Die
Folgen der platonischen Weltanschauung
Vergeblich hat sich Aristoteles gegen die platonische Spaltung
der Weltvorstellung aufgelehnt. Er sah in der Natur ein
einheitliches Wesen, das die Ideen ebenso enthält, wie die
durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen. Nur im
menschlichen Geiste können die Ideen ein
selbständiges Dasein haben. Aber in dieser
Selbständigkeit kommt ihnen keine Wirklichkeit zu.
Bloß die Seele kann sie abtrennen von den wahrnehmbaren
Dingen, mit denen zusammen sie die Wirklichkeit ausmachen.
Hätte die abendländische Philosophie an die richtig
verstandene Anschauung des Aristoteles angeknüpft, so
wäre sie bewahrt geblieben vor manchem, was der
Goetheschen Weltanschauung als Verirrung erscheinen
muß.
Aber dieser richtig verstandene Aristoteles war zunächst
manchem unbequem, der eine Gedankengrundlage für die
christlichen Vorstellungen gewinnen wollte. Mit einer
Naturauffassung, welche das höchste wirksame Prinzip in
die Erfahrungswelt verlegt, wußte mancher, der sich
für einen echt «christlichen» Denker hielt,
nichts anzufangen. Manche christliche Philosophen und Theologen
deuteten deshalb den Aristoteles um. Sie legten seinen
Ansichten einen Sinn unter, der nach ihrer Meinung geeignet
war, dem christlichen Dogma zur logischen Stütze zu
dienen. Nicht suchen sollte der Geist in den Dingen die
schaffenden Ideen. Die Wahrheit ist ja den Menschen von Gott in
Form der Offenbarung mitgeteilt. Nur bestätigen
sollte die Vernunft, was Gott geoffenbart hat. Die
aristotelischen Sätze wurden von den christlichen Denkern
des Mittelalters so gedeutet, daß die religiöse
Heilswahrheit durch sie ihre philosophische Bekräftigung
erhielt. Erst die Auffassung Thomas' von Aquino, des
bedeutendsten christlichen Denkers, sucht die aristotelischen
Gedanken in einer tiefgehenden Art in die christliche
Ideenentwicklung so weit einzuweben, als es in der Zeit dieses
Denkers möglich war. Nach dieser Auffassung enthält
die Offenbarung die höchsten Wahrheiten, die Heilslehre
der heiligen Schrift; aber es ist der Vernunft möglich, in
aristotelischer Weise in die Dinge sich zu vertiefen und deren
Ideengehalt aus ihnen herauszuholen. Die Offenbarung steigt so
tief herab und die Vernunft kann sich so weit erheben, daß
die Heilslehre und die menschliche Erkenntnis an einer Grenze
in einander übergehen. Die Art des Aristoteles, in die
Dinge einzudringen, dient also für Thomas dazu, bis zu dem
Gebiete der Offenbarung zu kommen.
