ist, weil sie der
menschlichen Natur im ganzen bequem und zureichend ist.»
(Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 7, S. 217 f.) Es ist allerdings
bequem zu sagen: ein Schöpfer hat bei Erschaffung einer
organischen Art einen gewissen Zweckgedanken zu Grunde gelegt,
und ihr deswegen eine bestimmte Gestalt gegeben. Goethe will
aber die Natur nicht aus den Absichten irgendeines außer
der Natur befindlichen Wesens, sondern aus den in ihr selbst
liegenden Bildungsgesetzen erklären. Eine einzelne
organische Form entsteht dadurch, daß Urpflanze oder
Urtier in einem besonderen Falle sich eine bestimmte Gestalt
geben. Diese Gestalt muß eine solche sein, daß die
Form innerhalb der Bedingungen, in denen sie lebt, auch leben
kann. «... die Existenz eines Geschöpfes, das wir
Fisch nennen, sei nur unter der Bedingung eines Elementes, das
wir Wasser nennen, möglich ...» (Sophien-Ausgabe, 2.
Abt., Band 7, S. 221.) Will Goethe begreifen, welche
Bildungsgesetze eine bestimmte organische Form hervorbringen,
so hält er sich an seinen Urorganismus. In ihm liegt die
Kraft, sich in den mannigfaltigsten äußeren Gestalten
zu verwirklichen. Um einen Fisch zu erklären, würde
Goethe untersuchen, welche Bildungskräfte das Urtier
anwendet, um von allen Gestalten, die der Idee nach in ihm
liegen, gerade die Fischgestalt hervorzubringen. Würde das
Urtier innerhalb gewisser Verhältnisse sich in einer
Gestalt verwirklichen, in der es nicht leben kann, so ginge es
zugrunde. Erhalten kann sich eine organische Form
innerhalb gewisser Lebensbedingungen nur, wenn es denselben
angepaßt ist.
Also
bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
Mächtig zurück. So zeigt sich fest die geordnete
Bildung,
Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich
wirkende
Wesen
«Die Metamorphose der Tiere»
Die
in einem gewissen Lebenselemente dauernden organischen
Formen sind durch die Natur dieses Elementes bedingt. Wenn eine
organische Form aus einem Lebenselemente in ein anderes
käme, so müßte sie sich entsprechend
verändern. Das wird in bestimmten Fällen eintreten
können, denn der ihr zugrunde liegende Urorganismus hat
die Fähigkeit, sich in unzähligen Gestalten zu
verwirklichen. Die Umwandlung der einen Form in die andere ist
aber, nach Goethes Ansicht, nicht so zu denken, daß die
äußeren Verhältnisse die Form unmittelbar nach
sich umbilden, sondern so, daß sie die Veranlassung
werden, durch die sich die innere Wesenheit verwandelt.
Veränderte Lebensbedingungen reizen die organische
Form, sich nach inneren Gesetzen in einer gewissen Weise
umzubilden. Die äußeren Einflüsse wirken
mittelbar, nicht unmittelbar auf die Lebewesen. Unzählige
Lebensformen sind in Urpflanze und Urtier der Idee nach
enthalten; diejenigen kommen zur tatsächlichen Existenz,
auf welche äußere Einflüsse als Reize wirken.
Die Vorstellung, daß eine Pflanzen- oder Tierart sich im
Laufe der Zeiten durch gewisse Bedingungen in eine andere
verwandle, hat innerhalb der Goetheschen Naturanschauung ihre
volle Berechtigung. Goethe stellt sich vor, daß die Kraft,
welche im Fortpflanzungsvorgang ein neues Individuum
hervorbringt, nur eine Umwandlung derjenigen Kraftform ist, die
auch die fortschreitende Umbildung der Organe im Verlaufe des
Wachstums bewirkt. Die Fortpflanzung ist ein Wachstum über
das Individuum hinaus. Wie das Grundorgan während des
Wachstums eine Folge von Veränderungen durchläuft,
die der Idee nach gleich sind, so kann auch bei der
Fortpflanzung eine Umwandlung der äußeren Gestalt
unter Festhaltung des ideellen Urbildes stattfinden. Wenn eine
ursprüngliche Organismenform vorhanden war, so konnten die
Nachkommen derselben im Laufe großer Zeiträume durch
allmähliche Umwandlung in die gegenwärtig die Erde
bevölkernden mannigfaltigen Formen übergehen. Der
Gedanke einer tatsächlichen Blutsverwandtschaft aller
organischen Formen fließt aus den Grundanschauungen
Goethes. Er hätte ihn sogleich nach der Konzeption seiner
Ideen von Urtier und Urpflanze in vollkommener Form aussprechen
können. Aber er drückt sich, wo er diesen Gedanken
berührt, zurückhaltend, ja unbestimmt aus. In dem
Aufsatz: «Versuch einer allgemeinen
Vergleichungslehre», der nicht lange nach der
«Metamorphose der Pflanzen» entstanden sein
dürfte, ist zu lesen: «Und wie würdig ist es der
Natur, daß sie sich immer derselben Mittel bedienen
muß, um ein Geschöpf hervorzubringen und es zu
ernähren! So wird man auf eben diesen Wegen fortschreiten
und, wie man nur erst die unorganisierten, undeterminierten
Elemente als Vehikel der unorganisierten Wesen angesehen, so
wird man sich nunmehr in der Betrachtung erheben und wird die
organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen
Elementen ansehen. Das ganze Pflanzenreich zum Exempel wird uns
wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches ebensogut
zur bedingten Existenz der Insekten nötig ist als das
Weltmeer und die Flüsse zur bedingten Existenz der Fische,
und wir werden sehen, daß eine ungeheure Anzahl lebender
Geschöpfe in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt
werde, ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder
nur als ein großes Element ansehen, wo ein Geschlecht auf
dem andern und durch das andere, wo nicht entsteht, doch
sich erhält.» Rückhaltloser ist folgender Satz
der «Vorträge über die drei ersten Kapitel des
Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende
Anatomie»(1796): «Dies also hätten wir gewonnen,
ungeschult behaupten zu können: daß alle
vollkommeneren organischen Naturen, worunter wir Fische,
Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der
letzten den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt
seien, das nur in seinen beständigen Teilen mehr oder
weniger hin- und hersieht und sich noch täglich durch
Fortpflanzung aus- und umbildet.» Goethes Vorsicht dem
Umwandlungsgedanken gegenüber ist begreiflich. Der Zeit,
in welcher er seine Ideen ausbildete, war dieser Gedanke nicht
fremd. Aber sie hatte ihn in der wüstesten Weise
ausgebildet. «Die damalige Zeit (schreibt Goethe 1807,
vgl. Kürschner, Band 33, S. 15) jedoch war dunkler, als
man es sich jetzt vorstellen kann. Man behauptete zum Beispiel,
es hänge nur vom Menschen ab, bequem auf allen Vieren zu
gehen, und Bären, wenn sie sich eine Zeitlang aufrecht
hielten, könnten zu Menschen werden. Der verwegene Diderot
wagte gewisse Vorschläge, wie man ziegenfüßige
Faune hervorbringen könne, um solche in Livre'e, zu
besonderem Staat und Auszeichnung, den Großen und Reichen
auf die Kutsche zu stiften.» Mit solchen unklaren
Vorstellungen wollte Goethe nichts zu tun haben. Ihm lag daran,
eine Idee von den Grundgesetzen des Lebendigen zu gewinnen.
Dabei wurde ihm klar, daß die Gestalten des Lebendigen
nichts Starres, Unveränderliches, sondern daß sie in
einer fortwährenden Umbildung begriffen sind. Wie diese
Umbildung sich im einzelnen vollzieht, festzustellen, dazu
fehlten ihm die Beobachtungen. Erst Darwins Forschungen und
Haeckels geistvolle Reflexionen haben einiges Licht auf die
tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse einzelner
organischer Formen geworfen. Vom Standpunkte der Goetheschen
Weltanschauung kann man sich den Behauptungen des Darwinismus
gegenüber, soweit sie das tatsächliche Hervorgehen
einer organischen Art aus der andern betreffen, nur zustimmend
verhalten. Goethes Ideen dringen aber tiefer in das Wesen des
Organischen ein als der Darwinismus der Gegenwart. Dieser
glaubt die im Organischen gelegenen inneren Triebkräfte,
die sich Goethe unter dem sinnlich-übersinnlichen Bilde
vorstellt, entbehren zu können. Ja, er spricht Goethe
sogar die Berechtigung ab, von seinen Voraussetzungen aus von
einer wirklichen Umwandlung der Organe und Organismen zu
sprechen. Jul. Sachs weist Goethes Gedanken mit den Worten
zurück, er übertrage «die vom Verstand
vollzogene Abstraktion auf das Objekt selbst, indem er diesem
eine Metamorphose zuschreibt, die sich im Grunde genommen nur
in unserem Begriffe vollzogen hat.» Goethe soll, nach
dieser Ansicht, nichts weiter getan haben, als
Laubblätter, Kelchblätter, Blumenblätter usw.
unter einen allgemeinen Begriff gebracht und mit dem Namen
Blatt bezeichnet haben. «Ganz anders freilich wäre
die Sache, wenn ... wir annehmen dürften, daß bei den
Vorfahren der uns vorliegenden Pflanzenform die Staubfäden
gewöhnliche Blätter waren usw.» (Sachs,
«Geschichte der Botanik» 1875, S.169). Diese Ansicht
entspringt dem Tatsachenfanatismus, der nicht einsehen kann,
daß die Ideen ebenso objektiv zu den Dingen gehören,
wie das, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann. Goethe ist der
Ansicht, daß von Verwandlung eines Organes in das andere
nur gesprochen werden kann, wenn beide außer ihrer
äußeren Erscheinung noch etwas enthalten, das ihnen
gemeinsam ist. Das ist die sinnlich-übersinnliche Form.
Das Staubgefäß einer uns vorliegenden Pflanzenform
kann nur dann als das umgewandelte Blatt der Vorfahren
bezeichnet werden, wenn in beiden die gleiche
sinnlich-übersinnliche Form lebt. Ist das nicht der Fall,
entwickelt sich an der uns vorliegenden Pflanzenform einfach an
derselben Stelle ein Staubgefäß, an der sich bei den
Vorfahren ein Blatt entwickelt hat, dann hat sich nichts
verwandelt, sondern es ist an die Stelle des einen Organes ein
anderes getreten. Der Zoologe Oskar Schmidt fragt: «Was
sollte denn auch nach Goethes Anschauung umgebildet werden? Das
Urbild doch wohl nicht» («War Goethe
Darwinianer?» Graz 1871, S. 22). Gewiß wandelt sich
nicht das Urbild um, denn dieses Ist ja in allen Formen das
gleiche. Aber eben weil dieses gleich bleibt, können die
äußeren Gestalten verschieden sein und doch ein
einheitliches Ganzes darstellen. Könnte man nicht in zwei
auseinander entwickelten Formen das gleiche ideelle Urbild
erkennen, so könnte keine Beziehung zwischen ihnen
angenommen werden. Erst durch die Vorstellung der ideellen
Urform kann man mit der Behauptung, die organischen Formen
entstehen durch Umbildung auseinander, einen wirklichen Sinn
verbinden. Wer nicht zu dieser Vorstellung sich erhebt, der
bleibt innerhalb der bloßen Tatsachen stecken. In ihr
liegen die Gesetze der organischen Entwicklung. Wie durch
Keplers drei Grundgesetze die Vorgänge im
Sonnensystem begreiflich sind, so durch Goethes ideelle
Urbilder die Gestalten der organischen Natur.
*
Kant, der dem menschlichen Geiste die Fähigkeit abspricht,
ein Ganzes ideell zu durchdringen, durch welches ein
Mannigfaltiges in der Erscheinung bestimmt wird, nennt es ein
«gewagtes Abenteuer der Vernunft », wenn jemand die
einzelnen Formen der organischen Welt aus einem Urorganismus
erklären wolle. Für ihn ist der Mensch nur imstande,
die mannigfaltigen Einzelerscheinungen in einen allgemeinen
Begriff zusammenzufassen, durch den sich der Verstand ein Bild
macht von der Einheit. Dieses Bild ist aber nur im menschlichen
Geiste vorhanden und hat nichts zu tun mit der schaffenden
Gewalt, durch welche die Einheit wirklich die Mannigfaltigkeit
aus sich hervorgehen läßt. Das «gewagte
Abenteuer der Vernunft» bestände darin, daß
jemand annehme, die Erde ließe aus ihrem Mutterschoß
erst einfache Organismen von minder zweckmäßiger
Bildung hervorgehen, die aus sich zweckmäßigere
Formen gebären. Daß ferner aus diesen noch
höhere sich entwickeln, bis hinauf zu den vollkommensten
Lebewesen. Wenn auch jemand eine solche Annahme machte, meint
Kant, so könne er doch nur eine absichtsvolle
Schöpferkraft zu Grunde legen, welche der Entwicklung
einen solchen Anstoß gegeben hat, daß sich alle ihre
einzelnen Glieder zweckmäßig entwickeln. Der Mensch
nimmt eben eine Vielheit mannigfaltiger Organismen wahr; und da
er nicht in sie hineindringen kann, um zu sehen, wie sie sich
selbst eine Form geben, die dem Lebenselement angepaßt
ist, in dem sie sich entwickeln, so muß er sich
vorstellen, sie seien von außen her so eingerichtet,
daß sie innerhalb ihrer Bedingungen leben können.
Goethe legt sich die Fähigkeit bei, zu erkennen, wie die
Natur aus dem Ganzen das Einzelne, aus dem Innern das
Äußere schafft. Was Kant «Abenteuer der
Vernunft» nennt, will er deshalb mutig bestehen (vgl. den
Aufsatz «Anschauende Urteilskraft», Kürschner,
Bd. 33, S.115 f.). Wenn wir keinen anderen Beweis dafür
hätten, daß Goethe den Gedanken einer
Blutsverwandtschaft aller organischen Formen innerhalb der hier
angedeuteten Grenzen als berechtigt anerkennt, wir
müßten es aus diesem Urteil über Kants
«Abenteuer der Vernunft» folgern.
*
Ein
noch vorhandener skizzenhafter «Entwurf einer
Morphologie»läßt erraten, daß Goethe den
Plan hatte, die besonderen Gestalten in ihrer Stufenfolge
darzustellen, die seine Urpflanze und sein Urtier in den
Hauptformen der Lebewesen annehmen (vgl. Sophien-Ausgabe, z.
Abt., Band 6, S.321). Er wollte zuerst das Wesen des
Organischen schildern, wie es ihm bei seinem Nachdenken
über Tiere und Pflanzen aufgegangen. Dann «aus einem
Punkte ausgehend» zeigen, wie das organische Urwesen sich
nach der einen Seite zu der mannigfaltigen Pflanzenwelt, nach
der anderen zu der Vielheit der Tierformen entwickelt, wie die
besonderen Formen der Würmer, Insekten, der höheren
Tiere und die Form des Menschen aus dem allgemeinen Urbilde
abgeleitet werden können. Auch auf die Physiognomik und
Schädellehre sollte ein Licht fallen. Die äußere
Gestalt im Zusammenhange mit den inneren geistigen
Fähigkeiten darzustellen, machte sich Goethe zur Aufgabe.
Es drängte ihn, den organischen Bildungstrieb, der sich in
den niederen Organismen in einer einfachen äußeren
Erscheinung darbietet, zu verfolgen in seinem Streben, sich
stufenweise in immer vollkommeneren Gestalten zu verwirklichen,
bis er sich in dem Menschen eine Form gibt, die diesen zum
Schöpfer der geistigen Erzeugnisse geeignet macht.
Dieser Plan Goethes ist ebensowenig zur Ausführung
gekommen, wie ein anderer, zu dem das Fragment
«Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen» ein
Anlauf ist (vgl. Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 6, S. 286 ff.).
