Goethe
und die platonische Weltsicht
Ich
habe die Gedankenentwickelung von Platos bis zu Kants Zeit
geschildert, um zeigen zu können, welche Eindrücke
Goethe empfangen mußte, wenn er sich an den Niederschlag
der philosophischen Gedanken wandte, an die er sich halten
konnte, um sein so starkes Erkenntnisbedürfnis zu
befriedigen. Auf die unzähligen Fragen, zu denen ihn seine
Natur drängte, fand er in den Philosophien keine
Antworten. Ja, es zeigte sich, so oft er sich in die
Weltanschauung eines Philosophen vertiefte, ein Gegensatz
zwischen der Richtung, die seine Fragen einschlugen und der
Gedankenwelt, bei der er sich Rat holen wollte. Der Grund liegt
darin, daß die einseitig platonische Trennung von Idee und
Erfahrung seiner Natur zuwider war. Wenn er die Natur
beobachtete, so brachte sie ihm die Ideen entgegen. Er konnte
sie deshalb nur ideenerfüllt denken. Eine Ideenwelt,
welche die Dinge der Natur nicht durchdringt, ihr Entstehen und
Vergehen, ihr Werden und Wachsen nicht hervorbringt, ist ihm
ein kraftloses Gedankengespinst. Das logische Fortspinnen von
Gedankenreihen, ohne Versenkung in das wirkliche Leben und
Schaffen der Natur erscheint ihm unfruchtbar. Denn er
fühlt sich mit der Natur innig verwachsen. Er betrachtet
sich als ein lebendiges Glied der Natur. Was in seinem Geiste
entsteht, das hat, nach seiner Ansicht, die Natur in ihm
entstehen lassen. Der Mensch soll sich nicht in eine Ecke
stellen und glauben, daß er da aus sich heraus ein
Gedankengewebe spinnen könne, das über das Wesen der
Dinge aufklärt. Er soll den Strom des Weltgeschehens
beständig durch sich durchfließen lassen. Dann wird
er fühlen, daß die Ideenwelt nichts anderes ist, als
die schaffende und tätige Gewalt der Natur. Er wird nicht
über den Dingen stehen wollen, um über sie
nachzudenken, sondern er wird sich in ihre Tiefen eingraben und
aus ihnen herausholen, was in ihnen lebt und wirkt.
Zu
solcher Denkweise führte Goethe seine Künstlernatur.
Mit derselben Notwendigkeit, mit der eine Blume blüht,
fühlte er seine dichterischen Erzeugnisse aus seiner
Persönlichkeit herauswachsen. Die Art, wie der Geist in
ihm das Kunstwerk hervorbrachte, schien ihm nicht verschieden
von der zu sein, wie die Natur ihre Geschöpfe erzeugt. Und
wie im Kunstwerke das geistige Element von der geistlosen
Materie nicht zu trennen ist, so war es ihm auch
unmöglich, bei einem Dinge der Natur die Wahrnehmung ohne
die Idee vorzustellen. Fremd blickte ihn daher eine Anschauung
an, die in der Wahrnehmung nur etwas Unklares, Verworrenes sah
und die Ideenwelt abgesondert, gereinigt von aller Erfahrung
betrachten wollte. Er fühlte in jeder Weltanschauung, in
der die Elemente des einseitig verstandenen Platonismus lebten,
etwas Naturwidriges. Deshalb konnte er bei den Philosophen
nicht finden, was er bei ihnen suchte. Er suchte die Ideen, die
in den Dingen leben, und die alle Einzelheiten der Erfahrung
als hervorwachsend aus einem lebendigen Ganzen erscheinen
lassen, und die Philosophen lieferten ihm Gedankenhülsen,
die sie nach logischen Grundsätzen zu Systemen verbunden
hatten. Immer wieder fand er sich auf sich selbst
zurückgewiesen, wenn er bei andern Aufklärung suchte
über die Rätsel, die ihm die Natur aufgab. Es
gehört zu den Dingen, an denen Goethe vor seiner
italienischen Reise gelitten hat, daß sein
Erkenntnisbedürfnis keine Befriedigung finden konnte. In
Italien konnte er sich eine Ansicht bilden über die
Triebkräfte, aus denen die Kunstwerke hervorgehen. Er
erkannte, daß in den vollendeten Kunstwerken das enthalten
ist, was die Menschen als Göttliches, als Ewiges verehren.