*
Als
mit Bacon von Verulam und Descartes eine Zeit anhob, in welcher
der Wille sich geltend machte, die Wahrheit durch die eigene
Kraft der menschlichen Persönlichkeit zu suchen, waren die
Denkgewohnheiten in solche Richtungen gebracht, daß alles
Streben zu nichts anderem führte als zur Aufstellung von
Ansichten, die trotz ihrer scheinbaren Unabhängigkeit von
der vorangehenden abendländischen Vorstellungswelt, doch
nichts waren als neue Formen derselben. Auch Bacon und
Descartes haben den bösen Blick für das
Verhältnis von Erfahrung und Idee als Erbstück einer
entarteten Gedankenwelt mitbekommen. Bacon hatte nur Sinn und
Verständnis für die Einzelheiten der Natur. Durch
Sammeln desjenigen, was durch die räumliche und zeitliche
Mannigfaltigkeit als Gleiches oder Ähnliches sich
hindurchzieht, glaubte er zu allgemeinen Regeln über das
Naturgeschehen zu kommen. Goethe spricht über ihn das
treffende Wort: «Denn ob er schon selbst immer darauf
hindeutet, man solle die Partikularien nur deswegen sammeln,
damit man aus ihnen wählen, sie ordnen und endlich zu
Universalien gelangen könne, so behalten doch bei ihm
die einzelnen Fälle zu viele Rechte, und ehe man durch
Induktion, selbst diejenige, die er anpreist, zur Vereinfachung
und zum Abschluß gelangen kann, geht das Leben weg, und
die Kräfte verzehren sich.» Für Bacon sind diese
allgemeinen Regeln Mittel, durch welche es der Vernunft
möglich ist, das Gebiet der Einzelheiten bequem zu
überschauen. Aber er glaubt nicht, daß diese Regeln
in dem Ideengehalte der Dinge begründet und wirklich
schaffende Kräfte der Natur sind. Deshalb sucht er auch
nicht unmittelbar in der Einzelheit die Idee auf, sondern
abstrahiert sie aus einer Vielheit von Einzelheiten. Wer nicht
daran glaubt, daß in dem einzelnen Dinge die Idee lebt,
kann auch keine Neigung haben, sie in demselben zu suchen. Er
nimmt das Ding so hin, wie es sich der bloßen
äußeren Anschauung darbietet. Bacons Bedeutung ist
darin zu suchen, daß er auf die durch den gekennzeichneten
einseitigen Platonismus herabgewürdigte äußere
Anschauungsweise hinwies. Daß er betonte, in ihr sei eine
Quelle der Wahrheit. Er war aber nicht im Stande, der Ideenwelt
in gleicher Weise zu ihrem Rechte gegenüber der
Anschauungswelt zu verhelfen. Er erklärte das Ideelle
für ein subjektives Element im menschlichen Geiste. Seine
Denkweise ist umgekehrter Platonismus. Plato sieht nur in der
Ideenwelt, Bacon nur in der ideenlosen Wahrnehmungswelt die
Wirklichkeit. In Bacons Auffassung liegt der Ausgangspunkt
jener Denkergesinnung, von welcher die Naturforscher bis in die
Gegenwart beherrscht sind. Sie leidet an einer falschen Ansicht
über das ideelle Element der Erfahrungswelt. Sie konnte
nicht zurechtkommen mit der durch eine einseitige Fragestellung
erzeugten Ansicht des Mittelalters, die dahin ging, daß
die Ideen nur Namen, keine in den Dingen liegenden
Wirklichkeiten seien.
*
Von
anderen Gesichtspunkten aus, aber nicht minder beeinflußt
durch einseitig platonisierende Denkungsarten, stellte drei
Jahrzehnte nach Bacon Descartes seine Betrachtungen an. Auch er
krankt an der Erbsünde des abendländischen Denkens,
an dem Mißtrauen gegenüber der unbefangenen
Beobachtung der Natur. Der Zweifel an der Existenz und
Erkennbarkeit der Dinge ist der Anfang seines Forschens. Nicht
auf die Dinge richtet er den Blick, um Zugang zur
Gewißheit zu erlangen, sondern eine ganz kleine Pforte,
einen Schleichweg, im vollsten Sinne des Wortes sucht er auf.
In das intimste Gebiet des Denkens zieht er sich zurück.