Goethe wollte zeigen, wie alle einzelnen Zweige des
Naturerkennens: Naturgeschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie,
Zoonomie und Physiologie zusammenwirken müssen, um von
einer höheren Anschauungsweise dazu verwendet zu werden,
Gestalten und Vorgänge der Lebewesen zu erklären. Er
wollte eine neue Wissenschaft, eine allgemeine Morphologie der
Organismen aufstellen, «zwar nicht dem Gegenstande nach,
denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode
nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigene Gestalt geben
muß, als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz
anzuweisen hat ...». Was die Anatomie, Naturgeschichte,
Naturlehre, Chemie, Zoonomie, Physiologie an einzelnen
Naturgesetzen darbieten, soll von der lebendigen Vorstellung
des Organischen ebenso aufgenommen und auf eine höhere
Stufe gestellt werden, wie das Lebewesen selbst die einzelnen
Naturvorgänge in den Kreis seiner Bildung aufnimmt und auf
eine höhere Stufe des Wirkens stellt.
Goethe ist zu den Ideen, die ihm durch das Labyrinth der
lebendigen Gestalten durchhalfen, auf eigenen Wegen gelangt.
Die herrschenden Anschauungen über wichtige Gebiete des
Naturwirkens widersprachen seiner allgemeinen Weltanschauung.
Deshalb mußte er sich selbst über solche Gebiete
Vorstellungen ausbilden, die seinem Wesen gemäß
waren. Er war aber überzeugt, daß es nichts Neues
unter der Sonne gebe, und daß man «gar wohl in
Überlieferungen schon angedeutet finden könne, was
man selbst gewahr wird». Er teilt gelehrten Freunden aus
diesem Grund seine Schrift über die «Metamorphose der
Pflanzen» mit und bittet sie, ihm darüber Auskunft zu
geben, ob über den behandelten Gegenstand schon etwas
geschrieben oder überliefert ist. Er hat die Freude,
daß in Friedrich August Wolf auf einen
«trefflichen Vorarbeiter», Kaspar Friedrich
Wolff, aufmerksam macht. Goethe macht sich mit dessen
1759 erschienenen «Theoria generationis» bekannt.
Gerade an diesem Vorarbeiter aber ist zu beobachten, wie jemand
eine richtige Ansicht über die Tatsachen haben und doch
nicht zur vollendeten Idee der organischen Bildung kommen kann,
wenn er nicht fähig ist, sich durch ein höheres als
das sinnliche Anschauungsvermögen in den Besitz der
sinnlich-übersinnlichen Form des Lebens zu setzen.
Wolf ist ein ausgezeichneter Beobachter. Er sucht durch
mikroskopische Untersuchungen sich über die Anfänge
des Lebens aufzuklären. Er erkennt in dem Kelch, der
Blumenkrone, den Staubgefäßen, dem Stempel, dem
Samen, umgewandelte Blätter. Aber er schreibt die
Umwandlung einer allmählichen Abnahme der Lebenskraft zu,
die in dem Maße sich vermindern soll, als die Vegetation
länger fortgesetzt wird, um endlich ganz zu verschwinden.
Kelch, Krone usw. sind ihm daher eine unvollkommene Ausbildung
der Blätter. Wolf ist als Gegner Hallers aufgetreten, der
die Präformations- oder Einschachtelungslehre vertrat.
Nach dieser sollten alle Glieder eines ausgewachsenen
Organismus im Keim schon im Kleinen vorgebildet sein, und zwar
in derselben Gestalt und gegenseitigen Anordnung wie im
vollendeten Lebewesen. Die Entwicklung eines Organismus ist
demzufolge nur eine Auswicklung des schon Vorhandenen. Wolf
ließ nur das gelten, was er mit Augen sah. Und da der
eingeschachtelte Zustand eines Lebewesens auch durch die
sorgfältigsten Beobachtungen nicht zu entdecken war,
betrachtete er die Entwicklung als eine wirkliche Neubildung.
Die Gestalt eines organischen Wesens ist, nach seiner Ansicht,
im Keime noch nicht vorhanden. Goethe ist derselben Meinung in
Bezug auf die äußere Erscheinung. Auch er lehnt die
Einschachtelungslehre Hallers ab. Für Goethe ist der
Organismus im Keime zwar vorgebildet, aber nicht der
äußeren Erscheinung, sondern der Idee nach.
Die äußere Erscheinung betrachtet auch er als eine
Neubildung. Aber er wirft Wolf vor, daß dieser da, wo er
nichts mit den Augen des Leibes sieht, auch mit Geistesaugen
nichts wahrnimmt. Wolf hatte keine Vorstellung davon, daß
etwas der Idee nach doch vorhanden sein kann, auch wenn es
nicht in die äußere Erscheinung tritt. «Deshalb
ist er immer bemüht, auf die Anfänge der
Lebensbildung durch mikroskopische Untersuchungen zu dringen,
und so die organischen Embryonen von ihrer frühesten
Erscheinung bis zur Ausbildung zu verfolgen. Wie vortrefflich
diese Methode auch sei, durch die er soviel geleistet hat, so
dachte der treffliche Mann doch nicht, daß es ein
Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, daß die
Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen
Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät zu
sehen und doch vorbeizusehen. - Bei der Pflanzenverwandlung sah
er dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich
verkleinern; daß aber dieses Zusammenziehen mit einer
Ausdehnung abwechsle, sah er nicht. Er sah, daß es sich an
Volum verringere, und bemerkte nicht, daß es sich zugleich
veredle, und schrieb daher den Weg zur Vollendung, widersinnig,
einer Verkümmerung zu» (Kürschner, Band 33,
S.107 f.).
*
Bis
zu seinem Lebensende stand Goethe mit zahlreichen
Naturforschern in persönlichem und schriftlichem Verkehre.
Er beobachtete die Fortschritte der Wissenschaft von den
Lebewesen mit dem regsten Interesse; er sah mit Freuden, wie in
diesem Erkenntnisgebiete Vorstellungsarten Eingang fanden, die
sich der seinigen näherten und wie auch seine
Metamorphosenlehre von einzelnen Forschern anerkannt und
fruchtbar gemacht wurde. Im Jahre 1817 begann er seine Arbeiten
zu sammeln und in einer Zeitschrift, die er unter dem Titel
«Zur Morphologie» begründete, herauszugeben. Zu
einer Weiterbildung seiner Ideen über organische Bildung
durch eigene Beobachtung oder Reflexion kam er trotz alledem
nicht mehr. Zu einer eingehenderen Beschäftigung mit
solchen Ideen fand er sich nur noch zweimal angeregt. In beiden
Fällen fesselten ihn wissenschaftliche Erscheinungen, in
denen er eine Bestätigung seiner Gedanken fand. Die eine
waren die Vorträge, die K. F. Ph.Martius über die
«Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation» auf den
Naturforscherversammlungen in den Jahren 1828 und 1829 hielt
und von denen die Zeitschrift «Isis» Auszüge
brachte; die andere ein naturwissenschaftlicher Streit in der
französischen Akademie, der im Jahre 1830 zwischen
Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier ausbrach.
Martius dachte sich das Wachstum der Pflanze von zwei Tendenzen
beherrscht, von einem Streben in der senkrechten Richtung,
wovon Wurzel und Stengel beherrscht werden; und von einem
anderen, wodurch Blätter-, Blütenorgane usw.
veranlaßt werden, sich gemäß der Form einer
Spirallinie an die senkrechten Organe anzugliedern. Goethe
griff diese Ideen auf und brachte sie mit seiner Vorstellung
von der Metamorphose in Verbindung. Er schrieb einen
längeren Aufsatz (Kürschner, Band 33), in dem er alle
seine Erfahrungen über die Pflanzenwelt zusammenstellte,
die ihm auf das Vorhandensein der zwei Tendenzen hinzudeuten
schienen. Er glaubt, daß er diese Tendenzen in seine Idee
der Metamorphose aufnehmen müsse. «Wir mußten
annehmen: es walte in der Vegetation eine allgemeine
Spiraltendenz, wodurch, in Verbindung mit dem vertikalen
Streben, aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Gesetze
der Metamorphose vollbracht wird.» Das Vorhandensein der
Spiralgefäße in einzelnen Pflanzenorganen faßt
Goethe als Beweis auf, daß die Spiraltendenz das Leben der
Pflanze durchgreifend beherrscht. «Nichts ist der Natur
gemäßer, als daß sie das, was sie im ganzen
intentioniert, durch das einzelnste in Wirksamkeit
versetzt.» «Man trete zur Sommerzeit vor eine im
Gartenboden eingesteckte Stange, an welcher eine Winde
(Konvolvel) von unten an sich fortschlängelnd in die
Höhe steigt, sich fest anschließend ihr lebendiges
Wachstum verfolgt. Man denke sich Konvolvel und Stange, beide
gleich lebendig, aus einer Wurzel aufsteigend, sich
wechselweise hervorbringend und so unaufhaltsam fortschreitend.
Wer sich diesen Anblick in ein inneres Anschauen verwandeln
kann, der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben. Die
rankende Pflanze sucht das außer sich, was sie sich selbst
geben sollte und nicht vermag.» Dasselbe Gleichnis wendet
Goethe am 5. März 1832 in einem Briefe an den Grafen
Sternberg an und setzt die Worte hinzu: «Freilich
paßt dies Gleichnis nicht ganz, denn im Anfang mußte
die Schlingpflanze um den sich erhebenden Stamm in kaum
merklichen Kreisen herauswinden. Je mehr sie sich aber der
oberen Spitze näherte, desto schneller mußte die
Schraubenlinie sich drehen, um endlich (bei der Blüte) in
einem Kreise auf einen Diskus sich zu versammeln, dem Tanze
ähnlich, wo man sich in der Jugend gar oft Brust an Brust,
Herz an Herz mit den liebenswürdigsten Kindern selbst
wider Willen gedrückt sah. Verzeih diese
Anthropomorphismen.» Ferdinand Cohn bemerkt zu
dieser Stelle: «Hätte Goethe nur noch Darwin erlebt!
... wie würde er sich des Mannes erfreut haben, der durch
streng induktive Methode klare und überzeugende Beweise
für seine Ideen zu finden wußte ...» Darwin
meint, von fast allen Pflanzenorganen zeigen zu können,
daß sie in der Zeit ihres Wachstums die Tendenz zu
schraubenförmigen Bewegungen haben, die er circummutation
nennt.
Im
September 1830 spricht sich Goethe in einem Aufsatz über
den Streit der beiden Naturforscher Cuvier und Geoffroy de
Saint-Hilaire aus; im März 1832 setzt er diesen Aufsatz
fort. Der Tatsachenfanatiker Cuvier trat im Februar und
März 1830 in der französischen Akademie gegen die
Ausführungen Geoffroy de Saint-Hilaires auf, der, nach
Goethes Meinung, zu «einer hohen, der Idee
gemäßen Denkweise gelangt» war. Cuvier ist ein
Meister im Unterscheiden der einzelnen organischen Formen.
Geoffroy bemüht sich, die Analogien in diesen Formen
aufzusuchen und den Nachweis zu führen, die Organisation
der Tiere sei «einem allgemeinen, nur hier und da
modifizierten Plan, woher die Unterscheidung derselben
abzuleiten sei, unterworfen». Er strebt die Verwandtschaft
der Gesetze zu erkennen und ist der Überzeugung, das
Einzelne könne aus dem Ganzen nach und nach entwickelt
werden. Goethe betrachtet Geoffroy als Gesinnungsgenossen; er
spricht das am 2August 1830 zu Eckermann mit den Worten
aus:
«Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden
auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden
Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist
für mich von ganz unglaublichem Wert und ich juble mit
Recht über den endlichen Sieg einer Sache, der ich mein
Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die
meinige ist.» Geoffroy übt eine Denkweise, die auch
die Goethes ist, er sucht in der Erfahrung mit dem sinnlich
Mannigfaltigen zugleich auch die Idee der Einheit zu ergreifen;
Cuvier hält sich an das Mannigfaltige, an das Einzelne,
weil ihm bei dessen Betrachtung die Idee nicht zugleich
aufgeht. Geoffroy hat eine richtige Empfindung von dem
Verhältnisse des Sinnlichen zur Idee; Cuvier hat sie
nicht. Deshalb bezeichnet er Geoffroys umfassendes Prinzip als
anmaßlich, ja, erklärt es sogar für
untergeordnet. Man kann besonders an Naturforschern die
Erfahrung machen, daß sie absprechend über ein
«bloß»Ideelles, Gedachtes sprechen. Sie haben
kein Organ für das Ideelle und kennen daher dessen
Wirkungskreise nicht. Goethe wurde dadurch, daß er dieses
Organ in besonders vollkommener Ausbildung besaß, von
seiner allgemeinen Weltanschauung aus zu seinen tiefen
Einsichten in das Wesen des Lebendigen geführt. Seine
Fähigkeit, die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in
stetem lebendigen Bunde wirken zu lassen, machte es ihm
möglich, die einheitliche sinnlich-übersinnliche
Wesenheit anzuschauen, die sich durch die organische
Entwicklung hindurchzieht, und diese Wesenheit auch da
anzuerkennen, wo ein Organ sich aus dem andern herausbildet,
durch Umbildung seine Verwandtschaft, seine Gleichheit mit dem
vorhergehenden verbirgt, verleugnet und sich in Bestimmung wie
in Bildung in dem Grade verändert, daß keine
Vergleichung nach äußeren Kennzeichen mehr mit dem
vorhergehenden stattfinden könne. (Vgl. den Aufsatz
über Joachim Jungius, Kürschner, Band 33.) Das Sehen
mit den Augen des Leibes vermittelt die Erkenntnis des
Sinnlichen und Materiellen; das Sehen mit Geistesaugen
führt zur Anschauung der Vorgänge im menschlichen
Bewußtsein, zur Beobachtung der Gedanken-, Gefühls-
und Willenswelt; der lebendige Bund zwischen geistigem und
leiblichem Auge befähigt zur Erkenntnis des Organischen,
das als sinnlich-übersinnliches Element zwischen dem rein
Sinnlichen und rein Geistigen in der Mitte liegt.
Die
Betrachtung der Farbenwelt
Die Erscheinungen der Farbenwelt
Goethe wird durch die Empfindung, daß «die hohen
Kunstwerke von Menschen nach wahren und
natürlichen Gesetzen hervorgebracht» sind,
fortwährend angeregt, diese wahren und natürlichen
Gesetze des künstlerischen Schaffens aufzusuchen. Er ist
überzeugt, die Wirkung eines Kunstwerkes müsse darauf
beruhen, daß aus demselben eine natürliche
Gesetzmäßigkeit herausleuchtet. Er will diese
Gesetzmäßigkeit erkennen. Er will wissen, aus welchem
Grunde die höchsten Kunstwerke zugleich die höchsten
Naturwerke sind. Es wird ihm klar, daß die Griechen nach
eben den Gesetzen verfuhren, nach denen die Natur
verfährt, als sie «aus der menschlichen Gestalt den
Kreis göttlicher Bildung» entwickelten (Italienische
Reise, 28. Januar 1787). Er will sehen, wie die Natur diese
Bildung zustande bringt, um sie in den Kunstwerken verstehen zu
können. Goethe schildert, wie es ihm in Italien
allmählich gelungen ist, zu einer Einsicht in die
natürliche Gesetzmäßigkeit des
künstlerischen Schaffens zu kommen (vgl. «Konfession
des Verfassers», Kürschner, Band 36). «Zum
Glück konnte ich mich an einigen von der Poesie
herübergebrachten, mir durch inneres Gefühl und
langen Gebrauch bewährten Maximen festhalten, so daß
es mir zwar schwer, aber nicht unmöglich ward, durch
ununterbrochenes Anschauen der Natur und Kunst, durch
lebendiges wirksames Gespräch mit mehr oder weniger
einsichtigen Kennern, durch stetes Leben mit mehr oder weniger
praktischen oder denkenden Künstlern, nach und nach mir
die Kunst überhaupt einzuteilen, ohne sie zu
zerstückeln, und ihre verschiedenen, lebendig ineinander
greifenden Elemente gewahr zu werden.» Nur ein einziges
Element will ihm nicht die natürlichen Gesetze offenbaren,
nach denen es im Kunstwerke wirkt: das Kolorit. Mehrere
Gemälde werden «in seiner Gegenwart erfunden und
komponiert, die Teile, der Stellung und der Form nach,
sorgfältig durchstudiert». Die Künstler
können ihm Rechenschaft geben, wie sie bei der Komposition
verfahren. Sobald aber die Rede aufs Kolorit kommt, da scheint
alles von der Willkür abzuhängen. Niemand weiß,
welcher Bezug zwischen Farbe und Helldunkel, und zwischen den
einzelnen Farben herrscht. Worauf es beruht, daß Gelb
einen warmen und behaglichen Eindruck macht, Blau die
Empfindung der Kälte hervorruft, daß Gelb und Rotblau
nebeneinander eine harmonische Wirkung hervorbringen,
darüber kann Goethe keinen Aufschluß gewinnen. Er
sieht ein, daß er sich mit der Gesetzmäßigkeit
der Farbenwelt in der Natur erst bekannt machen
muß, um von da aus in die Geheimnisse des Kolorits
einzudringen.