Nach dem Anblicke von künstlerischen Schöpfungen, die
ihn besonders interessieren, schreibt er die Worte nieder:
«Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten
Naturwerke von Menschen nach wahren und
natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles
Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist
Notwendigkeit, da ist Gott.» Die Kunst der Griechen
entlockt ihm den Ausspruch: «Ich habe die Vermutung,
daß sie (die Griechen) nach eben den Gesetzen verfuhren,
nach welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf
der Spur bin.» Was Plato in der Ideenwelt zu finden
glaubte, was die Philosophen Goethe nie nahe bringen konnten,
das blickt ihm aus den Kunstwerken Italiens entgegen. In der
Kunst offenbart sich für Goethe zuerst das in vollkommener
Gestalt, was er als die Grundlage der Erkenntnis ansehen kann.
Er erblickt in der künstlerischen Produktion eine Art und
höhere Stufe des Naturwirkens; künstlerisches
Schaffen ist ihm gesteigertes Naturschaffen. Er hat das in
seiner Charakteristik Winckelmanns später ausgesprochen:
«... indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt
ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in
sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert
er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden
durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft
und sich endlich zur Produktion des Kunstwerkes
erhebt...». Nicht auf dem Wege logischer
Schlußfolgerung, sondern durch Betrachtung des Wesens der
Kunst gelangt Goethe zu seiner Weltanschauung. Und was er in
der Kunst gefunden hat, das sucht er auch in der Natur.
Die
Tätigkeit, durch die sich Goethe in den Besitz einer
Naturerkenntnis setzt, ist nicht wesentlich von der
künstlerischen verschieden. Beide gehen ineinander
über und greifen übereinander. Der Künstler
muß, nach Goethes Ansicht, größer und
entschiedener werden, wenn er zu seinem «Talente noch ein
unterrichteter Botaniker ist, wenn er, von der Wurzel an, den
Einließ der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und das
Wachstum der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitige
Wirkung erkennt, wenn er die sukzessive Entwicklung der Blumen,
Blätter, Befruchtung, Frucht und des neuen Keimes einsieht
und überdenkt. Er wird alsdann nicht bloß durch die
Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern er
wird uns auch durch eine richtige Darstellung der Eigenschaften
zugleich in Verwunderung setzen und belehren.» Das
Kunstwerk ist demnach um so vollkommener, je mehr in ihm
dieselbe Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck kommt, die in
dem Naturwerke enthalten ist, dem es entspricht. Es gibt nur
ein einheitliches Reich der Wahrheit, und dieses umfaßt
Kunst und Natur. Daher kann auch die Fähigkeit des
künstlerischen Schaffens von der des Naturerkennens nicht
wesentlich verschieden sein. Vom Stil des Künstlers sagt
Goethe, daß er «auf den tiefsten Grundfesten der
Erkenntnis ruhe, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns
erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu
erkennen.» Die aus einseitig erfaßten platonischen
Vorstellungen hervorgegangene Weltbetrachtung zieht eine
scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Kunst. Die
künstlerische Tätigkeit läßt sie auf der
Phantasie, auf dem Gefühle beruhen; die wissenschaftlichen
Ergebnisse sollen das Resultat einer Phantastereien
Begriffsentwicklung sein. Goethe stellt sich die Sache anders
vor. Für ihn ergibt sich, wenn er das Auge auf die Natur
richtet, eine Summe von Ideen; aber er findet, daß in dem
einzelnen Erfahrungsgegenstande der ideelle Bestandteil nicht
abgeschlossen ist; die Idee weist über das einzelne hinaus
auf verwandte Gegenstände, in denen sie auf ähnliche
Weise zur Erscheinung kommt. Der philosophierende Beobachter
hält diesen ideellen Bestandteil fest und bringt ihn in
seinen Gedankenwerken unmittelbar zum Ausdrucke. Auch auf den
Künstler wirkt dieses Ideelle. Aber es treibt ihn ein Werk
zu gestalten, in dem die Idee nicht bloß wie in einem
Naturwerke wirkt, sondern zur gegenwärtigen Erscheinung
wird. Was in dem Naturwerke bloß ideell ist und sich
dem geistigen Auge des Beobachters enthüllt, das wird in
dem Kunstwerke real, wird wahrnehmbare Wirklichkeit. Der
Künstler verwirklicht die Ideen der Natur. Er braucht sich
aber diese nicht in Form der Ideen zum Bewußtsein zu
bringen. Wenn er ein Ding oder ein Ereignis betrachtet, so
gestaltet sich in seinem Geiste unmittelbar ein anderes, das in
realer Erscheinung enthält, was jene nur als Idee. Der
Künstler liefert Bilder der Naturwerke, welche deren
Ideengehalt in einen Wahrnehmungsgehalt umsetzen. Der Philosoph
zeigt, wie sich die Natur der denkenden Betrachtung darstellt;
der Künstler zeigt, wie die Natur aussehen würde,
wenn sie ihre wirkenden Kräfte nicht bloß dem Denken,
sondern auch der Wahrnehmung offen entgegenbrächte. Es ist
eine und dieselbe Wahrheit, die der Philosoph in Form des
Gedankens, der Künstler in Form des Bildes darstellt.