Alles, was ich bisher als Wahrheit geglaubt habe, kann falsch
sein, sagt er sich. Was ich gedacht habe, kann auf
Täuschung beruhen. Aber die eine Tatsache bleibt
doch bestehen, daß ich über die Dinge denke. Auch
wenn ich Lug und Trug denke, so denke ich doch. Und wenn ich
denke, so existiere ich auch. Ich denke, also bin ich. Damit
glaubt Descartes einen festen Ausgangspunkt für alles
weitere Nachdenken gewonnen zu haben. Er fragt sich weiter:
gibt es nicht in dem Inhalte meines Denkens noch anderes, das
auf ein wahrhaftes Sein hindeutet? Und da findet er die Idee
Gottes, als eines allervollkommensten Wesens. Da der Mensch
selbst unvollkommen ist: wie kommt die Idee eines
allervollkommensten Wesens in seine Gedankenwelt? Ein
unvollkommenes Wesen kann eine solche Idee unmöglich aus
sich selbst erzeugen. Denn das vollkommenste, das es zu denken
vermag, ist eben ein unvollkommenes. Es muß also diese
Idee von dem vollkommensten Wesen selbst in den Menschen gelegt
sein. Also muß auch Gott existieren. Wie aber soll ein
vollkommenes Wesen uns eine Täuschung vorspiegeln? Die
Außenwelt, die sich uns als wirklich darstellt, muß
deshalb auch wirklich sein. Sonst wäre sie ein Trugbild,
das uns die Gottheit vormachte. Auf diese Weise sucht Descartes
das Vertrauen zur Wirklichkeit zu gewinnen, das ihm wegen
ererbter Empfindungen zuerst fehlte. Auf einem
äußerst künstlichen Wege sucht er die Wahrheit.
Einseitig vom Denken geht er aus. Nur dem Denken gesteht er die
Kraft zu, Überzeugung hervorzubringen. Über die
Beobachtung kann nur eine Überzeugung gewonnen werden,
wenn sie durch das Denken vermittelt wird. Die Folge dieser
Ansicht war, daß es das Streben der Nachfolger Descartes
wurde, den ganzen Umfang der Wahrheiten, die das Denken aus
sich heraus entwickeln und beweisen kann, festzustellen. Die
Summe aller Erkenntnisse aus reiner Vernunft wollte man finden.
Von den einfachsten unmittelbar klaren Einsichten wollte man
ausgehen, und fortschreitend den ganzen Kreis des reinen
Denkens durchwandern. Nach dem Muster der Euklidischen
Geometrie sollte dieses System aufgebaut werden. Denn man war
der Ansicht, auch diese gehe von einfachen, wahren Sätzen
aus und entwickle durch bloße Schlußfolgerung, ohne
Zuhilfenahme der Beobachtung, ihren ganzen Inhalt. Ein solches
System reiner Vernunftwahrheiten zu liefern, hat Spinoza in
seiner «Ethik» versucht. Eine Anzahl von
Vorstellungen: Substanz, Attribut, Modus, Denken, Ausdehnung
usw. nimmt er vor und untersucht rein verstandesmäßig
die Beziehungen und den Inhalt dieser Vorstellungen. In dem
Gedankengebäude soll das Wesen der Wirklichkeit sich
aussprechen. Spinoza betrachtet nur die Erkenntnis, die durch
diese wirklichkeitsfremde Tätigkeit zustande kommt, als
eine solche, die dem wahren Wesen der Welt entspricht, die
adäquate Ideen liefert. Die aus der Sinneswahmehmung
entsprungenen Ideen sind ihm inadäquat, verworren und
verstümmelt. Es ist leicht einzusehen, daß auch in
dieser Vorstellungswelt die einseitig platonische
Auffassungsweise von dem Gegensatz der Wahrnehmungen und der
Ideen nachwirkt. Die Gedanken, die unabhängig von
der Wahrnehmung gebildet werden, sind allein das Wertvolle
für die Erkenntnis. Spinoza geht noch weiter. Er dehnt den
Gegensatz auch auf das sittliche Empfinden und Handeln der
Menschen aus. Unlustempfindungen können nur aus Ideen
entspringen, die von der Wahrnehmung stammen; solche Ideen
erzeugen die Begierden und Leidenschaften im Menschen, deren
Sklave er werden kann, wenn er sich ihnen hingibt. Nur was aus
der Vernunft entspringt, erzeugt unbedingte Lustempfindungen.
Das höchste Glück des Menschen ist daher sein Leben
in den Vernunftideen, die Hingabe an die Erkenntnis der reinen
Ideenwelt. Wer überwunden hat, was aus der
Wahrnehmungswelt stammt, und nur noch in der reinen Erkenntnis
lebt, empfindet die höchste Seligkeit.