Weder die Begriffe über die physische Natur der
Farbenerscheinungen, die Goethe von seiner Studienzeit her noch
im Gedächtnis hatte, noch die physikalischen Kompendien,
die er um Rat fragte, erwiesen sich für seinen Zweck als
fruchtbar. «Wie alle Welt war ich überzeugt, daß
die sämtlichen Farben im Licht enthalten seien; nie war es
mir anders gesagt worden und niemals hatte ich die geringste
Ursache gefunden, daran zu zweifeln, weil ich bei der Sache
nicht weiter interessiert war» («Konfession des
Verfassers », Kürschner, Band 36/2). Als er aber
anfing, interessiert zu sein, da fand er, daß er aus
dieser Ansicht nichts für seinen Zweck entwickeln konnte.
Der Begründer dieser Ansicht, die Goethe bei den
Naturforschern herrschend fand und die heute noch dieselbe
Stellung einnimmt, ist Newton. Sie behauptet, das weiße
Licht, wie es von der Sonne ausgeht, ist aus farbigen Lichtern
zusammengesetzt. Die Farben entstehen dadurch, daß die
einzelnen Bestandteile aus dem weißen Lichte ausgesondert
werden. Läßt man durch eine kleine runde Öffnung
Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer treten, und fängt es auf
einem weißen Schirme, der senkrecht gegen die Richtung des
einfallenden Lichtes gestellt wird, aut., so erhält man
ein weißes Sonnenbild. Stellt man zwischen die
Öffnung und den Schirm ein Glasprisma, durch welches das
Licht durchstrahlt, so verändert sich das weiße runde
Sonnenbild. Es erscheint verschoben, in die Länge gezogen
und farbig. Man nennt dieses Bild Sonnenspektrum. Bringt man
das Prisma so an, daß die oberen Partien des Lichtes einen
kürzeren Weg innerhalb der Glasmasse zurückzulegen
haben als die unteren, so ist das farbige Bild nach unten
verschoben. Der obere Rand des Bildes ist rot, der untere
violett; das Rote geht nach unten in Gelb, das Violette nach
oben in Blau über; die mittlere Partie des Bildes ist im
allgemeinen weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des
Schirmes vom Prisma verschwindet das Weiße in der Mitte
vollständig; das ganze Bild erscheint farbig, und zwar von
oben nach unten in der Folge: rot, orange, gelb, grün,
hellblau, indigo, violett. Aus diesem Versuche schließen
Newton und seine Anhänger, daß die Farben
ursprünglich in dem weißen Lichte enthalten seien,
aber miteinander vermischt. Durch das Prisma werden sie
voneinander gesondert. Sie haben die Eigenschaft, beim
Durchgange durch einen durchsichtigen Körper verschieden
stark von ihrer Richtung abgelenkt, das heißt gebrochen zu
werden. Das rote Licht wird am wenigsten, das violette am
meisten gebrochen. Nach der Stufenfolge ihrer Brechbarkeit
erscheinen sie im Spektrum. Betrachtet man einen schmalen
Papierstreifen auf schwarzem Grunde durch das Prisma, so
erscheint derselbe ebenfalls abgelenkt. Er ist zugleich breiter
und an seinen Rändern farbig. Der obere Rand erscheint
violett, der untere rot; das Violette geht auch hier ins Blaue,
das Rote ins Gelbe über; die Mitte ist im allgemeinen
weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des Prismas von
dem Streifen erscheint dieser ganz farbig. In der Mitte
erscheint wieder das Grün. Auch hier soll das Weiße
des Papierstreifens in seine farbigen Bestandteile zerlegt
sein. Daß nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes
oder Streifens vom Prisma alle Farben erscheinen, während
sonst die Mitte weiß ist, erklären die Newtonianer
einfach. Sie sagen: in der Mitte fallen die stärker
abgelenkten Lichter vom oberen Teil des Bildes mit den
schwächer abgelenkten vom unteren zusammen und vermischen
sich zu Weiß. Nur an den Rändern erscheinen die
Farben, weil hier in die am schwächsten abgelenkten
Lichtteile keine stärker abgelenkten von oben und in die
am stärksten abgelenkten keine schwächer abgelenkten
von unten hineinfallen können.
Dies ist die Ansicht, aus der Goethe für seinen Zweck
nichts entwickeln kann. Er will deshalb die Erscheinungen
selbst beobachten. Er wendet sich an Hofrat Büttner in
Jena, der ihm die Apparate leihweise überläßt,
mit denen er die nötigen Versuche anstellen kann. Er ist
zunächst mit anderen Arbeiten beschäftigt und will,
auf Büttners Drängen, die Apparate wieder
zurückgeben. Vorher nimmt er doch noch ein Prisma zur
Hand, um durch dasselbe auf eine völlig geweißte Wand
zu sehen. Er erwartet, daß sie in verschiedenen Stufen
gefärbt erscheine. Aber sie bleibt weiß. Nur an den
Stellen, wo das Weiße an Dunkles stößt, treten
Farben auf. Die Fensterstäbe erscheinen in den
allerlebhaftesten Farben. Aus diesen Beobachtungen glaubt
Goethe zu erkennen, daß die Newtonsche Anschauung falsch
sei, daß die Farben nicht im weißen Lichte enthalten
seien. Die Grenze, das Dunkle, müsse mit der Entstehung
der Farben etwas zu tun haben. Er setzt die Versuche fort.
Weiße Flächen auf schwarzem und schwarze Flächen
auf weißem Grunde werden betrachtet. Allmählich
bildet er sich eine eigene Ansicht. Eine weiße Scheibe auf
schwarzem Grunde erscheint beim Durchblicken durch das Prisma
verschoben. Die oberen Partien der Scheibe, meint Goethe,
schieben sich über das angrenzende Schwarz des
Untergrundes; während sich dieser Untergrund über die
unteren Partien der Scheibe hinzieht. Sieht man nun durch das
Prisma, so erblickt man durch den oberen Scheibenteil den
schwarzen Grund wie durch einen weißen Schleier. Besieht
man sich den unteren Teil der Scheibe, so scheint dieser durch
das übergelagerte Dunkel hindurch. Oben wird ein Helles
über ein Dunkles geführt; unten ein Dunkles über
ein Helles. Der obere Rand erscheint blau, der untere gelb. Das
Blau geht gegen das Schwarze zu in Violett; das Gelbe nach
unten in ein Rot über. Wird das Prisma von der
beobachteten Scheibe entfernt, so verbreitern sich die farbigen
Ränder; das Blau nach unten, das Gelb nach oben. Bei
hinreichender Entfernung greift das Gelb von unten über
das Blau von oben; durch das Übereinandergreifen entsteht
in der Mitte Grün. Zur Bestätigung dieser Ansicht
betrachtet Goethe eine schwarze Scheibe auf weißem Grunde
durch das Prisma. Nun wird oben ein Dunkles über ein
Helles, unten ein Helles über ein Dunkles geführt.
Oben erscheint Gelb, unten Blau. Bei Verbreiterung der
Ränder durch Entfernung des Prismas von der Scheibe wird
das untere Blau, das allmählich gegen die Mitte zu in
Violett übergeht, über das obere Gelb, das in seiner
Verbreiterung nach und nach einen roten Ton erhält,
geführt. Es entsteht in der Mitte Pfirsichblüt.
Goethe sagte sich: was für die weiße Scheibe richtig
ist, muß auch für die schwarze gelten. «Wenn
sich dort das Licht in so vielerlei Farben auflöst... so
müßte ja hier auch die Finsternis als in Farben
aufgelöst angesehen werden.» («Konfession des
Verfassers »,Kürschner, Band 36/2.) Goethe teilt nun
seine Beobachtungen und die Bedenken, die ihm daraus gegen die
Newtonsche Anschauung erwachsen sind, einem ihm bekannten
Physiker mit. Dieser erklärt die Bedenken für
unbegründet. Er leitete die farbigen Ränder und das
Weiße in der Mitte, sowie dessen Übergang in
Grün, bei gehöriger Entfernung des Prismas von dem
beobachteten Objekt, im Sinne der Newtonschen Ansicht ab.
Ähnlich verhalten sich andere Naturforscher, denen Goethe
die Sache vorlegt. Er setzt die Beobachtungen, für die er
gerne Beihilfe von kundigen Fachleuten gehabt hätte,
allein fort. Er läßt ein großes Prisma aus
Spiegelscheiben zusammensetzen, das er mit reinem Wasser
anfüllt. Weil er bemerkt, daß die gläsernen
Prismen, deren Querschnitt ein gleichseitiges Dreieck ist,
wegen der starken Verbreiterung der Farbenerscheinung dem
Beobachter oft hinderlich sind, läßt er seinem
großen Prisma den Querschnitt eines gleichschenkeligen
Dreieckes geben, dessen kleinster Winkel nur fünfzehn bis
zwanzig Grade groß ist. Die Versuche, welche in der Weise
angestellt werden, daß das Auge durch das Prisma auf einen
Gegenstand blickt, nennt Goethe subjektiv. Sie stellen
sich dem Auge dar, sind aber nicht in der Außenwelt
fixiert. Er will zu diesen noch objektive hinzufügen. Dazu
bedient er sich des Wasserprismas. Das Licht scheint durch ein
Prisma durch, und hinter dem Prisma wird das Farbenbild auf
einem Schirme aufgefangen. Goethe läßt nun das
Sonnenlicht durch die Öffnungen ausgeschnittener Pappen
hindurchgehen. Er erhält dadurch einen erleuchteten Raum,
der ringsherum von Dunkelheit begrenzt ist. Diese begrenzte
Lichtmasse geht durch das Prisma und wird durch dasselbe von
ihrer Richtung abgelenkt. Hält man der aus dem Prisma
kommenden Lichtmasse einen Schirm entgegen, so entsteht auf
demselben ein Bild, das im allgemeinen an den Rändern oben
und unten gefärbt ist. Ist das Prisma so gestellt,
daß sein Querschnitt von oben nach unten schmäler
wird, so ist der obere Rand des Bildes blau, der untere gelb
gefärbt. Das Blau geht gegen den dunklen Raum in Violett,
gegen die helle Mitte zu in Hellblau über; das Gelbe gegen
die Dunkelheit zu in Rot. Auch bei dieser Erscheinung leitet
Goethe die Farbenerscheinung von der Grenze her. Oben strahlt
die helle Lichtmasse in den dunklen Raum hinein; sie erhellt
ein Dunkles, das dadurch blau erscheint. Unten strahlt der
dunkle Raum in die Lichtmasse hinein; er verdunkelt ein Helles
und läßt es gelb erscheinen. Durch Entfernung des
Schirmes von dem Prisma werden die Farbenränder breiter,
das Gelbe nähert sich dem Blauen. Durch Einstrahlung des
Blauen in das Gelbe erscheint bei hinlänglicher Entfernung
des Schirmes vom Prisma in der Mitte des Bildes Grün.
Goethe macht sich das Hineinstrahlen des Hellen in das Dunkle
und des Dunklen in das Helle dadurch anschaulich, daß er
in der Linie, in welcher die Lichtmasse durch den dunklen Raum
geht, eine weiße feine Staubwolke erregt, die er durch
feinen trockenen Haarpuder hervorbringt. «Die mehr oder
weniger gefärbte Erscheinung wird nun durch die
weißen Atome aufgefangen und dem Auge in ihrer ganzen
Breite und Länge dargestellt.» (Farbenlehre,
didaktischer Teil § 326.) Goethe findet seine Ansicht, die
er an den subjektiven Erscheinungen gewonnen, durch die
objektiven bestätigt. Die Farben werden durch das
Zusammenwirken von Hell und Dunkel hervorgebracht. Das Prisma
dient nur dazu, Hell und Dunkel übereinander zu
schieben.
*
Goethe kann, nachdem er diese Versuche gemacht hat, die
Newtonische Ansicht nicht zu der seinigen machen. Es geht ihm
mit ihr ähnlich, wie mit der Hallerschen
Einschachtelungslehre. Wie diese den ausgebildeten Organismus
bereits mit allen seinen Teilen im Keime enthalten denkt, so
glauben die Newtonianer, daß die Farben, die unter
gewissen Bedingungen am Lichte erscheinen, in diesem schon
eingeschlossen seien. Er könnte gegen diesen Glauben
dieselben Worte gebrauchen, die er der Einschachtelungslehre
entgegengehalten hat, sie «beruhe auf einer bloßen
außersinnlichen Einbildung, auf einer Annahme, die man zu
denken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen
kann.» Vgl. den Aufsatz über K. Fr. Wolff,
Kürschner, Band 33.) Ihm sind die Farben Neubildungen, die
an dem Lichte entwickelt werden, nicht Wesenheiten, die aus dem
Lichte bloß ausgewickelt werden. Wegen seiner «der
Idee gemäßen Denkweise» muß er die
Newtonsche Ansicht ablehnen. Diese kennt das Wesen des Ideellen
nicht. Nur was tatsächlich vorhanden ist, erkennt sie an.
Was in derselben Weise vorhanden ist wie das
Sinnlich-Wahrnehmbare. Und wo sie die Tatsächlichkeit
nicht durch die Sinne nachweisen kann, da nimmt sie dieselbe
hypothetisch an. Weil am Lichte die Farben sich entwickeln,
also der Idee nach schon in demselben enthalten sein
müssen, glaubt sie, sie seien auch tatsächlich,
materiell in demselben enthalten und werden durch das Prisma
und die dunkle Umgrenzung nur hervorgeholt. Goethe weiß,
daß die Idee in der Sinnenwelt wirksam ist; deshalb
versetzt er etwas, was als Idee vorhanden ist, nicht in den
Bereich des Tatsächlichen. In der unorganischen Natur
wirkt das Ideelle ebenso wie in der organischen, nur nicht als
sinnlich-übersinnliche Form. Seine äußere
Erscheinung ist ganz materiell, bloß sinnlich. Es dringt
nicht ein in das Sinnliche; es durchgeistigt dieses nicht. Die
Vorgänge der unorganischen Natur verlaufen
gesetzmäßig, und diese Gesetzmäßigkeit
stellt sich dem Beobachter als Idee dar. Wenn man an einer
Stelle des Raumes weißes Licht und an einer andern Farben
wahrnimmt, die an demselben entstehen, so besteht zwischen den
beiden Wahrnehmungen ein gesetzmäßiger Zusammenhang,
der als Idee vorgestellt werden kann. Wenn aber jemand diese
Idee verkörperlicht und als Tatsächliches in den Raum
hinaus versetzt, das von dem Gegenstande der einen Wahrnehmung
in den der andern hinüberzieht, so entspringt das aus
einer grobsinnlichen Vorstellungsweise. Dieses Grobsinnliche
ist es, was Goethe von der Newtonschen Anschauung
zurückstößt. Die Idee ist es, die einen
unorganischen Vorgang in den andern hinüberleitet, nicht
ein Tatsächliches, das von dem einen zu dem andern
wandert.
