Die
platonische Weltanschauung
Mit
der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato
dieses Mißtrauen in die Erfahrung aus: Die Dinge dieser
Welt, welche unsere Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres
Sein: sie werden immer, sind aber nie. Sie haben nur ein
relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr
Verhältnis zueinander; man kann daher ihr ganzes Dasein
ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie sind folglich auch
nicht Objekte einer eigentlichen Erkenntnis. Denn nur von dem,
was an und für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann
es eine solche geben; sie hingegen sind nur das Objekt eines
durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. So lange
wir nur auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir
Menschen, die in einer finsteren Höhle so fest gebunden
saßen, daß sie auch den Kopf nicht drehen
könnten und nichts sehen, als beim Lichte eines hinter
ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen gegenüber die
Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen
und dem Feuer vorübergeführt würden, und auch
sogar von einander, ja jeder von sich selbst, eben nur die
Schatten an jener Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die ans
Erfahrung erlernte Reihenfolge jener Schatten
vorherzusagen.
In
zwei Teile reißt die platonische Anschauung die
Vorstellung des Weltganzen auseinander, in die Vorstellung
einer Scheinwelt und in eine andere der Ideenwelt, der allein
wahre, ewige Wirklichkeit entsprechen soll. «Was allein
wahrhaft seiend genannt werden kann, weil es immer ist, aber
nie wird, noch vergeht: das sind die idealen Urbilder jener
Schattenbilder, es sind die ewigen Ideen, die Urformen aller
Dinge. Ihnen kommt keine Vielheit zu; denn jedes ist seinem
Wesen nach nur eines, indem es das Urbild selbst ist,
dessen Nachbilder oder Schatten alle ihm gleichnamige,
einzelne, vergängliche Dinge derselben Art sind. Ihnen
kommt auch kein Entstehen und Vergehen zu; denn sie sind
wahrhaft seiend, nie aber werdend, noch untergehend wie ihre
hinschwindenden Nachbilder. Von ihnen allein daher gibt es eine
eigentliche Erkenntnis, da das Objekt einer solchen nur das
sein kann, was immer und in jedem Betracht ist, nicht das, was
ist, aber auch wieder nicht ist, je nachdem man es
ansieht.»
Die
Unterscheidung von Idee und Wahrnehmung hat nur eine
Berechtigung, wenn von der Art gesprochen wird, wie die
menschliche Erkenntnis zustande kommt. Der Mensch muß die
Dinge auf zweifache Art zu sich sprechen lassen. Einen Teil
ihrer Wesenheit sagen sie ihm freiwillig. Er braucht nur
hinzuhorchen. Dies ist der ideenfreie Teil der Wirklichkeit.
Den andern aber muß er ihnen entlocken. Er muß sein
Denken in Bewegung setzen, dann erfüllt sich sein Inneres
mit den Ideen der Dinge. Im Innern der Persönlichkeit ist
der Schauplatz, auf dem auch die Dinge ihr ideelles Innere
enthüllen. Da sprechen sie aus, was der äußeren
Anschauung ewig verborgen bleibt. Das Wesen der Natur kommt
hier zu Worte. Aber es liegt nur an der menschlichen
Organisation, daß durch den Zusammenklang von zwei
Tönen die Dinge erkannt werden müssen. In der Natur
ist ein Erreger da, der beide Töne hervorbringt.