Nicht ganz ein Jahrhundert nach Spinoza tritt der Schotte David
Hume mit einer Denkweise auf, die wieder aus der Wahrnehmung
allein die Erkenntnis entspringen läßt. Nur einzelne
Dinge in Raum und Zeit sind gegeben. Das Denken verknüpft
die einzelnen Wahrnehmungen, aber nicht, weil in diesen selbst
etwas liegt, was dieser Verknüpfung entspricht, sondern
weil sich der Verstand daran gewöhnt hat, die Dinge
in einen Zusammenhang zu bringen. Der Mensch ist gewohnt, zu
sehen, daß ein Ding auf ein anderes der Zeit nach folgt.
Er bildet sich die Vorstellung, daß es folgen müsse.
Er macht das erste zur Ursache, das zweite zur Wirkung. Der
Mensch ist ferner gewohnt zu sehen, daß auf einen Gedanken
seines Geistes eine Bewegung seines Leibes folgt. Er
erklärt sich dies dadurch, daß er sagt, der Geist
habe die Leibesbewegung bewirkt. Denkgewohnheiten, nichts
weiter sind die menschlichen Ideen. Wirklichkeit haben nur die
Wahrnehmungen.
*
Die
Vereinigung der verschiedensten durch die Jahrhunderte hindurch
zum Dasein gelangten Denkrichtungen ist die Kantsche
Weltanschauung. Auch Kant fehlt die natürliche Empfindung
für das Verhältnis von Wahrnehmung und Idee. Er lebt
in philosophischen Vorurteilen, die er durch Studium seiner
Vorgänger in sich aufgenommen hat. Das eine dieser
Vorurteile ist, daß es notwendige Wahrheiten gebe, die
durch reines, von aller Erfahrung freies Denken erzeugt werden.
Der Beweis davon ist, nach seiner Ansicht, durch die Existenz
der Mathematik und der reinen Physik erbracht, die solche
Wahrheiten enthalten. Ein anderes seiner Vorurteile besteht
darin, daß er der Erfahrung die Fähigkeit abspricht,
zu gleich notwendigen Wahrheiten zu gelangen. Das
Mißtrauen gegenüber der Wahrnehmungswelt ist auch in
Kant vorhanden. Zu diesen seinen Denkgewohnheiten tritt bei
Kant der Einfluß Humes hinzu. Er gibt Hume recht in Bezug
auf die Behauptung, daß die Ideen, in die das Denken die
einzelnen Wahrnehmungen zusammenfaßt, nicht aus der
Erfahrung stammen. Sondern daß das Denken sie zur
Erfahrung hinzufügt. Diese drei Vorurteile sind die
Wurzeln des Kantschen Gedankengebäudes. Der Mensch besitzt
notwendige Wahrheiten. Sie können nicht aus der Erfahrung
stammen, weil diese keine solchen darbietet. Dennoch wendet sie
der Mensch auf die Erfahrung an. Er verknüpft die
einzelnen Wahrnehmungen diesen Wahrheiten gemäß. Sie
stammen aus dem Menschen selbst. Es liegt in seiner Natur,
daß er die Dinge in einen solchen Zusammenhang bringt, der
den durch reines Denken gewonnenen Wahrheiten entspricht. Kant
geht nun noch weiter. Er spricht auch den Sinnen die
Fähigkeit zu, das was ihnen von außen gegeben wird,
in eine bestimmte Ordnung zu bringen. Auch diese Ordnung
fließt nicht mit den Eindrücken der Dinge von
außen ein. Die räumliche und die zeitliche Ordnung
erhalten die Eindrücke erst durch die sinnliche
Wahrnehmung. Raum und Zeit gehören nicht den Dingen an.