Die
Goethesche Weltanschauung kann nur zwei Quellen für alle
Erkenntnis der unorganischen Naturvorgänge anerkennen:
dasjenige, was an diesen Vorgängen sinnlich wahrnehmbar
ist, und die ideellen Zusammenhänge des
Sinnlich-Wahrnehmbaren, die sich dem Denken offenbaren. Die
ideellen Zusammenhänge innerhalb der Sinneswelt sind nicht
gleicher Art. Es gibt solche, die unmittelbar einleuchtend
sind, wenn sinnliche Wahrnehmungen nebeneinander oder
nacheinander auftreten, und andere, die man erst durchschauen
kann, wenn man sie auf solche der ersten Art
zurückführt. In der Erscheinung, die sich dem Auge
darbietet, wenn es ein Dunkles durch ein Helles ansieht und
Blau wahrnimmt, glaubt Goethe einen Zusammenhang der ersten Art
zwischen Licht, Finsternis und Farbe zu erkennen. Ebenso ist
es, wenn Helles durch ein Dunkles angeschaut, gelb ergibt. Die
Randerscheinungen des Spektrums lassen einen Zusammenhang
erkennen, der durch unmittelbares Beobachten klar wird. Das
Spektrum, das in einer Stufenfolge sieben Farben vom Rot bis
zum Violett zeigt, kann nur verstanden werden, wenn man sieht,
wie zu den Bedingungen, durch welche die Randerscheinungen
entstehen, andere hinzugefügt werden. Die einfachen
Randerscheinungen haben sich in dem Spektrum zu einem
komplizierten Phänomen verbunden, das nur verstanden
werden kann, wenn man es aus den Grunderscheinungen ableitet.
Was in dem Grundphänomen in seiner Reinheit vor dem
Beobachter steht, das erscheint in dem komplizierten, durch die
hinzugefügten Bedingungen, unrein, modifiziert. Die
einfachen Tatbestände sind nicht mehr unmittelbar zu
erkennen. Goethe sucht daher die komplizierten Phänomene
überall auf die einfachen, reinen
zurückzuführen. In dieser Zurückführung
sieht er die Erklärung der unorganischen Natur. Vom reinen
Phänomen geht er nicht mehr weiter. In demselben offenbart
sich ein ideeller Zusammenhang sinnlicher Wahrnehmungen, der
sich durch sich selbst erklärt. Das reine Phänomen
nennt Goethe Urphänomen. Er sieht es als mäßige
Spekulation an, über das Urphänomen weiter
nachzudenken. «Der Magnet ist ein Urphänomen, das man
nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben.»
(Sprüche in Prosa, Kürschner, Band 36.) Ein
zusammengesetztes Phänomen wird erklärt, wenn man
zeigt, wie es sich aus Urphänomenen aufbaut.
Die
moderne Naturwissenschaft verfährt anders als Goethe. Sie
will die Vorgänge in der Sinnenwelt auf Bewegungen
kleinster Körperteile zurückführen und bedient
sich zur Erklärung dieser Bewegungen derselben Gesetze,
durch die sie die Bewegungen begreift, die sichtbar im Raume
vor sich gehen. Diese sichtbaren Bewegungen zu erklären,
ist Aufgabe der Mechanik. Wird die Bewegung eines Körpers
beobachtet, so fragt die Mechanik: Durch welche Kraft ist er in
Bewegung versetzt worden; welchen Weg legt er in einer
bestimmten Zeit zurück; welche Form hat die Linie, in der
er sich bewegt usw. Die Beziehungen der Kraft, des
zurückgelegten Weges, der Form der Bahn sucht sie
mathematisch darzustellen. Nun sagt der Naturforscher: Das rote
Licht kann auf eine schwingende Bewegung kleinster
Körperteile zurückgeführt werden, die sich im
Raume fortpflanzt. Begriffen wird diese Bewegung dadurch,
daß man die in der Mechanik gewonnenen Gesetze auf sie
anwendet. Die Wissenschaft der unorganischen Natur betrachtet
es als ihr Ziel, allmählich vollständig in
angewandte Mechanik überzugehen.
Die
moderne Physik fragt nach der Anzahl der Schwingungen in der
Zeiteinheit, welche einer bestimmten Farbenqualität
entsprechen. Aus der Anzahl der Schwingungen, die dem Rot
entsprechen und aus derjenigen, welche dem Violett entsprechen,
sucht sie den physikalischen Zusammenhang der beiden Farben zu
bestimmen. Vor ihren Blicken verschwindet das Qualitative; sie
betrachtet das Räumliche und Zeitliche der Vorgänge.
Goethe fragt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Rot und
Violett, wenn man vom Räumlichen und Zeitlichen absieht
und bloß das Qualitative der Farben betrachtet. Die
Goethesche Betrachtungsweise hat zur Voraussetzung, daß
das Qualitative wirklich auch in der Außenwelt vorhanden
ist und mit dem Zeitlichen und Räumlichen ein untrennbares
Ganzes ist. Die moderne Physik muß dagegen von der
Grundanschauung ausgehen, daß in der Außenwelt nur
Quantitatives, licht- und farblose Bewegungsvorgänge
vorhanden seien, und daß alles Qualitative erst als
Wirkung des Quantitativen auf den sinn- und geistbegabten
Organismus entstehe. Wäre diese Annahme richtig, dann
könnten die gesetzmäßigen Zusammenhänge des
Qualitativen auch nicht in der Außenwelt gesucht, sie
mußten aus dem Wesen der Sinneswerkzeuge, des
Nervenapparates und des Vorstellungsorganes abgeleitet werden.
Die qualitativen Elemente der Vorgänge wären dann
nicht Gegenstand der physikalischen Untersuchung, sondern der
physiologischen und psychologischen. Dieser Voraussetzung
gemäß verfährt die moderne Naturwissenschaft.
Der Organismus übersetzt, nach ihrer Ansicht, entsprechend
der Einrichtung seiner Augen, seines Sehnervs und seines
Gehirns einen Bewegungsvorgang in die Empfindung des Rot, einen
andern in die des Violett. Daher ist alles Äußere der
Farbenwelt erklärt, wenn man den Zusammenhang der
Bewegungsvorgänge durchschaut hat, von denen diese Welt
bestimmt wird. Ein Beweis für diese Ansicht wird in
folgender Beobachtung gesucht. Der Sehnerv empfindet jeden
äußeren Eindruck als Lichtempfindung. Nicht nur
Licht, sondern auch ein Stoß oder Druck auf das Auge, eine
Zerrung der Netzhaut bei schneller Bewegung des Auges, ein
elektrischer Strom, der durch den Kopf geleitet wird: das alles
bewirkt Lichtempfindung. Dieselben Dinge empfindet ein anderer
Sinn in anderer Weise. Stoß, Druck, Zerrung, elektrischer
Strom bewirken, wenn sie die Haut erregen, Tastempfindungen.
Elektrizität erregt im Ohr eine Gehör-, auf der Zunge
eine Geschmacksempfindung. Daraus schließt man, daß
der Empfindungsinhalt, der im Organismus durch eine Einwirkung
von außen auftritt, verschieden ist von dem
äußeren Vorgange, durch den er veranlaßt wird.
Die rote Farbe wird von dem Organismus nicht empfunden, weil
sie an einen entsprechenden Bewegungsvorgang draußen im
Raume gebunden ist, sondern weil Auge, Sehnerv und Gehirn des
Organismus so eingerichtet sind, daß sie einen farblosen
Bewegungsvorgang in eine Farbe übersetzen. Das hiermit
ausgesprochene Gesetz wurde von dem Physiologen Johannes
Müller, der es zuerst aufgestellt hat, das Gesetz der
spezifischen Sinnesenergien genannt.
Die
angeführte Beobachtung beweist nur, daß der sinn- und
geistbegabte Organismus die verschiedenartigsten Eindrücke
in die Sprache der Sinne übersetzen kann, auf die sie
ausgeübt werden. Nicht aber, daß der Inhalt jeder
Sinnesempfindung auch nur im Innern des Organismus vorhanden
ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht eine unbestimmte,
ganz allgemeine Erregung, die nichts enthält, was
veranlaßt, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen.
Eine Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck
entsteht, ist inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem
Räumlich-Zeitlichen, das ihr entspricht. Die Bewegung
eines Körpers und seine Farbe sind auf ganz gleiche Weise
Wahmehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung für sich
vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst an
dem Körper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle
übrigen mechanischen und mathematischen Vorstellungen der
Wahrnehmungswelt entnommen. Mathematik und Mechanik entstehen
dadurch, daß von dem Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil
ausgesondert und für sich betrachtet wird. In der
Wirklichkeit gibt es keine Gegenstände oder Vorgänge,
deren Inhalt erschöpft ist, wenn man das an ihnen
begriffen hat, was durch Mathematik und Mechanik
auszudrücken ist. Alles Mathematische und Mechanische ist
an Farbe, Wärme und andere Qualitäten gebunden. Wenn
der Physik nötig ist, anzunehmen, daß der Wahrnehmung
einer Farbe Schwingungen im Raume entsprechen, denen eine sehr
kleine Ausdehnung und eine sehr große Geschwindigkeit
eigen ist, so können diese Bewegungen nur analog den
Bewegungen gedacht werden, die sichtbar im Raume vorgehen. Das
heißt, wenn die Körperwelt bis in ihre kleinsten
Elemente bewegt gedacht wird, so muß sie auch bis in ihre
kleinsten Elemente hinein mit Farbe, Wärme und andern
Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben,
Wärme, Töne usw. als Qualitäten auffaßt,
die als Wirkungen äußerer Vorgänge durch den
vorstellenden Organismus nur im Innern desselben existieren,
der muß auch alles Mathematische und Mechanische, das mit
diesen Qualitäten zusammenhängt, in dieses Innere
verlegen. Dann aber bleibt ihm für seine Außenwelt
nichts mehr übrig. Das Rot, das ich sehe, und die
Lichtschwingungen die der Physiker als diesem Rot entsprechend
nachweist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der
abstrahierende Verstand voneinander trennen kann. Die
Schwingungen im Raume, die der Qualität «Rot»
entsprechen, würde ich als Bewegung sehen, wenn mein Auge
dazu organisiert wäre. Aber ich würde verbunden mit
der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.
Die
moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirkliches Abstraktum,
ein aller Empfindungsqualitäten entkleidetes, schwingendes
Substrat in den Raum und wundert sich, daß nicht begriffen
werden kann, was den vorstellenden mit Nervenapparaten und
Gehirn ausgestatteten Organismus veranlassen kann, diese
gleichgültigen Bewegungsvorgänge in die bunte, von
Wärmegraden und Tönen durchsetzte Sinnenwelt zu
übersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der
Mensch wegen einer unüberschreitbaren Grenze seines
Erkennens nie verstehen werde, wie die Tatsache: «ich
schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton,
sehe Rot», zusammenhängt mit bestimmten Bewegungen
kleinster Körperteile im Gehirn, welche Bewegungen wieder
veranlaßt werden durch die Schwingungen der geschmack-,
geruch-, ton- und farbenlosen Elemente der äußeren
Körperwelt. «Es ist eben durchaus und für immer
unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-,
Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte
gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie
sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen
werden.» («Grenzen des Naturerkennens», Leipzig
1882, S.33f.) Es liegt aber hier durchaus keine
Erkenntnisgrenze vor. Wo im Raume eine Anzahl von Atomen in
einer bestimmten Bewegung ist, da ist notwendig auch eine
bestimmte Qualität (z.B. Rot) vorhanden. Und umgekehrt, wo
Rot auftritt, da muß die Bewegung vorhanden sein. Nur das
abstrahierende Denken kann das eine von dem andern trennen. Wer
die Bewegung von dem übrigen Inhalte des Vorganges, zu dem
die Bewegung gehört, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt,
der kann den Übergang von dem einen zu dem andern nicht
wieder finden.
Nur
was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung
abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und
Lichtwelt angehört, kann auch nur auf ein ebensolches
Qualitatives innerhalb desselben Gebietes
zurückgeführt werden. Die Mechanik führt
zusammengesetzte Bewegungen auf einfache zurück, die
unmittelbar begreiflich sind. Die Farbentheorie muß
komplizierte Farbenerscheinungen auf einfache
zurückführen, die in gleicher Weise durchschaut
werden können. Ein einfacher Bewegungsvorgang ist ebenso
ein Urphänomen, wie das Entstehen des Gelben aus dem
Zusammenwirken von Hell und Dunkel. Goethe weiß, was die
mechanischen Urphänomene für die Erklärung der
unorganischen Natur leisten können. Was innerhalb der
Körperwelt nicht mechanisch ist, das führt er auf
Urphänomene zurück, die nicht mechanischer Art sind.
Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, er habe die mechanische
Betrachtung der Natur verworfen und sich nur auf die
Beobachtung und Aneinanderreihung des Sinnlich-Anschaulichen
beschränkt. Vgl. z.B. Harnack in seinem Buche «Goethe
in der Epoche seiner Vollendung», S. 12) Du Bois-Reymond
findet («Goethe und kein Ende», Leipzig 1883, S.29):
«Goethes Theoretisieren beschränkt sich darauf, aus
einem Urphänomen, wie er es nennt, andere Phänomene
hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild dem andern folgt,
ohne einleuchtenden ursächlichen Zusammenhang. Der
Begriff der mechanischen Kausalität war es, der Goethe
gänzlich abging.» Was tut aber die Mechanik
anderes, als verwickelte Vorgänge aus einfachen
Urphänomenen hervorgehen lassen? Goethe hat auf dem
Gebiete der Farbenwelt genau dasselbe gemacht, was der
Mechaniker im Gebiete der Bewegungsvorgänge leistet. Weil
Goethe nicht der Ansicht ist, alle Vorgänge in der
unorganischen Natur seien rein mechanische, deshalb hat man ihm
den Begriff der mechanischen Kausalität aberkannt. Wer das
tut, der zeigt nur, daß er selbst im Irrtum darüber
ist, was mechanische Kausalität innerhalb der
Körperwelt bedeutet. Goethe bleibt innerhalb des
Qualitativen der Licht- und Farbenwelt stehen; das
Quantitative, Mechanische, das mathematisch auszudrücken
ist, überläßt er andern. Er «hat die
Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten
gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich genug ergeben,
wo die Beihilfe der Meßkunst wünschenswert sein
würde ... Aber so mag auch dieser Mangel zum Vorteil
gereichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathematikers
Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die
Farbenlehre seiner Hilfe bedarf, und wie er zur Vollendung
dieses Teils der Naturlehre das Seinige betragen kann.»
(§ 727 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.) Die
qualitativen Elemente des Gesichtssinnes: Licht, Finsternis,
Farben müssen erst aus ihren eigenen Zusammenhängen
begriffen, auf Urphänomene zurückgeführt werden;
dann kann auf einer höheren Stufe des Denkens untersucht
werden, welcher Bezug besteht zwischen diesen
Zusammenhängen und dem Quantitativen, dem
Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbenwelt. Die
Zusammenhänge innerhalb des Qualitativen der Farbenwelt
will Goethe in ebenso strengem Sinne auf die einfachsten
Elemente zurückführen, wie das der Mathematiker oder
Mechaniker auf seinem Gebiete tut. Die
«Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans
Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem
Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu
lernen und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen,
müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem
strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig
wären. - Denn eigentlich ist es die mathematische
Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit
gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre
Beweise sind eigentlich nur umständliche
Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung
vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in
seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem ganzen Umfange
übersehen und unter allen Bedingungen richtig und
unumstößlich erfunden worden.» (« Der
Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt»
Kürschner, Band 34).