Beide unterscheiden sich nur durch ihre Ausdrucksmittel. Die
Einsicht in das wahre Verhältnis von Idee und Erfahrung,
die sich Goethe in Italien angeeignet hat, ist nur die Frucht
aus dem Samen, der in seiner Naturanlage verborgen war. Die
italienische Reise brachte ihm jene Sonnenwärme, die
geeignet war, den Samen zur Reife zu bringen. In dem Aufsatz
«Die Natur», der 1782 im Tiefurter Journal erschienen
ist, und der Goethe zum Urheber hat (vgl. meinen Nachweis von
Goethes Urheberschaft im VII. Bande der Schriften der
Goethe-Gesellschaft), finden sich schon die Keime der
späteren Goetheschen Weltanschauung. Was hier dunkle
Empfindung ist, wird später klarer deutlicher Gedanke.
«Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen -
unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend,
tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie
uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns
fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen...
Gedacht hat sie (die Natur) und sinnt
beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur...
Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und
Herzen, durch die sie fühlt und spricht... Ich sprach
nicht von ihr. Nein, was wahr ist und falsch ist, alles hat sie
gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst!
-» Als Goethe diese Sätze niederschrieb, war ihm noch
nicht klar, wie die Natur durch den Menschen ihre ideelle
Wesenheit ausspricht; daß es aber die Stimme des Geistes
der Natur ist, die im Geiste des Menschen ertönt, das
fühlte er.
In
Italien fand Goethe die geistige Atmosphäre, in der sich
seine Erkenntnisorgane ausbilden konnten, wie sie es ihren
Anlagen gemäß mußten, wenn er zur vollen
Befriedigung kommen sollte. In Rom hat er «über Kunst
und ihre theoretischen Forderungen mit Moritz viel
verhandelt »; auf der Reise hat sich in ihm bei
Beobachtung der Pflanzenmetamorphose eine naturgemäße
Methode ausgebildet, die sich später für die
Erkenntnis der ganzen organischen Natur fruchtbar erwiesen hat.
«Denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr
Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern
mußte, indem ich sie gewähren ließ, die Wege und
Mittel anerkennen, wie sie den eingehülltesten Zustand zur
Vollendung nach und nach zu befördern weiß.»
Wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien gelang es
ihm, auch für die Betrachtung der unorganischen Natur ein
aus seinen geistigen Bedürfnissen geborenes Verfahren zu
finden. «Bei physischen Untersuchungen drängte sich
mir die Überzeugung auf, daß, bei aller Betrachtung
der Gegenstände, die höchste Pflicht sei, jede
Bedingung, unter welcher ein Phänomen erscheint, genau
aufzusuchen und nach möglichster Vollständigkeit der
Phänomene zu trachten: weil sie doch zuletzt sich
aneinanderzureihen, oder vielmehr übereinanderzugreifen
genötigt werden, und vor dem Anschauen des Forschers auch
eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben
manifestieren müssen.»
