Vorrede
zur 1. Ausgabe
Die
Gedanken, die ich in diesem Buche ausspreche, sollen die
Grundlage festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes
beobachtet habe. Im Lauf vieler Jahre habe ich immer wieder und
wieder das Bild dieser Weltanschauung betrachtet. Besonderen
Reiz hatte es für mich, nach den Offenbarungen zu sehen,
welche die Natur über ihr Wesen und ihre Gesetze den
feinen Sinnes- und Geistesorganen Goethes gemacht hat. Ich
lernte begreifen, warum Goethe diese Offenbarungen als so hohes
Glück empfand, daß er sie zuweilen höher
schätzte als seine Dichtungsgabe. Ich lebte mich in die
Empfindungen ein, die durch Goethes Seele zogen, wenn er sagte,
daß «wir durch nichts so sehr veranlaßt werden
über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst
bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene
charakteristische Naturszenen, nach langen Zwischenräumen
endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit
der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir
denn im ganzen bemerken, daß das Objekt immer mehr
hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den
Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und
Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei
gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebührende Recht
widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre
Eigenschaften sofern wir sie durchdringen, in einem höhern
Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens
gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich
dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht
ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß,
indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser
sich in Aug' und Geist desto kräftiger entwickelte.»
Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der
Natur empfangen hat, muß man kennen, wenn man den vollen
Gehalt seiner Dichtungen verstehen will. Die Geheimnisse, die
er dem Wesen und Werden der Schöpfung abgelauscht hat,
leben in seinen künstlerischen Erzeugnissen und werden nur
demjenigen offenbar, der hinhorcht auf die Mitteilungen, die
der Dichter über die Natur macht. Der kann nicht in die
Tiefen der Goetheschen Kunst hinuntertauchen, dem Goethes
Naturbeobachtungen unbekannt sind.
Solche Empfindungen drängten mich zu der
Beschäftigung mit Goethes Naturstudien. Sie ließen
zunächst die Ideen reifen, die ich vor mehr als zehn
Jahren in Kürschners «Deutscher
Nationallitteratur» mitteilte. Was ich damals in dem
ersten anfing, habe ich ausgebaut in den drei folgenden
Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, von
denen der letzte in diesen Tagen vor die Öffentlichkeit
tritt. Dieselben Empfindungen leiteten mich, als ich vor
mehreren Jahren die schöne Aufgabe übernahm, einen
Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die
große Weimarische Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an
Gedanken zu dieser Arbeit mitgebracht und was ich während
derselben ersonnen habe, bildet den Inhalt des vorliegenden
Buches. Ich darf diesen Inhalt als erlebt im vollsten
Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspunkten aus
habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen
Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise
schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht
dieser einzigen Persönlichkeit die eigene
Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene,
selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr
glaubte ich Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu
finden, das auch die Räume in Goethes Seele durchleuchtet,
die ihm selbst dunkel geblieben sind. Zwischen den Zeilen
seiner Werke wollte ich lesen, was mir ihn ganz
verständlich machen sollte. Die Kräfte seines
Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst
bewußt wurde, suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen
Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen.
Unsere Zeit liebt es, die Ideen da, wo von psychologischer
Betrachtung einer Persönlichkeit die Rede ist, in einem
mystischen Halbdunkel zu lassen. Die gedankliche Klarheit in
solchen Dingen wird gegenwärtig als nüchterne
Verstandesweisheit verachtet. Man glaubt tiefer zu dringen,
wenn man von einseitig mystischen Abgründen des
Seelenlebens, von dämonischen Gewalten innerhalb der
Persönlichkeit spricht. Ich muß gestehen, daß
mir diese Schwärmerei für verfehlte mystische
Psychologie als Oberflächlichkeit erscheint. Sie ist bei
Menschen vorhanden, in denen der Inhalt der Ideenwelt keine
Empfindungen erzeugt. Sie können in die Tiefen dieses
Inhaltes nicht hinabsteigen, sie fühlen die Wärme
nicht, die von ihm ausströmt. Deshalb suchen sie diese
Wärme in der Unklarheit. Wer imstande ist, sich einzuleben
in die hellen Sphären der reinen Gedankenwelt, der
empfindet in ihnen das, was er sonst nirgends empfinden kann.