Der unbefangene Mensch horcht auf den Zusammenklang. Er erkennt
in der ideellen Sprache seines Innern die Aussagen, die ihm die
Dinge zukommen lassen. Nur wer die Unbefangenheit verloren hat,
der deutet die Sache anders. Er glaubt, die Sprache seines
Inneren komme aus einem andern Reich als die Sprache der
äußeren Anschauung. Plato ist es zum Bewußtsein
gekommen, welches Gewicht für die menschliche
Weltanschauung die Tatsache hat, daß die Welt sich dem
Menschen von zwei Seiten her offenbart. Aus der einsichtsvollen
Wertung dieser Tatsache erkannte er, daß der Sinneswelt,
allein für sich betrachtet, nicht Wirklichkeit
zugesprochen werden darf. Erst wenn aus dem Seelenleben heraus
die Ideenwelt aufleuchtet und im Anschauen der Welt der Mensch
Idee und Sinnesbeobachtung als einheitliches Erkenntniserlebnis
vor seinen Geist stellen kann, hat er wahre Wirklichkeit vor
sich. Was die Sinnesbeobachtung vor sich hat, ohne daß es
von dem Lichte der Ideen durchstrahlt wird, ist eine
Scheinwelt. So betrachtet fällt von Platos Einsicht aus
auch Licht auf die Ansicht des Parmenides von dem Trugcharakter
der Sinnendinge. Und man kann sagen, die Philosophie Platos ist
eines der erhabensten Gedankengebäude, die je aus dem
Geiste der Menschheit entsprungen sind. Platonismus ist die
Überzeugung, daß das Ziel alles Erkenntnisstrebens
die Aneignung der die Welt tragenden und deren Grund bildenden
Ideen sein müsse. Wer diese Überzeugung in
sich nicht erwecken kann, der versteht die platonische
Weltanschauung nicht. - Insofern aber der Platonismus in die
abendländische Gedankenentwickelung eingegriffen hat,
zeigt er noch eine andere Seite. Plato ist nicht dabei stehen
geblieben, die Erkenntnis zu betonen, daß im
menschlichen Anschauen die Sinneswelt zu einem Schein
wird, wenn das Licht der Ideenwelt nicht auf sie geworfen wird,
sondern er hat durch seine Darstellung dieser Tatsache der
Meinung Vorschub geleistet, als ob die Sinneswelt für
sich, abgesehen von dem Menschen, eine Scheinwelt sei und nur
in den Ideen wahre Wirklichkeit zu finden. Aus dieser Meinung
heraus entsteht die Frage: wie kommen Idee und Sinnenwelt
(Natur) außerhalb des Menschen zu einander? Wer
außerhalb des Menschen keine ideenlose Sinneswelt
anerkennen kann, für den ist die Frage nach dem
Verhältnis von Idee und Sinneswelt eine solche, die
innerhalb der menschlichen Wesenheit gesucht und gelöst
werden muß. Und so steht die Sache vor der Goetheschen
Weltanschauung. Für diese ist die Frage: «welches
Verhältnis besteht außerhalb des Menschen
zwischen Idee und Sinneswelt?» eine ungesunde, weil es
für sie keine Sinneswelt (Natur) ohne Idee
außerhalb des Menschen gibt. Nur der Mensch kann
für sich die Idee von der Sinneswelt lösen und so die
Natur ideenlos vorstellen. Deshalb kann man sagen:
für die Goethesche Weltanschauung ist die Frage: «wie
kommen Idee und Sinnendinge zu einander?» welche die
abendländische Gedankenentwickelung durch Jahrhunderte
beschäftigt hat, eine vollkommen überflüssige
Frage. Und der Niederschlag dieser durch die
abendländische Gedankenentwickelung laufenden
Strömung des Platonismus, der Goethe z. B. in dem
angeführten Gespräche mit Schiller, aber auch in
anderen Fällen entgegentrat, wirkte auf seine Empfindung
wie ein ungesundes Element des menschlichen Vorstellens. Was er
nicht deutlich mit Worten aussprach, was aber in seiner
Empfindung lebte und ein mitgestaltender Impuls seiner eigenen
Weltanschauung wurde, das ist die Ansicht: was das gesunde
menschliche Empfinden in jedem Augenblicke lehrt: wie die