Der Mensch ist so organisiert, daß er, wenn die Dinge auf
seine Sinne Eindrücke machen, diese in räumliche oder
zeitliche Zusammenhänge bringt. Nur Eindrücke,
Empfindungen erhält der Mensch von außen. Die
Anordnung derselben im Raum und in der Zeit, ihre
Zusammenfassung zu Ideen ist sein eigenes Werk. Aber auch die
Empfindungen sind nichts, was aus den Dingen stammt. Nicht die
Dinge nimmt der Mensch wahr, sondern nur die Eindrücke,
die sie auf ihn ausüben. Ich weiß nichts von einem
Dinge, wenn ich eine Empfindung habe. Ich kann nur sagen: ich
bemerke das Auftreten einer Empfindung bei mir. Durch welche
Eigenschaften das Ding befähigt ist, in mir die
Empfindungen hervorzurufen, darüber kann ich nichts
erfahren. Der Mensch hat es, nach Kants Meinung, nicht mit den
Dingen an sich zu tun, sondern nur mit den Eindrücken, die
sie auf ihn machen und mit den Zusammenhängen, in die er
selbst diese Eindrücke bringt. Nicht objektiv von
außen aufgenommen, sondern nur auf äußere
Veranlassung hin, subjektiv von innen erzeugt, ist die
Erfahrungswelt. Das Gepräge, das sie trägt, geben ihr
nicht die Dinge, sondern die menschliche Organisation. Sie ist
folglich als solche unabhängig von dem Menschen gar nicht
vorhanden. Von diesem Standpunkte aus ist die Annahme
notwendiger, von der Erfahrung unabhängiger Wahrheiten
möglich. Denn diese Wahrheiten beziehen sich bloß auf
die Art, wie der Mensch von sich selbst aus seine
Erfahrungswelt bestimmt. Sie enthalten die Gesetze seiner
Organisation. Sie haben keinen Bezug auf die Dinge an sich
selbst. Kant hat also einen Ausweg gefunden, der es ihm
gestattet, bei seinem Vorurteile stehen zu bleiben, daß es
notwendige Wahrheiten gebe, die für den Inhalt der
Erfahrungswelt gelten, ohne doch daraus zu stammen. Allerdings
mußte er, um diesen Ausweg zu finden, sich zu der Ansicht
entschließen, daß der menschliche Geist unfähig
sei, irgend etwas über die Dinge an sich zu wissen. Er
mußte alles Erkennen auf die Erscheinungswelt
einschränken, welche die menschliche Organisation aus sich
herausspinnt infolge der von den Dingen verursachten
Eindrücke. Aber was kümmerte Kant das Wesen der Dinge
an sich, wenn er nur die ewigen, notwendig-gültigen
Wahrheiten in dem Sinne retten konnte, wie er sich dieselben
vorstellte. Der einseitige Platonismus hat in Kant eine die
Erkenntnis lähmende Frucht hervorgebracht. Plato hat sich
von der Wahrnehmung abgewendet und den Blick auf die ewigen
Ideen gerichtet, weil ihm jene das Wesen der Dinge nicht
auszusprechen schien. Kant aber verzichtet darauf, daß die
Ideen eine wirkliche Einsicht in das Wesen der Welt
eröffnen, wenn ihnen nur die Eigenschaft des Ewigen und
Notwendigen verbleibt. Plato hält sich an die Ideenwelt,
weil er glaubt, daß das wahre Wesen der Welt ewig,
unzerstörbar, unwandelbar sein muß, und er diese
Eigenschaften nur den Ideen zusprechen kann. Kant ist
zufrieden, wenn er nur diese Eigenschaften von den Ideen
behaupten kann. Sie brauchen dann gar nicht mehr das Wesen der
Welt auszusprechen.
*
Die
philosophische Vorstellungsart Kants wurde noch besonders
genährt von seiner religiösen Empfindungsrichtung. Er
ging nicht davon aus, in der menschlichen Wesenheit den
lebendigen Zusammenklang von Ideenwelt und Sinneswahmehmung zu
schauen, sondern er legte sich die Frage vor: Kann von dem
Menschen durch das Erleben der Ideenwelt etwas erkannt werden,
das niemals in den Bereich der Sinneswahrung eintreten kann?