*
Goethe entnimmt die Erklärungsprinzipien für die
Erscheinungen unmittelbar aus dem Bereich der Beobachtung. Er
zeigt, wie innerhalb der erfahrbaren Welt die
Erscheinungen zusammenhängen. Vorstellungen, welche
über das Gebiet der Beobachtung hinausweisen, lehnt er
für die Naturauffassung ab. Alle Erklärungsarten, die
das Feld der Erfahrung dadurch überschreiten, daß sie
für die Naturerklärung Faktoren herbeiziehen, die
ihrer Wesenheit nach nicht beobachtbar sind, widersprechen der
Goetheschen Weltanschauung. Eine solche Erklärungsart ist
diejenige, welche das Wesen des Lichtes in einem Lichtstoff
sucht, der als solcher nicht selbst wahrgenommen, sondern nur
in seiner Wirkungsweise als Licht beobachtet werden kann. Auch
gehört zu diesen Erklärungsarten die in der modernen
Naturwissenschaft herrschende, nach welcher die
Bewegungsvorgänge der Lichtwelt nicht von den
wahrnehmbaren Qualitäten, die dem Gesichtssinn gegeben
sind, sondern von den kleinsten Teilen des nicht wahrnehmbaren
Stoffes ausgeführt werden. Es widerspricht der Goetheschen
Weltanschauung nicht, sich vorzustellen, daß eine
bestimmte Farbe mit einem bestimmten Bewegungsvorgang im Raume
verknüpft sei. Aber es widerspricht ihr durchaus, wenn
behauptet wird, dieser Bewegungsvorgang gehöre einem
außerhalb der Erfahrung gelegenen Wirklichkeitsgebiete an,
der Welt des Stoffes, die zwar in ihren Wirkungen, nicht aber
ihrer eigenen Wesenheit nach beobachtet werden kann. Für
einen Anhänger der Goetheschen Weltanschauung sind die
Lichtschwingungen im Raume Vorgänge, denen keine andere
Art von Wirklichkeit zukommt als dem übrigen
Wahmehmungsinhalt. Sie entziehen sich der unmittelbaren
Beobachtung nicht deshalb, weil sie jenseits des Gebietes der
Erfahrung liegen, sondern weil die menschlichen Sinnesorgane
nicht so fein organisiert sind, daß sie Bewegungen von
solcher Kleinheit noch unmittelbar wahrnehmen. Wäre ein
Auge so organisiert, daß es das Hin- und Herschwingen
eines Dinges, das in einer Sekunde sich vierhundert
billionenmal wiederholt, noch in allen Einzelheiten beobachten
könnte, so würde sich ein solcher Vorgang genau so
darstellen wie einer der grobsinnlichen Welt. Das heißt,
das schwingende Ding würde dieselben Eigenschaften zeigen,
wie andere Wahrnehmungsdinge. Jede Erklärungsart, welche
die Dinge und Vorgänge der Erfahrung aus anderen, nicht
innerhalb des Erfahrungsfeldes gelegenen ableitet, kann zu
inhaltvollen Vorstellungen von diesem jenseits der Beobachtung
befindlichen Wirklichkeitsgebiete nur dadurch gelangen,
daß sie gewisse Eigenschaften aus der Erfahrungswelt
entlehnt und auf das Unerfahrbare überträgt. So
überträgt der Physiker Härte,
Undurchdringlichkeit auf die kleinsten Körperelemente,
denen er außerdem noch die Fähigkeit zuschreibt,
ihresgleichen anzuziehen und abzustoßen; dagegen erkennt
er diesen Elementen Farbe, Wärme und andere Eigenschaften
nicht zu. Er glaubt einen erfahrbaren Vorgang der Natur dadurch
zu erklären, daß er ihn auf einen nicht erfahrbaren
zurückführt. Nach Du Bois-Reymonds Ansicht ist
Naturerkennen Zurückführen der Vorgänge in der
Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren
anziehende und abstoßende Kräfte bewirkt werden
(«Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1882, S. 10).
Als das Bewegliche wird dabei die Materie, der den Raum
erfüllende Stoff, angenommen. Dieser Stoff soll von
Ewigkeit her dagewesen sein und wird in alle Ewigkeit hinein da
sein. Dem Gebiete der Beobachtung soll aber die Materie nicht
angehören, sondern jenseits desselben vorhanden sein. Du
Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der Mensch unfähig
sei, das Wesen der Materie selbst zu erkennen, daß er also
die Vorgänge der Körperwelt auf etwas
zurückführe, dessen Natur ihm immer unbekannt bleiben
wird. «Nie werden wir besser als heute wissen, was hier im
Raume, wo Materie ist, spukt.» («Grenzen des
Naturerkennens», S.22.) Vor einer genauen Überlegung
löst sich dieser Begriff der Materie in Nichts auf Der
wirkliche Inhalt, den man diesem Begriffe gibt, ist aus der
Erfahrungswelt entlehnt. Man nimmt Bewegungen innerhalb der
Erfahrungswelt wahr. Man fühlt einen Zug, wenn man ein
Gewicht in der Hand hält, und einen Druck, wenn man auf
die horizontal hingehaltenene Handfläche ein Gewicht legt.
Um diese Wahrnehmung zu erklären, bildet man den Begriff
der Kraft. Man stellt sich vor, daß die Erde das Gewicht
anzieht. Die Kraft selbst kann nicht wahrgenommen werden. Sie
ist ideell. Sie gehört aber doch dem Beobachtungsgebiete
an. Der Geist beobachtet sie, weil er die ideellen Bezüge
der Wahrnehmungen untereinander anschaut. Zu dem Begriffe einer
Abstoßungskraft wird man geführt, wenn man ein
Stück Kautschuk zusammendrückt, und es sich dann
selbst überläßt. Es stellt sich in seiner
früheren Gestalt und Größe wieder her. Man
stellt sich vor, die zusammengedrängten Teile des
Kautschuks stoßen sich ab und nehmen den früheren
Rauminhalt wieder ein. Solche aus der Beobachtung
geschöpfte Vorstellungen überträgt die
angedeutete Denkart auf das unerfahrbare Wirklichkeitsgebiet.
Sie tut in Wirklichkeit also nichts, als ein Erfahrbares aus
einem andern Erfahrbaren herleiten. Nur versetzt sie
willkürlich das letztere in das Gebiet des Unerfahrbaren.
Jeder Vorstellungsart, die innerhalb der Naturanschauung von
einem Unerfahrbaren spricht, ist nachzuweisen, daß sie
einige Lappen aus dem Gebiete der Erfahrung aufnimmt und in ein
jenseits der Beobachtung gelegenes Wirklichkeitsgebiet
verweist. Nimmt man die Erfahrungslappen aus der Vorstellung
des Unerfabrbaren heraus, so bleibt ein inhaltloser Begriff,
ein Unbegriff, zurück. Die Erklärung eines
Erfahrbaren kann nur darin bestehen, daß man es auf ein
anderes Erfahrbares zurückführt. Zuletzt gelangt man
zu Elementen innerhalb der Erfahrung, die nicht mehr auf andere
zurückgeführt werden können. Diese sind nicht
weiter zu erklären, weil sie keiner Erklärung
bedürftig sind. Sie enthalten ihre Erklärung in sich
selbst. Ihr unmittelbares Wesen besteht in dem, was sie der
Beobachtung darbieten. Ein solches Element ist für Goethe
das Licht. Nach seiner Ansicht hat das Licht erkannt, wer es
unbefangen in der Erscheinung wahrnimmt. Die Farben entstehen
am Lichte und ihre Entstehung wird begriffen, wenn man zeigt,
wie sie an demselben entstehen. Das Licht selbst ist in
unmittelbarer Wahrnehmung gegeben. Was in ihm ideell veranlagt
ist, erkennt man, wenn man beobachtet, welcher Zusammenhang
zwischen ihm und den Farben ist. Nach dem Wesen des Lichtes zu
fragen, nach einem Unerfahrbaren, das der Erscheinung
«Licht» entspricht, ist vom Standpunkte der
Goetheschen Weltanschauung aus unmöglich. «Denn
eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges
auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine
vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl
allenfalls das Wesen jenes Dinges.» Das heißt eine
vollständige Darstellung der Wirkungen eines Erfahrbaren
umfaßt alle Erscheinungen, die in ihm ideell
veranlagt sind. «Vergebens bemühen wir uns, den
Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine
Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters
wird uns entgegentreten. - Die Farben sind Taten des Lichtes,
Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben
Aufschlüsse über das Licht erwarten.»
(Didaktischer Teil der Farbenlehre.
Vorwort.)
*
Das
Licht stellt sich der Beobachtung dar als « das
einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, Jas wir
kennen.» (Briefwechsel mit Jacobi, S. 167.) Ihm
entgegengesetzt ist die Finsternis. Für Goethe ist die
Finsternis nicht die vollkommen kraftlose Abwesenheit des
Lichtes. Sie ist ein Wirksames. Sie stellt sich dem Licht
entgegen und tritt mit ihm in Wechselwirkung. Die moderne
Naturwissenschaft sieht die Finsternis an als ein vollkommenes
Nichts. Das Licht, das in einen finstern Raum einströmt,
hat, nach dieser Ansicht, keinen Widerstand der Finsternis zu
überwinden. Goethe stellt sich vor, daß Licht und
Finsternis sich zueinander. ähnlich verhalten wie der
Nord- und Südpol eines Magneten Die Finsternis kann das
Licht in seiner Wirkungskraft schwächen. Umgekehrt kann
das Licht die Energie der Finsternis beschränken. In
beiden Fällen entsteht die Farbe. Eine physikalische
Anschauung, die sich die Finsternis als das vollkommen
Unwirksame denkt, kann von einer solchen Wechselwirkung nicht
sprechen. Sie muß daher die Farben allein aus dem Lichte
herleiten. Die Finsternis tritt für die Beobachtung ebenso
als Erscheinung auf wie das Licht. Das Dunkel ist in demselben
Sinne Wahrnehmungsinhalt wie die Helle. Das eine ist nur der
Gegensatz des andern. Das Auge, das in die Nacht hinausblickt,
vermittelt die reale Wahrnehmung der Finsternis. Wäre die
Finsternis das absolute Nichts, so entstände gar keine
Wahrnehmung, wenn der Mensch in das Dunkel hinaussieht.
Das
Gelb ist ein durch die Finsternis gedämpftes Licht;
das Blau eine durch das Licht abgeschwächte
Finsternis.
Das
Auge ist dazu eingerichtet, dem vorstellenden Organismus die
Erscheinungen der Licht- und Farbenwelt und die Bezüge
dieser Erscheinungen zu vermitteln. Es verhält sich dabei
nicht bloß aufnehmend, sondern tritt in lebendige
Wechselwirkung mit den Erscheinungen. Goethe ist bestrebt, die
Art dieser Wechselwirkung zu erkennen. Er betrachtet das Auge
als ein durchaus Lebendiges und will seine
Lebensäußerungen durchschauen. Wie verhält sich
das Auge zu der einzelnen Erscheinung? Wie verhält es sich
zu den Bezügen der Erscheinungen? Das sind Fragen, die er
sich vorlegt. Licht und Finsternis, Gelb und Blau sind
Gegensätze. Wie empfindet das Auge diese Gegensätze?
Es muß in der Natur des Auges begründet sein,
daß es die Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen
Wahrnehmungen bestehen, auch empfinde. Denn «das Auge hat
sein Dasein dem Lichte zu danken. Aus gleichgültigen
tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor,
das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte
fürs Licht, damit das innere Licht dem äußern
entgegentrete.» (Didaktischer Teil der Farbenlehre.
Einleitung.)
So
wie Licht und Finsternis sich in der äußeren Natur
gegensätzlich verhalten, so stehen die beiden
Zustände einander entgegen, in die das Auge durch die
beiden Erscheinungen versetzt wird. Wenn man das Auge innerhalb
eines finstern Raumes offen hält, so wird ein gewisser
Mangel empfindbar. Wird es dagegen einer stark beleuchteten
weißen Fläche zugewendet, so wird es für eine
gewisse Zeit unfähig, mäßig beleuchtete
Gegenstände zu unterscheiden. Das Sehen ins Dunkle
steigert die Empfänglichkeit; dasjenige in das Helle
schwächt sie ab.
Jeder Eindruck aufs Auge bleibt eine Zeitlang in demselben. Wer
ein schwarzes Fensterkreuz auf einem hellen Hintergrunde
ansieht, wird, wenn er die Augen schließt, die Erscheinung
noch eine Weile vor sich haben. Blickt man, während der
Eindruck noch dauert, auf eine hellgraue Fläche, so
erscheint das Kreuz hell, der Scheibenraum dagegen dunkel. Es
findet eine Umkehrung der Erscheinung statt. Daraus folgt,
daß das Auge durch den einen Eindruck disponiert wird, den
entgegengesetzten aus sich selbst zu erzeugen. Wie in der
Außenwelt Licht und Finsternis in Beziehung zu einander
stehen, so auch die entsprechenden Zustände im Auge.
Goethe stellt sich vor, daß der Ort im Auge, auf den das
dunkle Kreuz fiel, ausgeruht und empfänglich für
einen neuen Eindruck ist. Deshalb wirkt auf ihn die graue
Fläche lebhafter als auf die übrigen Orte im Auge,
die vorher das stärkere Licht von den Fensterscheiben
empfangen haben. Hell erzeugt im Auge die Hinneigung zum
Dunkel; Dunkel die zum Hellen. Wenn man ein dunkles Bild vor
eine hellgraue Fläche hält und unverwandt, indem es
vorgenommen wird, auf denselben Fleck sieht, so erscheint der
Raum, den das dunkle Bild eingenommen hat, um vieles heller als
die übrige Fläche. Ein graues Bild auf dunklem Grund
erscheint heller als dasselbe Bild auf hellem. Das Auge wird
durch den dunklen Grund disponiert, das Bild heller; durch den
hellen es dunkler zu sehen. Goethe wird durch diese
Erscheinungen auf die große Regsamkeit des Auges verwiesen
«und den stillen Widerspruch, den jedes Lebendige zu
äußern gedrungen ist, wenn ihm irgend ein bestimmter
Zustand dargeboten wird. So setzt das Einatmen schon das
Ausatmen voraus und umgekehrt... Es ist die ewige Formel des
Lebens, die sich auch hier äußert. Wie dem Auge das
Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert
Dunkel, wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch
seine Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fassen, indem es
etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst
hervorbringt.» (§ 38 des didaktischen Teiles der
Farbenlehre.)
In
ähnlicher Weise wie Licht und Finsternis rufen auch
Farbenwahmehmungen eine Gegenwirkung im Auge hervor. Man halte
ein kleines Stück gelbgefärbten Papiers vor eine
mäßig erleuchtete weiße Tafel, und schaue
unverwandt auf die kleine gelbe Fläche. Nach einiger Zeit
hebe man das Papier hinweg. Man wird die Stelle, die das Papier
ausgefüllt hat, violett sehen. Das Auge wird durch den
Eindruck des Gelb disponiert, das Violett aus sich selbst zu
erzeugen. Ebenso wird das Blaue das Orange, das Rote das
Grün als Gegenwirkung hervorbringen. Jede Farbenempfindung
hat also im Auge einen lebendigen Bezug zu einer andern. Die
Zustände, in die das Auge durch Wahrnehmungen versetzt
wird, stehen in einem ähnlichen Zusammenhange wie die
Inhalte dieser Wahrnehmungen in der Außenwelt.
*
Wenn Licht und Finsternis, Hell und Dunkel aufs Auge wirken, so
tritt ihnen dieses lebendige Organ mit seinen Forderungen
entgegen; wirken sie auf die Dinge draußen im Raume, so
treten diese mit ihnen in Wechselwirkung. Der leere Raum hat
die Eigenschaft der Durchsichtigkeit. Er wirkt auf Licht und
Finsternis gar nicht. Diese scheinen durch ihn in ihrer eigenen
Lebhaftigkeit durch. Anders ist es, wenn der Raum mit Dingen
gefüllt ist. Diese Füllung kann eine solche sein,
daß das Auge sie nicht gewahr wird, weil Licht und
Finsternis in ihrer ursprünglichen Gestalt durch sie
hindurch scheinen. Dann spricht man von durchsichtigen Dingen.
Scheinen Licht und Finsternis nicht ungeschwächt durch ein
Ding hindurch, so wird es als trüb bezeichnet. Die
trübe Raumausfüllung bietet die Möglichkeit,
Licht und Finsternis, Hell und Dunkel in ihrem gegenseitigen
Verhältnis zu beobachten. Ein Helles durch ein Trübes
gesehen, erscheint gelb, ein Dunkles blau. Das Trübe ist
ein Materielles, das vom Lichte durchhellt wird. Gegenüber
einem hinter ihm befindlichen helleren, lebhafteren Licht ist
das Trübe dunkel; gegen eine durchscheinende Finsternis
verhält es sich als Helles. Es wirken also, wenn ein
Trübes sich dem Licht oder der Finsternis entgegenstellt,
wirklich ein vorhandenes Helles und ein ebensolches Dunkles
ineinander.