Sprache der Anschauung und des Denkens sich verbinden, um die
volle Wirklichkeit zu offenbaren, das wurde von den
grübelnden Denkern nicht beachtet. Statt hinzusehen, wie
die Natur zu dem Menschen spricht, bildeten sie künstliche
Begriffe über das Verhältnis von Ideenwelt und
Erfahrung aus. Um vollends zu überschauen, welch tiefe
Bedeutung diese von Goethe als ungesund empfundene Denkrichtung
in den Weltanschauungen hatte, die ihm entgegentraten und an
denen er sich orientieren wollte, muß man bedenken, wie
die angedeutete Strömung des Platonismus, welche die
Sinnenwelt in Schein verflüchtigt, und die Ideenwelt
dadurch in ein schiefes Verhältnis zu ihr bringt, durch
eine einseitige philosophische Erfassung der christlichen
Wahrheit im Laufe der abendländischen Gedankenentwicklung
eine Verstärkung erfahren hat. Weil Goethe die christliche
Anschauung, mit der von ihm als ungesund empfundenen
Strömung des Platonismus verbunden, entgegentrat, konnte
er nur unter Schwierigkeiten sein Verhältnis zu dem
Christentum ausbilden. Goethe hat das Fortwirken der von ihm
abgelehnten Strömung des Platonismus in der christlichen
Gedankenentwicklung nicht im einzelnen verfolgt, aber er hat
den Niederschlag dieses Fortwirkens in den Denkungsarten
empfunden, die ihm entgegentraten. Daher wirft auf die
Gestaltung seiner Vorstellungsart Licht eine
Betrachtung, welche das Zustandekommen dieses Niederschlages in
den Gedankenrichtungen verfolgt, welche sich durch die
Jahrhunderte vor dem Auftreten Goethes ausgebildet haben. Die
christliche Gedankenentwicklung war in vielen ihrer Vertreter
bestrebt, sich auseinanderzusetzen mit dem Jenseitsglauben und
mit dem Werte, den das Sinnesdasein hat gegenüber der
geistigen Welt. Gab man sich der Anschauung hin, daß das
Verhältnis der Sinneswelt zur Ideenwelt eine von dem
Menschen abgesonderte Bedeutung hat, so kam man mit der daraus
entstehenden Frage in die Anschauung der göttlichen
Weltordnung hinein. Und Kirchenväter, an welche diese
Frage herantrat, mußten sich Gedanken darüber machen,
welche Rolle die platonische Ideenwelt innerhalb dieser
göttlichen Weltordnung spielt. Damit stand man vor der
Gefahr, dasjenige, was im menschlichen Erkennen durch
unmittelbares Anschauen sich verbindet: Idee und Sinneswelt
nicht nur für sich außer dem Menschen gesondert zu
denken, sondern sie auseinander zu sondern, daß die Ideen
außerhalb dessen, was dem Menschen als Natur gegeben ist,
auch noch in einer von der Natur abgesonderten Geistigkeit
für sich ein Dasein führen. Verband man diese
Vorstellung, die auf einer unwahren Anschauung von Ideenwelt
und Sinnenwelt beruhte mit der berechtigten Ansicht, daß
das Göttliche nie in der Menschenseele vollbewußt
anwesend sein kann, so er gab sich ein völliges
Auseinanderreißen von Ideenwelt und Natur. Dann wird, was
immer im menschlichen Geiste gesucht werden sollte,
außerhalb desselben in der Schöpfung gesucht. In dem
göttlichen Geist werden die Urbilder aller Dinge enthalten
gedacht. Die Welt wird der unvollkommene Abglanz der in Gott
ruhenden vollkommenen Ideenwelt. Es wird dann in Folge einer
einseitigen Auffassung des Platonismus die Menschenseele von
dem Verhältnis zwischen Idee und «Wirklichkeit»
getrennt. Sie dehnt ihr berechtigt gedachtes Verhältnis
zur göttlichen Weltordnung aus auf das Verhältnis,
das in ihr lebt zwischen Ideenwelt und
Sinnes-Scheinwelt. Augustinus kommt durch solche
Vorstellungsart zu Ansichten wie diese: «Ohne jedes
Schwanken wollen wir glauben, daß die denkende Seele nicht
wesensgleich sei mit Gott, denn dieser gestattet keine