Wer im Sinne der Goetheschen Weltanschauung denkt, der sucht
den Wirklichkeitscharakter der Ideenwelt dadurch zu erkennen,
daß er das Wesen der Idee erfaßt, indem ihm klar
wird, wie diese in der sinnlichen Scheinwelt Wirklichkeit
anschauen läßt. Dann darf er sich fragen: In wie weit
kann ich durch den so erlebten Wirklichkeitscharakter der
Ideenwelt in die Gebiete dringen, in denen die
übersinnlichen Wahrheiten der Freiheit, der
Unsterblichkeit, der göttlichen Weltordnung ihr
Verhältnis zur menschlichen Erkenntnis finden? Kant
verneinte die Möglichkeit, über die Wirklichkeit der
Ideenwelt aus deren Verhältnis zur Sinneswahmehmung etwas
wissen zu können. Aus dieser Voraussetzung heraus ergab
sich für ihn als wissenschaftliches Ergebnis dasjenige,
was, ihm unbewußt, von seiner religiösen
Empfindungsrichtung gefordert wurde: daß das
wissenschaftliche Erkennen Halt machen müsse vor solchen
Fragen, welche die Freiheit, die Unsterblichkeit, die
göttliche Weltordnung betreffen. Ihm ergab sich, daß
das menschliche Erkennen nur bis an die Grenzen gehen
könne, die den Sinnesbereich umschließen, und
daß für alles, was darüber hinausliegt, nur ein
Glaube möglich sei. Er wollte das Wissen eingrenzen, um
für den Glauben Platz zu erhalten. Im Sinne der
Goetheschen Weltanschauung liegt es, das Wissen erst dadurch
mit einer festen Grundlage zu versehen, daß die Ideenwelt
in ihrem Wesen an der Natur geschaut wird, um dann in der
befestigten Ideenwelt zu einer über die Sinnenwelt
hinausliegenden Erfahrung zu schreiten. Auch dann, wenn Gebiete
erkannt werden, die nicht im Bereich der Sinneswelt liegen,
wird der Blick auf den lebendigen Zusammenklang von Idee und
Erfahrung gelenkt und dadurch die Sicherheit des Erkennens
gesucht. Kant konnte eine solche Sicherheit nicht finden.
Deshalb ging er darauf aus, für die Vorstellungen von
Freiheit, Unsterblichkeit und Gottesordnung außerhalb des
Erkennens eine Grundlage zu finden. Im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung liegt es, von «Dingen an sich» so viel
erkennen zu wollen, als das an der Natur erfaßte Wesen der
Ideenwelt gestattet. Im Sinne der Kantschen Weltanschauung
liegt es, der Erkenntnis das Recht abzusprechen, in die Welt
der «Dinge an sich» hineinzuleuchten. Goethe will in
der Erkenntnis ein Licht anzünden, welches das Wesen der
Dinge beleuchtet. Ihm ist auch klar, daß im Licht nicht
das Wesen der beleuchteten Dinge liegt; aber er will trotzdem
nicht darauf verzichten, dieses Wesen durch die Beleuchtung mit
dem Lichte offenbar werden zu lassen. Kant hält daran
fest: in dem Lichte liegt nicht das Wesen der beleuchteten
Dinge; deshalb kann das Licht nichts offenbaren über
dieses Wesen.
Vor
der Goetheschen Weltanschauung kann diejenige Kants nur im
Sinne der folgenden Vorstellungen stehen: Nicht durch
Hinwegräumung alter Irrtümer, nicht durch eine freie,
ursprüngliche Vertiefung in die Wirklichkeit ist diese
Weltanschauung entstanden, sondern durch logische Verschmelzung
anerzogener und ererbter philosophischer und religiöser
Vorurteile. Sie konnte nur aus einem Geiste entspringen, in dem
der Sinn für das lebendige Schaffen innerhalb der Natur
unentwickelt geblieben ist. Und sie konnte nur auf solche
Geister wirken, die an dem gleichen Mangel litten. Aus dem
weitgehenden Einflusse, den Kants Denkweise auf seine
Zeitgenossen ausübte, ist zu ersehen, wie stark diese in
dem Banne des einseitigen Platonismus standen.
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