Nimmt die Trübe, durch welche das Licht scheint,
allmählich zu, so geht das Gelb in Gelbrot und dann in
Rubinrot über. Vermindert sich die Trübe, durch die
das Dunkel dringt, so geht das Blau in Indigo und zuletzt in
Violett über. Gelb und Blau sind Grundfarben. Sie
entstehen durch Zusammenwirken des Hellen oder Dunklen mit der
Trübe. Beide können einen rötlichen Ton
annehmen, jenes durch Vermehrung, dieses durch Verminderung der
Trübe. Das Rot ist somit keine Grundfarbe. Es erscheint
als Farbenton an dem Gelben oder Blauen. Gelb mit seinen
rötlichen Nuancen, die sich bis zum reinen Rot steigern,
steht dem Lichte nahe, Blau mit seinen Abtönungen ist der
Finsternis verwandt. Wenn sich Blau und Gelb vermischen
entsteht Grün; mischt sich das bis zum Violetten
gesteigerte Blau mit dem zum Roten verfinsterten Gelb, so
entsteht die Purpurfarbe.
Diese Grunderscheinungen verfolgt Goethe innerhalb der Natur.
Die helle Sonnenscheibe durch einen Flor von trüben
Dünsten gesehen, erscheint gelb. Der dunkle Weltraum durch
die vom Tageslicht erleuchteten Dünste der Atmosphäre
angeschaut, stellt sich als das Blau des Himmels dar.
«Ebenso erscheinen uns auch die Berge blau: denn, indem
wir sie in einer solchen Ferne erblicken, daß wir die
Lokalfarben nicht mehr sehen, und kein Licht von ihrer
Oberfläche mehr auf unser Auge wirkt, so gelten sie als
ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die dazwischen
tretenden Dünste blau erscheint.» (§ 156 des
didaktischen Teiles der Farbenlehre.)
Aus
der Vertiefung in die Kunstwerke der Maler ist Goethe das
Bedürfnis erwachsen, in die Gesetze einzudringen, denen
die Erscheinungen des Gesichtssinnes unterworfen sind. Jedes
Gemälde gab ihm Rätsel auf. Wie verhält sich das
Hell-Dunkel zu den Farben? In welchen Beziehungen stehen die
einzelnen Farben zueinander? Warum bewirkt Gelb eine heitere,
Blau eine ernste Stimmung? Aus der Newtonschen Farbenlehre war
kein Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus diese Geheimnisse
zu lüften gewesen wären. Sie leitet alle Farben aus
dem Licht ab, stellt sie stufenweise nebeneinander und sagt
nichts über ihre Beziehungen zum Dunkeln und auch nichts
über ihre lebendigen Bezüge zueinander. Aus den auf
eigenem Wege gewonnenen Einsichten konnte Goethe die
Rätsel lösen, die ihm die Kunst aufgegeben hatte. Das
Gelb muß eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft
besitzen, denn es ist die nächste Farbe am Licht. Es
entsteht durch die gelindeste Mäßigkeit desselben.
Das Blau weist auf das Dunkle hin, das in ihm wirkt. Deshalb
gibt es ein Gefühl von Kälte, so wie «es auch an
Schatten erinnert». Das rötliche Gelb entsteht durch
Steigerung des Gelben nach der Seite des Dunkeln. Durch diese
Steigerung wächst seine Energie. Das Heitere, Muntere geht
in das Wonnige über. Sobald die Steigerung noch
weitergeht, vom Rotgelben ins Gelbrote, verwandelt sich das
heitere, wonnige Gefühl in den Eindruck des Gewaltsamen.
Das Violett ist das zum Hellen strebende Blau. Die Ruhe und
Kälte des Blauen wird dadurch zur Unruhe. Eine weitere
Zunahme erfährt diese Unruhe im Blauroten. Das reine Rot
steht in der Mitte zwischen Gelbrot und Blaurot. Das
Stürmische des Gelben erscheint gemindert, die
lässige Ruhe des Blauen belebt sich. Das Rote macht den
Eindruck der idealen Befriedigung, der Ausgleichung der
Gegensätze. Ein Gefühl der Befriedigung entsteht auch
durch das Grün, das eine Mischung von Gelb und Blau ist.
Weil aber hier das Heitere des Gelben nicht gesteigert, die
Ruhe des Blauen nicht gestört durch den rötlichen Ton
ist, so wird die Befriedigung eine reinere sein als die, welche
das Rot hervorbringt.
*
Das
Auge fordert, wenn ihm eine Farbe entgegengebracht wird,
sogleich eine andere. Erblickt es Gelb, so entsteht in ihm die
Sehnsucht nach dem Violetten; nimmt es Blau wahr, so verlangt
es Orange; sieht es Rot, so begehrt es Grün. Es ist
begreiflich, daß das Gefühl der Befriedigung
entsteht, wenn neben einer Farbe, die dem Auge dargeboten wird,
eine andere gesetzt wird, die es seiner Natur nach erstrebt.
Aus dem Wesen des Auges ergibt sich das Gesetz der
Farbenharmonie. Farben, die das Auge nebeneinander fordert,
wirken harmonisch. Treten zwei Farben nebeneinander auf, von
denen die eine nicht die andere fordert, so wird das Auge zur
Gegenwirkung aufgeregt. Die Zusammenstellung von Gelb und
Purpur hat etwas Einseitiges, aber Heiteres und
Prächtiges. Das Auge will Violett neben Gelb, um sich
naturgemäß ausleben zu können. Tritt Purpur an
die Stelle des Violetten, so macht der Gegenstand seine
Ansprüche gegenüber denen des Auges geltend. Er
fügt sich den Forderungen des Organs nicht.
Zusammenstellungen dieser Art dienen dazu, auf das
Bedeutende der Dinge hinzuweisen. Sie wollen nicht
unbedingt befriedigen, sondern charakterisieren. Zu solchen
charakteristischen Verbindungen eignen sich Farben, die nicht
in vollem Gegensatz zueinander stehen, die aber doch auch nicht
unmittelbar ineinander übergehen. Zusammenstellungen der
letzteren Art geben den Dingen, an denen sie vorkommen, etwas
Charakterloses.
*
Das
Werden und Wesen der Licht- und Farbenerscheinungen hat sich
Goethe in der Natur offenbart. Er hat es auch wiedererkannt in
den Schöpfungen der Maler, in denen es auf eine
höhere Stufe gehoben, ins Geistige übersetzt ist.
Einen tiefen Einblick in das Verhältnis von Natur und
Kunst hat Goethe durch seine Beobachtungen der
Gesichtswahrnehmungen gewonnen. Daran mag er wohl gedacht
haben, als er nach Vollendung der «Farbenlehre »
über diese Beobachtungen an Frau von Stein schrieb:
«Es reut mich nicht, ihnen soviel Zeit aufgeopfert zu
haben. Ich bin dadurch zu einer Kultur gelangt, die ich mir von
einer andern Seite her schwerlich verschafft
hätte.»
Die
Goethesche Farbenlehre ist verschieden von derjenigen Newtons
und derjenigen Physiker, die auf Newtons Vorstellungen ihre
Anschauungen aufbauen, weil der erstere von einer andern
Weltanschauung ausgeht als die letzteren. Wer nicht den hier
dargestellten Zusammenhang zwischen Goethes allgemeinen
Naturvorstellungen und seiner Farbenlehre ins Auge faßt,
der wird nicht anders können, als glauben, Goethe sei zu
seinen Farbenanschauungen gekommen, weil ihm der Sinn für
die echten Beobachtungsmethoden des Physikers gemangelt habe.
Wer diesen Zusammenhang durchschaut, der wird auch einsehen,
daß innerhalb der Goetheschen Weltanschauung keine andere
Farbenlehre möglich ist als die seinige. Er würde
über das Wesen der Farbenerscheinungen nicht anders haben
denken können, als er es tat, auch wenn alle seit seiner
Zeit gemachten Entdeckungen auf diesem Gebiete vor ihm
wären ausgebreitet gewesen, und wenn er die
gegenwärtig so vervollkommneten Versuchsmethoden
hätte selbst exakt handhaben können. Wenn er auch,
nachdem er mit der Entdeckung der Frauenhoferschen Linien
bekannt wird, diese auch im Sinne seiner Naturanschauung nicht
völlig in diese einreihen kann, so sind doch weder sie
noch sonst eine Entdekkung auf optischem Gebiete ein Einwand
gegen seine Auffassung. Es handelt sich bei alledem nur darum,
diese Goethesche Auffassung so auszubauen, daß diese
Erscheinungen in ihrem Sinne in sie sich einfügen.
Zuzugeben ist, daß wer auf dem Gesichtspunkte der
Newtonschen Auffassung steht, sich bei Goethes Farbenansichten
nichts vorstellen könne. Das rührt aber nicht davon
her, weil ein solcher Physiker Erscheinungen kennt, die der
Goetheschen Auffassung widersprechen, sondern weil er sich in
eine Naturanschauung eingewöhnt hat, die ihn verhindert,
zu erkennen, was die Goethesche Naturansicht eigentlich
will.
Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde und
Lufterscheinungen
Gedanken über die Entwicklungsgeschichte der
Erde
Durch seine Beschäftigung mit dem Ilmenauer Bergbau wurde
Goethe angeregt, das Reich der Mineralien, Gesteine und
Felsarten, sowie die übereinander geschichteten Massen der
Erdrinde zu betrachten. Im Juli 1776 begleitete er den Herzog
Karl August nach Ilmenau. Sie wollten sehen, ob das alte
Bergwerk wieder in Bewegung gesetzt werden könne. Goethe
widmete dieser Bergwerksangelegenheit auch weiter seine
Fürsorge. Dabei wuchs in ihm immer mehr der Trieb, zu
erkennen, wie die Natur bei der Bildung der Stein- und
Gebirgsmassen verfährt. Er bestieg die hohen Gipfel und
kroch in die Tiefen der Erde, um «der großen
formenden Hand nächste Spuren zu entdecken». Seine
Freude, die schaffende Natur auch von dieser Seite kennen zu
lernen, teilte er am 8. September 1780 von Ilmenau aus der Frau
von Stein mit. «Jetzt leb' ich mit Leib und Seel in Stein
und Bergen und bin sehr vergnügt über die weiten
Aussichten, die sich mir auftun. Diese zwei letzten Tage haben
mir ein groß Fleck erobert und können auf vieles
schließen. Die Welt kriegt mir nun ein neu ungeheuer
Ansehen.» Immer mehr befestigt sich bei ihm die Hoffnung,
daß es ihm gelingen werde, einen Faden zu spinnen, der
durch die unterirdischen Labyrinthe durchführen und eine
Übersicht in der Verwirrung geben könne. (Brief an
Frau von Stein vom 12. Juni 1784.) Allmählich dehnt er
seine Beobachtungen über weitere Gebiete der
Erdoberfläche aus. Auf seinen Harzreisen glaubt er zu
erkennen, wie sich große anorganische Massen gestalten. Er
schreibt ihnen die Tendenz zu, sich, «in mannigfachen,
regelmäßigen Richtungen zu trennen so daß
Parallelepipeden entstehen, welche wieder in der Diagonale sich
zu durchschneiden die Geneigtheit haben.» (Vergl. den
Aufsatz «Gestaltung großer anorganischer
Massen», Kürschner, Band 34.) Er denkt sich die
Steinmassen von einem ideellen Gitterwerk durchzogen, und zwar
sechsseitig. Dadurch werden kubische, parallelepipedische,
rhombische, rhomboidische, säulen- und plattenförmige
Körper aus einer Grundmasse herausgeschnitten. Er stellt
sich innerhalb dieser Grundmasse Kräftewirkungen vor, die
sie in dem Sinne trennen, wie das ideelle Gitterwerk es
veranschaulicht. Wie in der organischen Natur, so sucht Goethe
auch in dem Steinreiche das wirksame Ideelle. Auch hier forscht
er mit Geistesaugen. Wo die Trennung in regelmäßige
Formen nicht in die Erscheinung tritt, da nimmt er an, daß
sie ideell in den Massen vorhanden ist. Auf einer Harzreise,
die er 1784 unternimmt, läßt er von dem ihn
begleitenden Rat Kraus Kreidezeichnungen ausführen, in
denen das Unsichtbare, Ideelle durch das Sichtbare verdeutlicht
und zur Anschauung gebracht ist. Er ist der Ansicht, daß
das Tatsächliche vom Zeichner nur dann wahrhaft
dargestellt werden kann, wenn dieser auf die Intentionen der
Natur achtet, die in der äußeren Erscheinung oft
nicht deutlich genug hervortreten.«... im Übergang
aus dem Weichen in das Starre ergibt sich eine Scheidung, sie
sei nun dem Ganzen angehörig oder sie ereigne sich im
Innersten der Massen.» (Kürschner, Band 34. Aufsatz:
«Gebirgs-Gestaltung im ganzen und einzelnen.») In den
organischen Formen ist, nach Goethes Ansicht, ein
sinnlich-übersinnliches Urbild lebendig gegenwärtig;
ein Ideelles tritt in die sinnliche Wahrnehmung ein und
durchsetzt sie. In der regelmäßigen Gestaltung
anorganischer Massen wirkt ein Ideelles, das als solches nicht
in die sinnliche Form eingeht, aber doch eine sinnliche Form
schafft. Die unorganische Form ist in der Erscheinung nicht
sinnlich-übersinnlich, sondern nur sinnlich; sie muß
aber als Wirkung einer übersinnlichen Kraft aufgefaßt
werden. Sie ist ein Zwischending zwischen dem unorganischen
Vorgang, dessen Verlauf noch von einem Ideellen
beherrscht wird, der aber von demselben eine geschlossene Form
erhält, und dem Organischen, in dem das Idelle selbst zur
sinnlichen Form wird.
Die
Bildung zusammengesetzter Gesteine denkt sich Goethe dadurch
bewirkt, daß die ursprünglich nur ideell in einer
Masse vorhandenen Substanzen tatsächlich auseinander
getrennt werden. In einem Briefe an Leonhard, vom 25. November
1807, schreibt er: «So gestehe ich gern, daß ich da
noch oft simultane Wirkungen erblicke, wo andere schon eine
sukzessive sehen; daß ich in manchem Gestein, das andere
für ein Konglomerat, für ein aus Trümmern
Zusammengeführtes und Zusammengebackenes halten, ein aus
einer heterogenen Masse in sich selbst Geschiedenes und
Getrenntes und sodann durch Konsolidation Festgehaltenes zu
schauen glaube.»
Goethe ist nicht dazu gekommen, diese Gedanken für eine
größere Zahl unorganischer Formenbildungen fruchtbar
zu machen. Es ist seiner Denkweise gemäß, auch die
Anordnung der geologischen Schichten aus ideellen
Bildungsprinzipien zu erklären, die dem Stoff, seinem
Wesen nach, innewohnen. Den damals weit verbreiteten
geologischen Ansichten Werners konnte er sich aus dem Grunde
nicht anschließen, weil dieser solche Bildungsprinzipien
nicht kannte, sondern alles auf die rein mechanischen
Wirkungen des Wassers zurückführte. Noch
unsympathischer war ihm der von Hutton aufgestellte und von
Alexander von Humboldt, Leopold von Buch und anderen
verteidigte Vulkanismus, der die Entwicklung der einzelnen
Erdperioden durch gewaltsame, von materiellen Ursachen bewirkte
Revolutionen erklärte. Durch vulkanische Kräfte
läßt diese Anschauung große Gebirgssysteme
plötzlich aus der Erde emporschießen. Solche
unermeßliche Kraftleistungen schienen Goethe dem Wesen der
Natur zu widersprechen. Er sah keinen Grund, warum die Gesetze
der Erdentwicklung sich zu gewissen Zeiten plötzlich
ändern und nach langandauernder allmählicher
Wirksamkeit sich in einem gewissen Zeitpunkte durch «Heben
und Drängen, Aufwälzen und Quetschen, Schleudern und
Schmeißen» äußern sollen. Die Natur
erschien ihm in allen ihren Teilen konsequent, so daß
selbst eine Gottheit an den ihr eingeborenen Gesetzen nichts
ändern könnte. Ihre Gesetze hält er für
unwandelbar. Die Kräfte, die heute an der Bildung der
Erdoberfläche wirken, müssen dem Wesen nach, zu allen
Zeiten gewirkt haben.