Goethe fand nirgends Aufklärung. Er mußte sich selbst
aufklären. Er suchte den Grund dafür und glaubte ihn
darin zu finden, daß er für Philosophie im
eigentlichen Sinne kein Organ hätte. Er ist aber darin zu
suchen, daß die einseitig erfaßte platonische
Denkweise, die alle ihm zugänglichen Philosophien
beherrschte, seiner gesunden Naturanlage widersprach. In seiner
Jugend hatte er sich wiederholt an Spinoza gewandt. Er gesteht
sogar, daß dieser Philosoph auf ihn immer eine
«friedliche Wirkung» hervorgebracht habe. Diese
beruht darauf, daß Spinoza das Weltall als eine große
Einheit ansieht, und alles Einzelne mit Notwendigkeit aus dem
Ganzen hervorgehend sich denkt. Wenn sich Goethe aber auf den
Inhalt der Spinozistischen Philosophie einließ, so
fühlte er doch, daß dieser ihm fremd blieb.
«Denke man aber nicht, daß ich seine Schriften
hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich
bekennen mögen. Denn, daß niemand den andern
versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe, was
der andere, denkt, daß ein Gespräch, eine
Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene
Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich
eingesehen, und man wird dem Verfasser von Werther und
Faust wohl zutrauen, daß er, von solchen
Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den
Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der als
Schüler von Descartes, durch mathematische und rabbinische
Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben; der bis
auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen
Bemühungen zu sein scheint.» Nicht der Umstand,
daß Spinoza durch Descartes geschult worden ist, auch
nicht der, daß er durch mathematische und rabbinische
Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens erhoben hat, machte ihn
für Goethe zu einem Element, an das er sich doch nicht
ganz hingeben konnte, sondern seine wirklichkeitsfremde, rein
logische Art, die Erkenntnis zu behandeln. Goethe konnte sich
dem reinen erfahrungsfreien Denken nicht hingeben, weil er es
nicht zu trennen vermochte von der Gesamtheit des Wirklichen.
Er wollte nicht einen Gedanken bloß logisch an den andern
angliedern. Vielmehr erschien ihm eine solche
Gedankentätigkeit von der wahren Wirklichkeit abzulenken.
Er mußte den Geist in die Erfahrung versenken, um zu den
Ideen zu kommen. Die Wechselwirkung von Idee und Wahrnehmung
war ihm ein geistiges Atemholen. «Durch die
Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselbewegung von
Idee und Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt
regiert.» Im Sinne dieses Satzes die Welt und ihre
Erscheinungen zu betrachten, schien Goethe
naturgemäß. Denn für ihn gab es keinen Zweifel
darüber, daß die Natur dasselbe Verfahren beobachtet:
daß sie « eine Entwicklung aus einem lebendigen
geheimnisvollen Ganzen» zu den mannigfaltigen besonderen
Erscheinungen hin ist, die den Raum und die Zeit erfüllen.
Das geheimnisvolle Ganze ist die Welt der Idee. «Die Idee
ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist
nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir
reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe
sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein
Begriff.» Das Schaffen der Natur geht aus dem Ganzen, das
ideeller Art ist, ins Einzelne, das als Reelles der Wahrnehmung
gegeben ist. Deshalb soll der Beobachter: «das Ideelle im
Reellen anerkennen und sein jeweiliges Mißbehagen mit dem
Endlichen durch Erhebung ins Unendliche beschwichtigen».