Persönlichkeiten wie die Goethes kann man nur erkennen,
wenn man die Ideen, von denen sie beherrscht sind, in ihrer
lichten Klarheit in sich aufzunehmen vermag. Wer eine falsche
Mystik in der Psychologie liebt, wird vielleicht meine
Betrachtungsweise kalt finden. Ob es aber meine Schuld ist,
daß ich das Dunkle und Unbestimmte nicht mit dem
Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten kann? So rein und
klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in Goethe als
wirksame Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie
darzustellen. Vielleicht findet auch mancher die Linien, die
ich gezogen habe, die Farben, die ich aufgetragen habe, zu
einfach. Ich meine aber, daß man das Große am besten
charakterisiert, wenn man es in seiner monumentalen Einfachheit
darzustellen versucht. Die kleinen Schnörkel und
Anhängsel verwirren nur die Betrachtung. Nicht auf
nebensächliche Gedanken, zu denen er durch dieses oder
jenes Erlebnis von untergeordneter Bedeutung veranlaßt
worden ist, kommt es mir bei Goethe an, sondern auf die
Grundrichtung seines Geistes. Mag dieser Geist auch da und dort
Seitenwege ein schlagen: eine Haupttendenz ist immer zu
erkennen. Und sie habe ich zu verfolgen gesucht. Wer da meint,
daß die Regionen, durch die ich gegangen bin, eisig sind,
von dem meine ich, er habe sein Herz zu Hause
gelassen.
Will man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejenigen
Seiten der Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich
mein eigenes Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts
erwidern, als daß ich eine fremde Persönlichkeit nur
so ansehen will, wie sie mir nach meiner eigenen Wesenheit
erscheinen muß. Die Objektivität derjenigen
Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie fremde
Ideen schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie
kann nur matte und farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt
jeder wahren Darstellung einer fremden Weltanschauung zu
Grunde. Und der völlig besiegte wird nicht der beste
Darsteller sein. Die fremde Macht muß Achtung erzwingen;
aber die eigenen Waffen müssen ihren Dienst tun. Ich habe
deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach meiner
Ansicht die Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es
Erkenntnisgebiete gibt, die ihr verschlossen geblieben sind.
Ich habe gezeigt, welche Richtung die Beobachtung der
Welterscheinungen nehmen muß, wenn sie in die Gebiete
dringen will, die Goethe nicht betreten hat, oder auf denen er,
wenn er sich in sie begeben hat, unsicher herumgeirrt ist. So
interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen
zu folgen; ich möchte jedem nur so weit folgen, als er
mich selbst fördert. Denn nicht die Betrachtung, die
Erkenntnis, sondern das Leben, die eigene Tätigkeit ist
das Wertvolle. Der reine Historiker ist ein schwacher, ein
unkräftiger Mensch. Die historische Erkenntnis raubt die
Energie und Spannkraft des eigenen Wirkens. Wer alles verstehen
will, wird selbst wenig sein. Was fruchtbar ist, allein ist
wahr, hat Goethe gesagt. Soweit Goethe für unsere Zeit
fruchtbar ist, soweit soll man sich in seine Gedanken- und
Empfindungswelt einleben. Und ich glaube, aus der folgenden
Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch
ungehobene Schätze in dieser Gedanken- und Empfindungswelt
verborgen liegen. Ich habe auf die Stellen hingedeutet, an
denen die moderne Wissenschaft hinter Goethe
zurückgeblieben ist. Ich habe von der Armut der
gegenwärtigen Ideenwelt gesprochen und ihr den Reichtum
und die Fülle der Goetheschen entgegengehalten. In Goethes
Denken sind Keime, welche die moderne Naturwissenschaft zur
Reife bringen sollte. Für sie könnte dieses Denken
vorbildlich sein. Sie hat einen größeren
Beobachtungsstoff als Goethe. Aber sie hat diesen Stoff nur mit
spärlichem und unzureichendem Ideengehalt durchsetzt. Ich
hoffe, daß aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie
wenig Eignung die moderne naturwissenschaftliche Denkweise dazu
besitzt, Goethe zu kritisieren, und wie viel sie von ihm lernen
könnte.
Rudolf Steiner
|