Von
diesem Gesichtspunkte aus kommt er auch zu einer
naturgemäßen Ansicht darüber, auf welche Weise
die Gesteinblöcke an ihre Plätze gelangt sind, die in
der Nähe des Genfer Sees zerstreut sich vorfinden und die,
ihrer Beschaffenheit nach, von weit entfernten Gebirgen
abgetrennt sind. Es trat ihm die Meinung entgegen, daß
diese Gesteinsmassen bei dem tumultarischen Aufstand der weit
rückwärts im Lande gelegenen Gebirge an ihren
jetzigen Ort geschleudert worden seien. Goethe suchte nach
Kräften, die gegenwärtig beobachtet werden
können, und die geeignet sind, diese Erscheinung zu
erklären. Er fand solche bei der Bildung der Gletscher
tätig. Nun brauchte er nur anzunehmen, daß die
Gletscher, die heute noch das Gestein vom Gebirge in die Ebenen
befördern, einstmals eine ungeheuer viel größere
Ausdehnung gehabt haben als gegenwärtig. Sie haben dann
die Steinmassen viel weiter von den Gebirgen weggetragen, als
sie es in der Gegenwart tun. Als die Gletscher wieder an
Ausdehnung verloren, sind diese Gesteine liegen geblieben. In
analoger Weise, dachte Goethe, müssen auch die in der
norddeutschen Tiefebene umherliegenden Granitblöcke an
ihre jetzigen Fundorte gelangt sein. Um sich vorstellen zu
können, daß die von erratischen Blöcken
bedeckten Landesteile einst von Gletschereis bedeckt waren,
bedarf es der Annahme einer Epoche großer Kälte.
Gemeingut der Wissenschaft wurde diese Annahme durch
Agassiz, der selbständig auf sie kam und sie 1837
in der Schweizerischen Gesellschaft für Naturforschung
darlegte. In neuerer Zeit ist diese Kälteepoche, die
über die Kontinente der Erde hereinbrach, als bereits ein
reiches Tier- und Pflanzenleben entwickelt war, zum
Lieblingsstudium bedeutender Geologen geworden. Was Goethe im
einzelnen über die Erscheinungen dieser
«Eiszeit» vorbringt, ist gegenüber den
Beobachtungen, die spätere Forscher gemacht haben,
belanglos.
Ebenso wie zur Annahme einer Epoche großer Kälte wird
Goethe durch seine allgemeine Naturanschauung zu einer
richtigen Ansicht über das Wesen der Versteinerungen
geführt. Zwar haben schon frühere Denker in diesen
Gebilden Überreste vorweltlicher Organismen erkannt. Diese
richtige Ansicht ist aber so langsam allgemein herrschend
geworden, daß noch Voltaire die versteinerten Muscheln als
Naturspiele ansehen konnte. Goethe erkannte bald, nachdem er
einige Erfahrung auf diesem Gebiete gewonnen hatte, daß
die Versteinerungen als Reste von Organismen in einem
naturgemäßen Zusammenhange mit denjenigen
Erdschichten stehen, in denen sie gefunden werden. Das
heißt, daß diese Organismen in den Epochen der Erde
gelebt haben, in denen sich die entsprechenden Schichten
gebildet haben. In dieser Weise spricht er sich über
Versteinerungen in einem Briefe an Merck vom 27. Oktober 1782
aus: «Alle die Knochentrümmer, von denen Du sprichst
und die in dem oberen Sande des Erdreichs überall gefunden
werden, sind, wie ich völlig überzeugt bin, aus der
neuesten Epoche, welche aber doch gegen unsere gewöhnliche
Zeitrechnung ungeheuer alt ist. In dieser war das Meer schon
zurückgetreten; hingegen flossen Ströme noch in
großer Breite, doch verhältnismäßig zum
Niveau des Meeres, nicht schneller und vielleicht nicht einmal
so schnell als jetzt. Zu derselbigen Zeit setzte sich der Sand,
mit Leimen gemischt, in allen breiten Tälern nieder, die
nach und nach, als das Meer sank, von dem Wasser verlassen
wurden und die Flüsse sich in ihrer Mitte nur geringe
Beete gruben. Zu jener Zeit waren die Elefanten und
Rhinozerosse auf den entblößten Bergen bei uns zu
Hause, und ihre Reste konnten gar leicht durch die
Waldströme in jene großen Stromtäler oder
Seeflächen heruntergespült werden, wo sie mehr oder
weniger mit dem Steinsaft durchdrungen sich erhielten und wo
wir sie nun mit dem Pfluge oder durch andere Zufälle
ausgraben. In diesem Sinne sagte ich vorher, man finde sie in
dem oberen Sande, nämlich in dem, der durch die alten
Flüsse zusammengespült worden, da schon die
Hauptrinde des Erdbodens völlig gebildet war. Es wird nun
bald die Zeit kommen, wo man Versteinerungen nicht mehr
durcheinander werfen, sondern verhältuismäßig zu
den Epochen der Welt rangieren wird.» Goethe ist
wiederholt ein Vorläufer der durch Lyell
begründeten Geologie genannt worden. Auch diese nimmt
nicht mehr gewaltsame Revolutionen oder Katastrophen an, um die
Entstehung einer Erdperiode aus der andern zu erklären.
Sie führt die früheren Veränderungen der
Erdoberfläche auf dieselben Vorgänge zurück, die
sich auch jetzt noch abspielen. Es darf aber nicht außer
acht gelassen werden, daß die moderne Geologie bloß
physikalische und chemische Kräfte heranzieht, um die
Erdbildung zu erklären. Daß dagegen Goethe
gestaltende Kräfte annimmt, die innerhalb der Massen
wirksam sind und die eine höhere Art von
Bildungsprinzipien darstellen, als die Physik und Chemie sie
kennen.
Betrachtungen über atmosphärische
Erscheinungen
Im
Jahre 1815 lernt Goethe Luke Howards «Versuch einer
Naturgeschichte und Physik der Wolken» kennen. Er wird
dadurch zu schärferem Nachdenken über Wolkenbildungen
und Witterungsverhältnisse angeregt. Zwar hat er schon
früher mancherlei Beobachtungen über diese
Erscheinungen gemacht und aufgezeichnet. Das Erfahrene jedoch
zusammenzustellen fehlten ihm «Umsicht und
wissenschaftliche Verknüpfungszweige». In dem
Howardschen Aufsatze sind die mannigfaltigen Wolkenbildungen
auf gewisse Grundformen zurückgeführt. Goethe findet
nun einen Eingang in die Witterungskunde, die ihm bisher fremd
geblieben ist, weil es seiner Natur unmöglich war, aus der
Art, wie dieser Wissenszweig zu seiner Zeit behandelt wurde,
etwas zu gewinnen. «Den ganzen Komplex der
Witterungskunde, wie er tabellarisch durch Zahlen und Zeichen
aufgestellt wird, zu erfassen ... war meiner Natur
unmöglich; ich freute mich, einen integrierenden Teil
derselben meiner Neigung und Lebensweise angemessen zu finden,
und weil in diesem unendlichen All alles in ewiger, sicherer
Beziehung steht, eins das andere hervorbringt oder wechselweise
hervorgebracht wird, so schärfte ich meinen Blick auf das
dem Sinne der Augen Erfaßliche und gewöhnte mich, die
Bezüge der atmosphärischen und irdischen
Erscheinungen mit Barometer und Thermometer in Einklang zu
setzen...»
Da
der Stand des Barometers in genauem Bezug zu allen
Witterungsverhälmissen steht, so tritt er auch bald
für Goethe in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen
über atmosphärische Verhältnisse. Je länger
er diese Beobachtungen fortsetzt, um so mehr glaubt er zu
erkennen, da das Steigen und Fallen des Quecksilbers im
Barometer an verschiedenen «näher und ferner, nicht
weniger in unterschiedenen Längen, Breiten und Höhen
gelegenen Beobachtungsorten» so geschieht, daß einem
Steigen oder Fallen an einem Orte ein fast gleich großes
Steigen oder Fallen an allen andern Orten zu gleichen Zeiten
entspricht. Aus dieser Regelmäßigkeit der
Barometerveränderungen zieht Goethe die Folgerung,
daß auf dieselben keine außerirdischen Einflüsse
wirken können. Wenn man dem Monde, den Planeten, den
Jahreszeiten einen solchen Einfluß zuschreibt, wenn man
von Ebbe und Flut in der Atmosphäre spricht, so wird die
Regelmäßigkeit nicht erklärt. Alle diese
Einflüsse müßten sich zu gleichen Zeiten in der
verschiedensten Weise an verschiedenen Orten geltend machen.
Nur wenn innerhalb der Erde selbst die Ursache für diese
Veränderungen liegt, sind sie erklärbar, meint
Goethe. Da nun der Stand des Quecksilbers von dem Druck der
Luft abhängt, so stellt sich Goethe vor, daß die Erde
abwechselnd die ganze Atmosphäre zusammenpreßt und
wieder ausdehnt. Wird die Luft zusammengepreßt, so
erhöht sich ihr Druck und das Quecksilber steigt; das
Umgekehrte findet bei der Ausdehnung statt. Goethe schreibt
diese abwechselnde Zusammenziehung und Ausdehnung der ganzen
Luftmasse einer Veränderlichkeit zu, welcher die
Anziehungskraft der Erde unterworfen ist. Das Vermehren und
Vermindern dieser Kraft sieht er in einem gewissen Eigenleben
der Erde begründet und vergleicht es mit dem Ein- und
Ausatmen eines Organismus.
Demnach denkt sich Goethe auch die Erde nicht in bloß
mechanischer Weise wirksam. So wenig er die geologischen
Vorgänge rein mechanisch und physikalisch erklärt,
ebensowenig tut er dies bei den Barometerschwankungen. Seine
Naturansicht steht in scharfem Gegensatz zu der modernen. Diese
sucht, ihren allgemeinen Grundsätzen gemäß, die
atmosphärischen Vorgänge physikalisch zu begreifen.
Die Temperaturunterschiede in der Atmosphäre bewirken eine
Verschiedenheit des Luftdrucks an verschiedenen Orten, erzeugen
Luftströmungen von wärmeren nach kälteren
Gebieten, vermehren oder vermindern den Feuchtigkeitsgehalt,
bringen Wolkenbildungen und Niederschläge hervor. Aus
solchen und ähnlichen Faktoren werden die Schwankungen des
Luftdrucks und damit das Steigen und Fallen des Barometers
erklärt. Auch widerspricht Goethes Vorstellung von einer
Vermehrung und Verminderung der Anziehungskraft den modernen
mechanischen Begriffen. Nach diesen ist die Stärke der
Anziehungskraft an einem Orte stets dieselbe. Goethe wendet
mechanische Vorstellungen nur so weit an, als es ihm durch die
Beobachtung geboten erscheint.
Goethe und Hegel
Goethes Weltbetrachtung geht nur bis zu einer gewissen Grenze.
Er beobachtet die Licht- und Farbenerscheinungen und dringt bis
zum Urphänomen vor; er sucht sich innerhalb der
Mannigfaltigkeit des Pflanzenwesens zurechtzufinden und gelangt
zu seiner sinnlich-übersinnlichen Urpflanze. Von dem
Urphänomen oder der Urpflanze steigt er nicht zu
höheren Erklärungsprinzipien auf. Das
überläßt er den Philosophen. Er ist befriedigt,
wenn «er sich auf der empirischen Höhe befindet, wo
er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen
überschauen, und vorwärts in das Reich der Theorie,
wo nicht eintreten, doch einblicken kann». Goethe geht in
der Betrachtung des Wirklichen so weit, bis ihm die Ideen
entgegenblicken. In welchem Zusammenhange die Ideen
untereinander stehen; wie innerhalb des Ideellen das eine aus
dem andern hervorgeht; das sind Aufgaben, die auf der
empirischen Höhe erst beginnen, auf der Goethe stehen
bleibt. «Die Idee ist ewig und einzig», meint er,
« daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht
wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden
können, sind nur Manifestationen der Idee.» Da aber
doch in der Erscheinung die Idee als eine Vielheit von
Einzelideen auftritt, z. B. Idee der Pflanze, Idee des Tieres,
so müssen diese sich auf eine Grundform
zurückführen lassen, wie die Pflanze sich auf das
Blatt zurückführen läßt. Auch die einzelnen
Ideen sind nur in ihrer Erscheinung verschieden; in ihrem
wahren Wesen sind sie identisch. Es ist also ebenso im Sinne
der Goetheschen Weltanschauung, von einer Metamorphose der
Ideen wie von einer Metamorphose der Pflanzen zu reden. Der
Philosoph, der diese Metamorphose der Ideen darzustellen
versucht hat, ist Hegel. Er ist dadurch der Philosoph der
Goetheschen Weltanschauung. Von der einfachsten Idee, dem
reinen «Sein» geht er aus. In diesem verbirgt sich
die wahrhafte Gestalt der Welterscheinungen vollständig.
Deren reicher Inhalt wird zum blutarmen Abstraktum. Man hat
Hegel vorgeworfen, daß er aus dem reinen «Sein»
die ganze inhaltvolle Welt der Ideen ableitet. Aber das reine
Sein enthält «der Idee nach» die ganze
Ideenwelt, wie das Blatt der Idee nach die ganze Pflanze
enthält. Hegel verfolgt die Metamorphosen der Idee von dem
reinen abstrakten Sein bis zu der Stufe, in der die Idee
unmittelbar wirkliche Erscheinung wird. Er betrachtet als diese
höchste Stufe die Erscheinung der Philosophie selbst. Denn
in der Philosophie werden die in der Welt wirksamen Ideen in
ihrer ureigenen Gestalt angeschaut. In Goethes Weise gesprochen
könnte man etwa sagen: die Philosophie ist die Idee in
ihrer größten Ausbreitung; das reine Sein ist die
Idee in ihrer äußersten Zusammenziehung. Daß
Hegel in der Philosophie die vollkommenste Metamorphose der
Idee sieht, beweist, daß ihm die wahre Selbstbeachtung
ebenso ferne liegt wie Goethe. Ein Ding hat seine höchste
Metamorphose erreicht, wenn es in der Wahrnehmung, im
unmittelbaren Leben seinen vollen Inhalt herausarbeitet. Die
Philosophie aber enthält den Ideengehalt der Welt nicht in
Form des Lebens, sondern in Form von Gedanken. Die lebendige
Idee, die Idee als Wahrnehmung, ist allein der menschlichen
Selbstbeobachtung gegeben. Hegels Philosophie ist keine
Weltanschauung der Freiheit, weil sie den Weltinhalt in seiner
höchsten Form nicht auf dem Grunde der menschlichen
Persönlichkeit sucht. Auf diesem Grunde wird aller Inhalt
ganz individuell. Nicht dieses Individuelle sucht Hegel,
sondern das Allgemeine, die Gattung. Er verlegt den Ursprung
des Sittlichen daher auch nicht in das menschliche Individuum,
sondern in die außer dem Menschen liegende Weltordnung,
welche die sittlichen Ideen enthalten soll. Der Mensch gibt
sich nicht selbst sein sittliches Ziel, sondern er hat sich der
sittlichen Weltordnung einzugliedern. Das Einzelne,
Individuelle gilt Hegel geradezu als das Schlechte, wenn es in
seiner Einzelheit verharrt. Erst innerhalb des Ganzen
erhält es seinen Wert. Dies ist die Gesinnung der
Bourgeoisie, meint Max Stirner «und ihr Dichter Goethe,
wie ihr Philosoph Hegel haben die Abhängigkeit des
Subjekts vom Objekte, den Gehorsam gegen die objektive Welt
usw. zu verherrlichen gewußt». Damit ist wieder eine
andere einseitige Vorstellungsart hingestellt. Hegel wie Goethe
fehlt die Anschauung der Freiheit, weil beiden die Anschauung
des innersten Wesens der Gedankenwelt abgeht. Hegel fühlt
sich durchaus als Philosoph der Goetheschen Weltanschauung. Er
schreibt am 20. Februar 1821 an Goethe: «Das Einfache und
Abstrakte, was Sie sehr treffend das Urphänomen nennen,
stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die konkreteren
Erscheinungen auf als entstehend durch das Hinzukommen weiterer
Einwirkungsweisen und Umstände und regieren den ganzen
Verlauf so, daß die Reihenfolge von den einfachen
Bedingungen zu den zusammengesetztem fortschreitet und so
rangiert, das Verwickelte nun durch diese Dekomposition in
seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen
auszuspüren, es von den andern, ihm selbst zufälligen
Umgebungen zu befreien, - es abstrakt, wie wir dies
heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache
des großen geistigen Natursinns, sowie jenen Gang
überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche der
Erkenntnis in diesem Felde.» «Darf ich Ew. usw. aber
nun auch noch von dem besondern Interesse sprechen, welches ein
so herausgehobenes Urphänomen für uns Philosophen
hat, daß wir nämlich ein solches Präparat
geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden können! -
Haben wir nämlich endlich unser zunächst
austernhaftes, graues oder ganz schwarzes ... Absolutes doch
gegen Luft und Licht hingearbeitet, daß es desselben
begehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es
vollends an das Licht des Tages herauszuführen; unsere
Schemen würden zu Dunst verschweben, wenn wir sie so
geradezu in die bunte verworrene Gesellschaft der
widerhältigen Welt versetzen wollten. Hier kommen uns nun
Ew. usw. Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem
Zwielichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit,
sichtlich oder greiflich durch seine Sinnlichkeit -
begrüßen sich die beiden Welten, unser Abstruses und
das erscheinende Dasein, einander.»