Goethe ist überzeugt davon, daß «die Natur nach
Ideen verfahre, ingleichen, daß der Mensch in allem, was
er beginnt, eine Idee verfolge». Wenn es dem Menschen
wirklich gelingt, sich zu der Idee zu erheben, und von der Idee
aus die Einzelheiten der Wahrnehmung zu begreifen, so
vollbringt er dasselbe, was die Natur vollbringt, indem sie
ihre Geschöpfe aus dem geheimnisvollen Ganzen hervorgehen
läßt. Solange der Mensch das Wirken und Schaffen der
Idee nicht fühlt, bleibt sein Denken von der lebendigen
Natur abgesondert. Er muß das Denken als eine bloß
subjektive Tätigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild von
der Natur entwerfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die
Idee in seinem Innern lebt und tätig ist, betrachtet er
sich und die Natur als ein Ganzes, und was als
Subjektives in seinem Innern erscheint, das gilt ihm zugleich
als objektiv; er weiß, daß er der Natur nicht mehr
als Fremder gegenübersteht, sondern er fühlt sich
verwachsen mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist
objektiv geworden; das Objektive von dem Geiste ganz
durchdrungen. Goethe ist der Meinung, der Grundirrtum Kants
bestehe darin, daß dieser «das subjektive
Erkenntnisvermögen nun selbst als Objekt betrachtet und
den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar
scharf aber nicht ganz richtig sondert.» (Sophien-Ausgabe,
2. Abteilung, Bd. XI, S.376.) Das Erkenntnisvermögen
erscheint dem Menschen nur so lange als subjektiv, als er nicht
beachtet, daß die Natur selbst es ist, die durch dasselbe
spricht. Subjektiv und objektiv treffen zusammen, wenn die
objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt, und in dem Geiste des
Menschen dasjenige lebt, was in der Natur selbst tätig
ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller Gegensatz von
subjektiv und objektiv auf. Dieser Gegensatz hat nur eine
Bedeutung, solange der Mensch ihn künstlich aufrecht
erhält, solange er die Ideen als seine Gedanken
betrachtet, durch die das Wesen der Natur abgebildet wird, in
denen es aber nicht selbst wirksam ist. Kant und die Kantianer
hatten keine Ahnung davon, daß in den Ideen der Vernunft
das Wesen, das Ansich der Dinge unmittelbar erlebt wird.
Für sie ist alles Ideelle ein bloß Subjektives.
Deshalb kamen sie zu der Meinung, das Ideelle könne nur
dann notwendig gültig sein, wenn auch dasjenige, auf das
es sich bezieht, die Erfahrungswelt, nur subjektiv ist. Mit
Goethes Anschauungen steht die Kantsche Denkweise in einem
scharfen Gegensatz. Es gibt zwar einzelne Äußerungen
Goethes, in denen er von Kants Ansichten in einer anerkennenden
Art spricht. Er erzählt, daß er manchem Gespräch
über diese Ansichten beigewohnt habe. «Mit einiger
Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte
Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die
Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich
hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner
Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es
mit unbewußter Naivität und glaubte wirklich, ich
sähe meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit
zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf diejenige Seite
stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab
allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaupteten:
wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so
entspringe sie darum doch nicht eben alle aus der
Erfahrung.» Die Idee stammt auch, nach Goethes Ansicht,
nicht aus dem Teile der Erfahrung, welcher der bloßen
Wahrnehmung durch die Sinne des Menschen sich darbietet. Die
Vernunft, die Phantasie müssen sich betätigen,
müssen in das Innere der Wesen dringen, um sich der
ideellen Elemente des Daseins zu bemächtigen. Insofern hat
der Geist des Menschen Anteil an dem Zustandekommen der
Erkenntnis. Goethe meint, es mache dem Menschen Ehre, daß
in seinem Geiste die höhere Wirklichkeit, die den Sinnen
nicht zugänglich ist, zur Erscheinung komme; Kant dagegen
spricht der Erfahrungswelt den Charakter der höheren
Wirklichkeit ab, weil sie Bestandteile enthält, die aus
dem Geiste stammen. Nur wenn er die Kantschen Sätze erst
im Sinne seiner Weltanschauung umdeutete, konnte Goethe sich
zustimmend zu ihnen verhalten. Die Grundlagen der Kantschen
Denkweise widersprechen Goethes Wesen aufs schärfste. Wenn
dieser den Widerspruch nicht scharf genug betonte, so liegt das
wohl nur darin, daß er sich auf diese Grundlagen nicht
einließ, weil sie ihm zu fremd waren. «Der Eingang
(der Kritik der reinen Vernunft) war es, der mir gefiel, ins
Labyrinth selbst konnte ich mich nicht wagen: bald hinderte
mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich
fühlte mich nirgends gebessert.» Über seine
Gespräche mit den Kantianern mußte sich Goethe
eingestehen: «Sie hörten mich wohl, konnten mir aber
nichts erwidern, noch irgend förderlich sein. Mehr als
einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit
lächelnder Verwunderung zugestand: es sei freilich ein
Analogon Kantscher Vorstellungsart, aber ein seltsames.»
