Einleitung
Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich
nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in
einzelnen Aussprüchen über sie sagt. In
kristallklaren, scharf geprägten Sätzen den Kern
seines Wesens auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Solche
Sätze schienen ihm die Wirklichkeit eher zu verzerren als
richtig abzubilden. Er hatte eine gewisse Scheu davor, das
Lebendige, die Wirklichkeit in einem durchsichtigen Gedanken
festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehung zur
Außenwelt, seine Beobachtungen über die Dinge und
Ereignisse waren zu reich, zu erfüllt von zarten
Bestandteilen, von intimen Elementen, um von ihm selbst in
einfache Formeln gebracht zu werden. Er spricht sich aus, wenn
ihn dieses oder jenes Erlebnis dazu drängt. Aber er sagt
immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte Anteilnahme an allem,
was an ihn herankommt, bestimmt ihn oft, schärfere
Ausdrücke zu gebrauchen, als es seine Gesamtnatur
verlangt. Sie verführt ihn ebenso oft, sich unbestimmt zu
äußern, wo ihn sein Wesen zu einer bestimmten Meinung
nötigen könnte. Er ist immer ängstlich, wenn es
sich darum handelt, zwischen zwei Ansichten zu entscheiden. Er
will sich die Unbefangenheit nicht dadurch rauben, daß er
seinen Gedanken eine scharfe Richtung gibt. Er beruhigt sich
bei dem Gedanken: «Der Mensch ist nicht geboren, die
Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das
Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen
zu halten. »Ein Problem, das der Mensch gelöst zu
haben glaubt, entzieht ihm die Möglichkeit, tausend Dinge
klar zu sehen, die in den Bereich dieses Problems fallen. Er
achtet auf sie nicht mehr, weil er über das Gebiet
aufgeklärt zu sein glaubt, in das sie fallen. Goethe
möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache haben,
die einander entgegengesetzt sind, als eine bestimmte.
Denn jedes Ding scheint ihm eine Unendlichkeit
einzuschließen, der man sich von verschiedenen Seiten
nähern muß, um von ihrer ganzen Fülle etwas
wahrzunehmen. «Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten
Meinungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das
Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige
Leben, in Ruhe gedacht.» Goethe will seine Gedanken
lebendig erhalten, damit er in jedem Augenblicke sie umwandeln
könne, wenn die Wirklichkeit ihn dazu veranlaßt. Er
will nicht recht haben; er will stets nur aufs «Rechte
losgehen». In zwei verschiedenen Zeitpunkten spricht er
sich über dieselbe Sache verschieden aus. Eine feste
Theorie, die ein für allemal die Gesetzmäßigkeit
einer Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck bringen will, ist
ihm bedenklich, weil eine solche der Erkenntniskraft das
unbefangene Verhältnis zur beweglichen Wirklichkeit
raubt.
Wenn man dennoch die Einheit seiner Anschauungen
überschauen will, so muß man weniger auf seine Worte
hören, als auf seine Lebensführung sehen. Man
muß sein Verhältnis zu den Dingen belauschen, wenn er
ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was er
selbst nicht sagt. Man muß auf das Innerste seiner
Persönlichkeit eingehen, das sich zum größten
Teile hinter seinen Äußerungen verbirgt. Was er sagt,
mag sich oft widersprechen; was er lebt, gehört immer
einem sich selber tragenden Ganzen an. Hat er seine
Weltanschauung auch nicht in einem geschlossenen System
aufgezeichnet; er hat sie in einer geschlossenen
Persönlichkeit dargelebt. Wenn wir auf sein Leben sehen,
so lösen sich alle Widersprüche in seinem Reden. Sie
sind in seinem Denken über die Welt nur in dem Sinne
vorhanden wie in der Welt selbst. Er hat über die Natur
dies und jenes gesagt. In einem festgefügten
Gedankengebäude hat er seine Naturanschauung niemals
niedergelegt. Aber wenn wir seine einzelnen Gedanken auf diesem
Gebiete überblicken, so schließen sie sich von selbst
zu einem Ganzen zusammen. Man kann sich eine Vorstellung davon
machen, welches Gedankengebäude entstanden wäre, wenn
er seine Ansichten im Zusammenhang vollständig dargestellt
hätte. Ich habe mir vorgesetzt, in dieser Schrift zu
schildern, wie Goethes Persönlichkeit in ihrem innersten
Wesen geartet gewesen sein muß, um über die
Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu
können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen
Arbeiten niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich
sagen werde, Goethesche Sätze entgegengehalten werden
können, die ihm widersprechen, weiß ich. Es handelt
sich mir aber in dieser Schrift nicht darum, eine
Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu geben, sondern
darum, die Grundlagen seiner Persönlichkeit darzustellen,
die ihn zu seinen tiefen Einsichten in das Schaffen und Wirken
der Natur führten. Nicht aus den zahlreichen Sätzen,
in denen er an andere Denkweisen sich anlehnt, um dadurch
verständlich zu werden; oder in denen er sich der Formeln
bedient, welche der eine oder der andere Philosoph gebraucht
hat, lassen sich diese Grundlagen erkennen. Aus den
Äußerungen zu Eckermann könnte man sich einen
Goethe konstruieren, der nie die Metamorphose der Pflanzen
hätte schreiben können. An Zelter hatte Goethe
manches Wort gerichtet, das verführen könnte, auf
eine wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen
großen Gedanken über die Bildung der Tiere
widerspricht. Ich gebe zu, daß in Goethes
Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich
nicht berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten
zurück hinter den eigentlich bestimmenden, die seiner
Weltanschauung das Gepräge geben. Diese bestimmenden
Kräfte so scharf zu charakterisieren, als mir möglich
ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt. Man wird beim Lesen
dieses Buches deshalb beachten müssen, daß ich
nirgends die Absicht gehabt habe, etwa Bestandteile einer
eigenen Weltanschauung durch die Darstellung der Goetheschen
Vorstellungsart hindurchschimmern zu lassen. Ich glaube,
daß man bei einem Buche dieser Art kein Recht hat, die
eigene Weltanschauung inhaltlich zu vertreten, sondern
daß man die Pflicht hat, dasjenige, was einem die eigene
Weltanschauung gibt, zum Verstehen der geschilderten zu
verwenden. Ich habe z. B. Goethes Verhältnis zur
abendländischen Gedankenentwickelung so schildern wollen,
wie sich dieses Verhältnis vom Gesichtspunkte der
Goetheschen Weltanschauung aus darstellt. Für die
Betrachtung der Weltanschauungen einzelner
Persönlichkeiten scheint mir diese Art einzig die
historische Objektivität zu verbürgen. Eine andere
Art hat erst einzutreten, wenn eine solche Weltanschauung im
Zusammenhange mit anderen betrachtet wird.
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