Goethes Stellung innerhalb
der abendländischen Gedankenentwicklung
Goethe
und Schiller
Goethe erzählt von einem Gespräch, das sich einstmals
zwischen ihm und Schillern entspann, nachdem beide einer
Sitzung der naturforschenden Gesellschaft in Jena beigewohnt
hatten. Schiller zeigte sich wenig befriedigt von dem, was in
der Sitzung vorgebracht worden war. Eine zerstückelte Art,
die Natur zu betrachten, war ihm entgegen getreten. Und er
bemerkte, daß eine solche den Laien keineswegs anmuten
könne. Goethe erwiderte, daß sie den Eingeweihten
selbst vielleicht unheimlich bliebe, und daß es noch eine
andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und
vereinzelt, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in
die Teile strebend darzustellen. Und nun entwickelte Goethe die
großen Ideen, die ihm über die Pflanzennatur
aufgegangen waren. Er zeichnete «mit manchen
charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze»
vor Schillers Augen. Diese symbolische Pflanze sollte die
Wesenheit ausdrücken, die in jeder einzelnen Pflanze lebt,
was für besondere Formen eine solche auch annimmt. Sie
sollte das sukzessive Werden der einzelnen Pflanzenteile, ihr
Hervorgehen auseinander und ihre Verwandtschaft untereinander
zeigen. Über diese symbolische Pflanzengestalt schrieb
Goethe am 17. April 1787 in Palermo die Worte nieder «Eine
solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst
erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei,
wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet
wären.» Die Vorstellung einer plastisch-ideellen
Form, die dem Geiste sich offenbart, wenn er die
Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten überschaut und ihr
Gemeinsames beachtet, hatte Goethe in sich ausgebildet.
Schiller betrachtete dieses Gebilde, das nicht in einer
einzelnen, sondern in allen Pflanzen leben sollte, und sagte
kopfschüttelnd: «Das ist keine Erfahrung, das ist
eine Idee.» Wie aus einer fremden Welt kommend, erschienen
Goethe diese Worte. Er war sich bewußt, daß er zu
seiner symbolischen Gestalt durch dieselbe Art naiver
Wahrnehmung gelangt war wie zu der Vorstellung eines Dinges,
das man mit Augen sehen und mit Händen greifen kann. Wie
die einzelne Pflanze, so war für ihn die symbolische oder
Urpflanze ein objektives Wesen. Nicht einer willkürlichen
Spekulation, sondern unbefangener Beobachtung glaubte er sie zu
verdanken. Er konnte nichts entgegnen als: «Das kann mir
sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und
sie sogar mit Augen sehe.» Und er war ganz
unglücklich, als Schiller daran die Worte knüpfte:
«Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben werden, die einer
Idee angemessen sein sollte. Denn darin besteht das
Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine
Erfahrung kongruieren könne.»
Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in diesem
Gespräche einander gegenüber. Goethe sieht in der
Idee eines Dinges ein Element, das in demselben unmittelbar
gegenwärtig ist, in ihm wirkt und schafft. Ein einzelnes
Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte Formen aus dem
Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle in einer
besonderen Weise ausleben muß. Es hat für Goethe
keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspreche der Idee nicht. Denn
das Ding kann nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee
gemacht hat. Anders denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und
Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Der Erfahrung
gehören die mannigfaltigen Dinge und Ereignisse an, die
den Raum und die Zeit erfüllen. Ihr steht das Reich der
Ideen gegenüber, als eine anders geartete Wirklichkeit,
dessen sich die Vernunft bemächtigt. Weil von zwei Seiten
dem Menschen seine Erkenntnisse zufließen, von außen
durch Beobachtung und von innen durch das Denken, unterscheidet
Schiller zwei Quellen der Erkenntnis. Für Goethe gibt es
nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in
welcher die Ideenwelt eingeschossen ist. Für ihn ist es
unmöglich, zu sagen: Erfahrung und Idee, weil ihm
die Idee durch die geistige Erfahrung so vor dem geistigen Auge
liegt, wie die sinnliche Welt vor dem physischen.