Es war, wie ich gezeigt, auch kein Analogon, sondern das
entschiedenste Gegenteil der Kantschen Vorstellungsart.
Es
ist interessant zu sehen, wie Schiller sich über
den Gegensatz der Goetheschen Denkweise und seiner eigenen
aufzuklären sucht. Er empfindet das Ursprüngliche und
Freie der Goetheschen Weltanschauung. Aber er kann die
einseitig erfaßten platonischen Gedankenelemente aus
seinem eigenen Geiste nicht entfernen. Er kann sich nicht zu
der Einsicht erheben, daß Idee und Wahrnehmung in der
Wirklichkeit nicht getrennt vorhanden sind, sondern nur
künstlich von dem durch falsch gelenkte Ideenrichtung
verführten Verstand getrennt gedacht werden.
Deshalb stellt er der Goetheschen Geistesart, die er als eine
intuitive bezeichnet, die eigene als spekulative gegenüber
und behauptet, daß beide, wenn sie nur kraftvoll genug
wirken, zu einem gleichen Ziele führen müssen. Von
dem intuitiven Geiste nimmt Schiller an, daß er sich an
das Empirische, Individuelle halte und von da aus zu dem
Gesetze, zu der Idee aufsteige. Falls ein solcher Geist
genialisch ist, wird er in dem Empirischen das Notwendige, in
dem Individuellen die Gattung erkennen. Der spekulative Geist
dagegen soll den umgekehrten Weg machen. Ihm soll zuerst das
Gesetz, die Idee gegeben sein, und von ihr soll er zum
Empirischen und Individuellen herabsteigen. Ist ein solcher
Geist genialisch, so wird er zwar immer nur Gattungen im Auge
haben, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit
gegründeter Beziehung auf wirkliche Objekte. Die Annahme
einer besonderen Geistesart, der spekulativen gegenüber
der intuitiven, beruht auf dem Glauben, daß der Ideenwelt
ein abgesondertes ,von der Wahrnehmungswelt getrenntes Dasein
zukomme. Wäre dies der Fall, dann könnte es einen Weg
geben, auf dem der Inhalt der Ideen über die Dinge der
Wahrnehmung in den Geist käme, auch wenn ihn dieser nicht
in der Erfahrung aufsuchte. Ist aber die Ideenwelt mit der
Erfahrungswirklichkeit untrennbar verbunden, sind beide nur als
ein Ganzes vorhanden, so kann es nur eine intuitive
Erkenntnis, die in der Erfahrung die Idee aufsucht und mit dem
Individuellen zugleich die Gattung erfaßt, geben. In
Wahrheit gibt es auch keinen rein spekulativen Geist im Sinne
Schillers. Denn die Gattungen existieren nur innerhalb der
Sphäre, der auch die Individuen angehören; und der
Geist kann sie anderswo gar nicht finden. Hat ein sogenannter
spekulativer Geist wirklich Gattungsideen, so stammen diese aus
der Beobachtung der wirklichen Welt. Wenn das lebendige
Gefühl für diesen Ursprung, für den notwendigen
Zusammenhang des Gattungsmäßigen mit dem
Individuellen verloren geht, dann entsteht die Meinung, solche
Ideen können in der Vernunft auch ohne Erfahrung
entstehen. Die Bekenner dieser Meinung bezeichnen eine Summe
von abstrakten Gattungsideen als Inhalt der reinen Vernunft,
weil sie die Fäden nicht sehen, mit denen diese Ideen an
die Erfahrung gebunden sind. Eine solche Täuschung ist am
leichtesten bei den allgemeinsten, umfassendsten Ideen
möglich. Da solche Ideen weite Gebiete der Wirklichkeit
umspannen, so ist in ihnen manches ausgetilgt oder
abgeblaßt, was den zu diesem Gebiete gehörigen
Individualitäten zukommt. Man kann eine Anzahl solcher
allgemeiner Ideen durch Überlieferung in sich aufnehmen
und dann glauben, sie seien dem Menschen angeboren, oder man
habe sie aus der reinen Vernunft herausgesponnen. Ein Geist,
der einem solchen Glauben verfällt, kann sich als
spekulativ ansehen. Er wird aus seiner Ideenwelt aber nie mehr
herausholen können, als diejenigen hineingelegt haben, von
denen er sie überliefert erhalten hat. Wenn Schiller
meint, daß der spekulative Geist, wenn er genialisch ist,
«zwar immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit
des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche
Objekte» erzeugt (vgl. Schillers Brief an Goethe vom 23.