Gemeinschaft, daß aber die Seele erleuchtet werden
könne durch Teilnahme an der Gottesnatur.» Auf diese
Art wird der Menschenseele dann, wenn diese Vorstellungsart
einseitig übertrieben wird, die Möglichkeit entzogen,
in der Naturbetrachtung die Ideenwelt als Wesen der
Wirklichkeit mitzuerleben. Und es wird solches Miterleben als
unchristlich gedeutet. Über das Christentum selbst wird
die einseitige Anschauung des Platonismus gebreitet. Der
Platonismus als philosophische Weltanschauung hält sich
mehr im Elemente des Denkens; das religiöse Empfinden
taucht das Denken in das Gefühlsleben und befestigt es auf
diese Art in der Menschennatur. So im Menschenseelenleben
verankert konnte das Ungesunde des einseitigen Platonismus in
der abendländischen Gedankenentwicklung tiefere Bedeutung
gewinnen, als wenn es bloß Philosophie geblieben
wäre. Durch Jahrhunderte stand diese Gedankenentwicklung
vor Fragen wie diese: wie steht, was der Mensch als Idee
ausbildet, zu den Dingen der Wirklichkeit? Sind die in der
Menschenseele durch die Ideenwelt lebenden Begriffe nur
Vorstellungen, Namen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun
haben? Sind sie selbst etwas Wirkliches, das der Mensch
empfängt, indem er die Wirklichkeit wahrnimmt und durch
seinen Verstand begreift? Solche Fragen sind für die
Goethesche Weltanschauung keine Verstandesfragen über
irgend etwas, das außerhalb der menschlichen Wesenheit
liegt. Im menschlichen Anschauen der Wirklichkeit lösen
sich diese Fragen in immerwährender Lebendigkeit durch das
wahre menschliche Erkennen. Und diese Goethesche Weltanschauung
muß nicht nur finden, daß in den christlichen
Gedanken der Niederschlag eines einseitigen Platonismus lebt,
sondern sie empfindet sich selbst dem echten Christentum
entfremdet, wenn dieses von solchem Platonismus getränkt,
ihr entgegentritt. - Was in vielen Gedanken lebt, die Goethe in
sich ausgebildet hat, um sich die Welt verständlich zu
machen, das war Ablehnung der von ihm als ungesund empfundenen
Strömung des Platonismus. Daß er daneben einen freien
Sinn hatte für die platonische Erhebung der Menschenseele
zur Ideenwelt, das wird durch manchen Ausspruch bezeugt, den er
in dieser Richtung getan hat. Er fühlte in sich die
Wirksamkeit der Ideenwirklichkeit, indem er in seiner Art der
Natur betrachtend und forschend gegenübertrat; er
fühlte, daß die Natur selbst in der Sprache der Ideen
redet, wenn sich die Seele solcher Sprache erschließt.
Aber er konnte nicht zugeben, daß man die Ideenwelt als
Abgesondertes betrachtet, und sich dadurch die Möglichkeit
schuf gegenüber einer Idee von dem Pflanzenwesen zu sagen:
Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Da empfand er,
daß sein geistiges Auge die Idee als Wirklichkeit schaute,
wie das sinnliche Auge den physischen Teil des Pflanzenwesens
sieht. So stellte sich in Goethes Weltanschauung die auf die
Ideenwelt gehende Richtung des Platonismus in ihrer Reinheit
her, und es wird in ihr die von der Wirklichkeit ablenkende
Strömung desselben überwunden. Wegen dieser
Gestaltung seiner Weltanschauung mußte Goethe auch
ablehnen, was ihm sich als christliche Vorstellungen so gab,
daß es ihm nur als umgewandelter einseitiger Platonismus
erscheinen konnte. Und er mußte empfinden, daß in den
Formen mancher Weltanschauung, die ihm entgegentraten und mit
denen er sich auseinandersetzen wollte, es nicht gelungen sei,
die christlich-platonische, nicht natur- und
ideengemäße Ansicht über die Wirklichkeit
innerhalb der abendländischen Bildung zu
überwinden.
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