Wenn auch Goethes Weltanschauung und Hegels Philosophie
einander vollkommen entsprechen, so würde man sich doch
sehr irren, wenn man den Gedanken-Leistungen Goethes und denen
Hegels den gleichen Wert zuerkennen wollte. In beiden lebt
dieselbe Vorstellungsweise. Beide wollen die Selbstwahrnehmung
vermeiden. Doch hat Goethe seine Reflexionen auf Gebieten
angestellt, in denen der Mangel der Wahrnehmung nicht
schädlich wirkt. Hat er auch nie die Ideenwelt als
Wahrnehmung gesehen; er hat doch in der Ideenwelt gelebt
und seine Beobachtungen von ihr durchdringen lassen. Hegel hat
die Ideenwelt ebensowenig wie Goethe als Wahrnehmung, als
individuelles Geist-Dasein geschaut. Er hat aber gerade
über die Ideenwelt seine Reflexionen angestellt. Diese
sind daher nach vielen Richtungen hin schief und unwahr.
Hätte Hegel Beobachtungen über die Natur angestellt,
so wären sie wohl ebenso wertvoll geworden wie diejenigen
Goethes; hätte Goethe ein philosophisches
Gedankengebäude aufstellen wollen, so hätte ihn wohl
die sichere Anschauung der wahren Wirklichkeit verlassen, die
ihn bei seinen Naturbetrachtungen geleitet hat.
Nachwort zur Neuauflage 1918
Von
Beurteilern dieser Schrift wurde gleich nach ihrem Erscheinen
gesagt, daß sie nicht ein Bild von Goethes
«Weltanschauung», sondern nur von seiner
«Naturanschauung» gebe. Ich bin nicht der Ansicht,
daß dieses Urteil von einem berechtigten Gesichtspunkte
aus gefällt ist, wenn auch, äußerlich
betrachtet, in dem Buche fast ausschließlich von Goethes
Naturideen die Rede ist. Denn ich glaube im Verlaufe meiner
Ausführungen gezeigt zu haben, daß diese Naturideen
auf einer ganz bestimmten Art, die Welterscheinungen anzusehen,
beruhen. Und ich meine, durch die Schrift selbst, angedeutet zu
haben, daß das Einnehmen eines Gesichtspunktes
gegenüber den Naturerscheinungen, wie ihn Goethe gehabt
hat, zu bestimmten Ansichten, über psychologische,
historische und weitergehende Weltenerscheinungen führen
kann. Was sich in Goethes Naturanschauung auf einem bestimmten
Gebiete aus spricht, ist eben eine Weltanschauung, nicht eine
bloße Naturanschauung, die auch eine Persönlichkeit
haben könnte, deren Gedanken für ein weiteres
Weltbild keine Bedeutung haben. Andrerseits aber glaubte ich in
diesem Buche nichts anderes darstellen zu sollen, als was sich
in unmittelbarem Anschlusse an das Gebiet sagen läßt,
das Goethe selbst aus dem Gesamtumfange seiner Weltanschauung
herausgearbeitet hat. Das Weltbild zu zeichnen, das sich in
Goethes Dichtungen, in seinen kunstgeschichtlichen Ideen usw.
offenbart, ist selbstverständlich durchaus möglich
und zweifellos von dem allerhöchsten Interesse. Wer die
Haltung der vorliegenden Schrift ins Auge faßt, wird in
derselben ein solches Weltbild aber nicht suchen. Ein
solcher wird erkennen, daß ich mir zur Aufgabe gemacht
habe, denjenigen Teil des Goetheschen Weltbildes
nachzuzeichnen, für den in seinen eigenen Schriften
Ausführungen vorhanden sind, deren eine aus der anderen
lückenlos hervorgeht. Ich habe ja auch an den
verschiedensten Stellen angedeutet, wo die Punkte liegen, an
denen Goethe steckengeblieben ist in dieser lückenlosen
Herausarbeitung seines Weltbildes, die ihm für gewisse
Naturgebiete gelungen ist. Goethes Ansichten über die Welt
und das Leben offenbaren sich in weitestem Umfange. Das
Hervorgehen dieser Ansichten aus seiner ihm ureigenen
Weltanschauung ist aber aus seinen Werken über das Gebiet
der Naturerscheinungen hinaus nicht in der gleichen Art
anschaulich wie auf diesem Gebiete. Auf anderen Gebieten wird
anschaulich, was Goethes Seele der Welt zu offenbaren hatte;
auf dem Gebiete seiner Naturideen wird ersichtlich, wie der
Grundzug seines Geistes eine Weltanschauung bis zu einer
gewissen Grenze Schritt für Schritt sich erobert. Gerade
dadurch, daß man in der Zeichnung von Goethes
Gedankenarbeit einmal nicht weiter geht als in der
Ausführung desjenigen liegt, was sich in ihm selbst zu
einem gedanklich geschlossenen Stück Weltanschauung
herausgebildet hat, wird man ein Licht gewinnen für die
besondere Färbung dessen, was sich sonst in seinem
Lebenswerk offenbart. Deshalb wollte ich nicht das Weltbild
malen, das aus Goethes Lebenswerk im Ganzen spricht, sondern
denjenigen Teil, der bei ihm selbst in der Form zu Tage tritt,
in der man eine Weltanschauung gedanklich zum Ausdrucke bringt.
Aus einer noch so großen Persönlichkeit
hervorquellende Anschauungen sind noch nicht Teile eines in
sich geschlossenen und von der Persönlichkeit selbst
zusammenhängend gedachten Weltanschauungsbildes. Aber
Goethes Naturideen sind ein solches in sich geschlossenes
Stück eines Weltanschauungsbildes. Und sie sind als
Beleuchtung von Naturerscheinungen nicht eine bloße
Naturansicht, sondern das Glied einer
Weltanschauung.
*
Daß man mir auch angesichts dieses Buches vorgeworfen hat,
meine Anschauungen haben sich seit dem Erscheinen desselben
geändert, wundert mich nicht, da ich nicht unbekannt bin
mit den Voraussetzungen, von denen man sich bei solchen
Urteilen leiten läßt. Ich habe mich in der Vorrede
zum ersten Bande meiner «Rätsel der Philosophie»
und in einem Aufsatze in der Zeitschrift «Das
Reich»(«Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie
und die zeitgenössische Erkenntnistheorie», 2.
Jahrgang, 2. Buch des «Reiches») über dieses
Suchen nach Widersprüchen in meinen Schriften
ausgesprochen. Ein solches Suchen ist nur bei Beurteilern
möglich, die völlig verkennen, wie gerade meine
Weltanschauung sich verhalten muß, wenn sie
verschiedene Gebiete des Lebens ins Auge fassen will. Ich will
hier nicht im allgemeinen auf diese Frage noch einmal eingehen,
sondern nur kurz einiges mit Bezug auf dieses Goethebuch
bemerken. Ich selber sehe in der anthroposophisch orientierten
Geisteswissenschaft, die ich in meinen Schriften seit 16 Jahren
zur Darstellung bringe, diejenige Erkenntnisart für den
dem Menschen zugänglichen geistigen Weltgehalt, zu welcher
derjenige kommen muß, der die Goetheschen Naturideen als
etwas ihm Gemäßes in seiner Seele belebt hat und von
da ausgehend zu Erkennmiserlebnissen über das Geistgebiet
der Welt strebt. Ich bin der Ansicht, daß diese
Geisteswissenschaft eine Naturwissenschaft voraussetzt, die der
Goetheschen entspricht. Nicht so nur meine ich das, daß
die von mir zur Darstellung gebrachte Geisteswissenschaft
dieser Naturwissenschaft nicht widerspricht. Denn ich
weiß, daß es wenig besagen will, wenn zwischen
verschiedenen Behauptungen nur kein logischer
Widerspruch ist. Sie könnten deshalb doch in der
Wirklichkeit durchaus unverträglich sein. Sondern ich
glaube einzusehen, daß Goethes Ideen über das
Naturgebiet, wirklich erlebt, zu den von mir dargelegten
anthroposophischen Erkenntnissen notwendig führen
müssen, wenn man, was Goethe noch nicht getan hat, die
Erlebnisse im Naturgebiet überleitet zu Erlebnissen im
Geistgebiet. Wie diese letzteren Erlebnisse geartet sind, das
findet man in meinen geisteswissenschaftlichen Werken
beschrieben. Aus diesem Grunde findet man den wesentlichen
Inhalt des vorliegenden Buches, das ich 1897 zum ersten Male
veröffentlicht habe, als meine Wiedergabe der Goetheschen
Weltanschauung auch jetzt, nach der Veröffentlichung
meiner geisteswissenschaftlichen Schriften, wieder abgedruckt.
Alle darin dargestellten Gedanken gelten mir unverändert
auch heute. Ich habe nur an einzelnen Stellen Änderungen
angebracht, die sich nicht auf die Haltung der Gedanken,
sondern nur auf Stilisierung einzelner Ausführungen
erstrecken. Und daß man, nach zwanzig Jahren, bei einem
Buche da oder dort einiges anders zu stilisieren wünscht,
kann am Ende begreiflich erscheinen. Was sonst in der
Neuauflage anders ist als in der vorigen sind einige
Erweiterungen, nicht Änderungen des Inhalts. Ich bin der
Meinung, daß wer einen naturwissenschaftlichen Unterbau
für die Geisteswissenschaft sucht, ihn durch Goethes
Weltanschauung finden kann. Deshalb scheint mir, daß eine
Schrift über Goethes Weltanschauung auch dem von Bedeutung
sein kann, der sich mit der anthroposophisch orientierten
Geisteswissenschaft beschäftigen will. Meine Schrift ist
aber so gehalten, daß sie Goethes Weltanschauung ganz
für sich, ohne Bezug zur eigentlichen
Geisteswissenschaft, betrachten will. (Einiges von dem, was
von besonderem geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte
über Goethe zu sagen ist, wird man in meiner Schrift
über «Goethes Faust und das Märchen von der
grünen Schlange» finden.)
*
Nachträgliche Anmerkung:
Ein
Kritiker dieses meines Goethebuches (in den Kantstudien III,
1898) hat geglaubt, einen besonderen Fund in bezug auf meine
«Widersprüche» zu machen, indem er, was ich in
diesem Buche über den Platonismus sage (in der ersten
Auflage 1897) zusammenstellt mit einem Ausspruche, dem ich fast
ganz zur selben Zeit in meiner Einleitung zum 4. Band von
Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (Kürschnersche
Ausgabe) getan habe: «Die Philosophie Platos ist eines der
erhabensten Gedankengebäude, die je aus dem Geiste der
Menschheit entsprungen sind. Es gehört zu den traurigsten
Zeichen unserer Zeit, daß platonische Anschauungsweise in
der Philosophie geradezu für das Gegenteil von gesunder
Vernunft gilt.» Es wird gewissen Geistern eben schwer
begreiflich, daß ein jeglich Ding von verschiedenen Seiten
betrachtet, verschieden sich darstellt. Daß meine
verschiedenen Aussprüche über den Platonismus keinen
wirklichen Widerspruch darstellen, wird derjenige leicht
einsehen, der nicht an die bloßen Wortklänge sich
hält, sondern auf die verschiedenen Beziehungen eingeht,
in die ich das eine und das andere Mal den Platonismus, durch
seine eigene Wesenheit, bringen mußte. Es ist einerseits
ein trauriges Zeichen, wenn man den Platonismus als der
gesunden Vernunft widerstrebend ansieht, weil man dieser nur
gemäß findet das Stehenbleiben bei der bloßen
Sinnesanschauung als der einzigen Wirklichkeit. Und es ist auch
einer gesunden Anschauung von Idee und Sinneswelt
widerstrebend, wenn man den Platonismus so wendet, daß
durch ihn eine ungesunde Trennung von Idee und Sinnesanschauung
bewirkt wird. Wer auf eine solche Art gedanklicher
Durchdringung der Erscheinungen des Lebens nicht eingehen kann,
der bleibt, mit dem, was er begreift, immer außerhalb der
Wirklichkeit stehen. Wer - um mit Goethe zu reden - einen
Begriff hinpfahlt, um einen reichen Lebensinhalt zu begrenzen,
der hat keinen Sinn dafür, daß sich das Leben in
Beziehungen ausgestaltet, die nach den verschiedenen Richtungen
hin verschieden wirken. Es ist allerdings bequemer, an die
Stelle einer Ansicht des vollen Lebens einen schematischen
Begriff zu setzen; man kann mit solchen Begriffen eben leicht
schematisch urteilen. Man lebt aber durch einen solchen Vorgang
in wesenlosen Abstraktionen. Die menschlichen Begriffe werden
gerade dadurch zu solchen Abstraktionen, daß man meint,
man könne sie im Verstande so behandeln, wie die Dinge
einander behandeln. Aber diese Begriffe gleichen vielmehr
Bildern, die man von verschiedenen Seiten her von einem Dinge
aufnimmt. Das Ding ist eines; der Bilder sind viele. Und nicht
die Einstellung auf ein Bild, sondern das
Zusammenschauen mehrerer Bilder führt zu einer Anschauung
des Dinges. Da ich nun leider sehen mußte, wie viel
Neigung bei manchen Beurteilern vorhanden ist, aus einer
solchen, nach Durchdringung mit der Wirklichkeit strebenden
Betrachten einer Erscheinung unter verschiedenen
Gesichtspunkten «Widersprüche» zu konstruieren,
so fühlte ich mich veranlaßt, in dieser Neuauflage
bei den Ausführungen über den Platonismus erstens
durch eine etwas veränderte Stilisierung der in der ersten
Auflage gegebenen Darstellung dasjenige noch besonders deutlich
zu machen, was mir vor zwanzig Jahren wahrlich klar genug aus
dem Zusammenhange, in dem er steht, zu sein schien; zweitens
durch unmittelbares Setzen des Ausspruches aus meiner andern
Schrift neben das, was in diesem Buche gesagt ist, zu
zeigen, wie die beiden Aussprüche in vollem Einklang
miteinander stehen. Wer nun aber doch den Geschmack hat, in
solchen Dingen Widersprüche zu finden, dem habe ich
dadurch die Mühe erspart, sie erst aus zwei Büchern
zusammensuchen zu müssen.
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