Schillers Anschauung ist hervorgegangen aus der Philosophie
seiner Zeit. Die grundlegenden Vorstellungen, welche dieser
Philosophie das Gepräge gegeben haben, und welche
treibende Kräfte der ganzen abendländischen
Geistesbildung geworden sind, muß man im griechischen
Altertume suchen. Man kann von der besonderen Wesenheit der
Goetheschen Weltanschauung ein Bild gewinnen, wenn man sie ganz
aus sich selbst heraus, gewissermaßen mit Ideen, die man
bloß aus ihr entlehnt, zu kennzeichnen versucht. Das soll
in den späteren Teilen dieser Schrift angestrebt werden.
Einer solchen Kennzeichnung kann aber zu Hilfe kommen ein
vorangehendes Betrachten der Tatsache, daß sich Goethe
über gewisse Dinge in der einen oder andern Art
ausgesprochen hat, weil er sich in Überein Stimmung oder
in Gegensatz fühlte mit dem, was andere über ein
Gebiet des Natur- und Geisteslebens dachten. Mancher Ausspruch
Goethes wird nur verständlich, wenn man die
Vorstellungsarten betrachtet, denen er sich gegenüber
gestellt fand, und mit denen er sich auseinandersetzte, um
einen eigenen Gesichtspunkt zu gewinnen. Wie er über dies
oder jenes dachte und empfand, gibt zugleich eine
Aufklärung über das Wesen seiner eigenen
Weltanschauung. Man muß, wenn man über dieses Gebiet
Goetheschen Wesens sprechen will, manches zum Ausdruck bringen,
was bei ihm nur unbewußte Empfindung geblieben ist. In dem
hier angeführten Gespräch mit Schiller stand vor
Goethes geistigem Auge eine der seinigen gegensätzliche
Weltanschauung. Und diese Gegensätzlichkeit zeigt, wie er
empfand über diejenige Vorstellungsart, die, von einer
Seite des Griechentums herkommend, einen Abgrund sieht zwischen
der sinnlichen und der geistigen Erfahrung und wie er, ohne
solchen Abgrund, die Erfahrung der Sinne und die Erfahrung des
Geistes sich zusammenschließen sah in einem Weltbild, das
ihm die Wirklichkeit vermittelte. Will man bewußt als
Gedanken in sich beleben, was Goethe mehr oder weniger
unbewußt als Anschauung über die Gestalt der
abendländischen Weltanschauungen in sich trug, so werden
diese Gedanken die folgenden sein. In einem
verhängnisvollen Augenblicke bemächtigte sich eines
griechischen Denkers ein Mißtrauen in die menschlichen
Sinnesorgane. Er fing an zu glauben, daß diese Organe dem
Menschen nicht die Wahrheit überliefern, sondern daß
sie ihn täuschen. Er verlor das Vertrauen zu dem, was die
naive, unbefangene Beobachtung darbietet. Er fand, daß das
Denken über die wahre Wesenheit der Dinge andere Aussagen
mache als die Erfahrung. Es wird schwer sein zu sagen, in
welchem Kopfe sich dieses Mißtrauen zuerst festsetzte. Man
begegnet ihm in der eleatischen Philosophenschule, deren erster
Vertreter der um 570 v.Chr. zu Kolophon geborene Xenophanes
ist. Als die wichtigste Persönlichkeit dieser Schule
erscheint Parmenides. Denn er hat mit einer Schärfe wie
niemand vor ihm behauptet, es gäbe zwei Quellen der
menschlichen Erkenntnis. Er hat erklärt, daß die
Eindrücke der Sinne Trug und Täuschung seien, und
daß der Mensch zu der Erkenntnis des Wahren nur durch das
reine Denken, das auf die Erfahrung keine Rücksicht nimmt,
gelangen könne. Durch die Art, wie diese Auffassung
über das Denken und die Sinnes-Erfahrung bei Parmenides
auftritt, war vielen folgenden Philosophien eine
Entwicklungskrankheit eingeimpft, an der die wissenschaftliche
Bildung noch heute leidet. Welchen Ursprung diese
Vorstellungsart in orientalischen Anschauungen hat, dies zu
besprechen, ist innerhalb des Zusammenhanges der Goetheschen
Weltanschauung nicht der Ort.
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