August. 1794), so ist er im Irrtum. Ein wirklich spekulativer
Geist, der nur in Gattungsbegriffen lebte, könnte in
seiner Ideenwelt keine andere gegründete Beziehung zur
Wirklichkeit finden, als diejenige, die schon in ihr liegt. Ein
Geist, der Beziehungen zur Wirklichkeit der Natur hat und sich
dennoch als spekulativ bezeichnet, ist in einer Täuschung
über seine eigene Wesenheit befangen. Diese Täuschung
kann ihn dazu verführen, seine Beziehungen zur
Wirklichkeit, zum unmittelbaren Leben zu vernachlässigen.
Er wird glauben, der unmittelbaren Beobachtung entraten zu
können, weil er andere Quellen der Wahrheit zu haben
meint. Die Folge davon ist immer, daß die Ideenwelt eines
solchen Geistes einen matten abgeblaßten Charakter
trägt. Die frischen Farben des Lebens werden seinen
Gedanken fehlen. Wer im Bunde mit der Wirklichkeit leben will,
wird aus einer solchen Gedankenwelt nicht viel gewinnen
können. Nicht als eine Geistesart, die neben der
intuitiven als gleichberechtigt anzusehen ist, kann die
spekulative gelten, sondern als eine verkümmerte, an Leben
verarmte Denkart. Der intuitive Geist hat es nicht bloß
mit Individuen zu tun, er sucht nicht in dem Empirischen
den Charakter der Notwendigkeit auf. Sondern wenn er sich der
Natur zuwendet, vereinigen sich bei ihm Wahrnehmung und Idee
unmittelbar zu einer Einheit. Beide werden ineinander geschaut
und als Ganzheit empfunden. Er kann zu den allgemeinsten
Wahrheiten, zu den höchsten Abstraktionen aufsteigen: das
unmittelbar wirkliche Leben wird in seiner Gedankenwelt immer
zu erkennen sein. Solcher Art war Goethes Denken. Heinroth hat
in seiner Anthropologie ein treffliches Wort über dieses
Denken gesprochen, das Goethe im höchsten Grade gefiel,
weil es ihn über seine Natur aufklärte. «Herr
Dr. Heinroth ... spricht von meinem Wesen und Wirken
günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine
eigentümliche: daß nämlich mein
Denkvermögen gegenständlich tätig sei,
womit er aussprechen will, daß mein Denken sich von den
Gegenständen nicht sondere; daß die Elemente der
Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von
ihm auf das innigste durchdrungen werden; daß mein
Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen
sei.» Im Grunde schildert Heinroth nichts als die Art, wie
sich jedes gesunde Denken zu den Gegenständen
verhält. Jede andere Verfahrungsart ist eine Abirrung von
dem naturgemäßen Wege. Wenn in einem Menschen die
Anschauung überwiegt, dann bleibt er an dem Individuellen
hängen; er kann nicht in die tieferen Gründe der
Wirklichkeit eindringen; wenn das abstrakte Denken in ihm
überwiegt, dann erscheinen seine Begriffe unzureichend, um
die lebendige Fülle des Wirklichen zu verstehen. Das
Extrem der ersten Abirrung stellt den rohen Empiriker dar, der
mit den individuellen Tatsachen sich begnügt; das Extrem
der andern Abirrung ist in dem Philosophen gegeben, der die
reine Vernunft anbetet und der nur denkt, ohne ein Gefühl
davon zu haben, daß Gedanken ihrem Wesen nach an
Anschauung gebunden sind. In einem schönen Bilde schildert
Goethe das Gefühl des Denkers, der zu den höchsten
Wahrheiten aufsteigt, ohne die Empfindung für die
lebendige Erfahrung zu verlieren. Er schreibt im Anfang des
Jahres 1784 einen Aufsatz über den Granit. Er versetzt
sich auf einen aus diesem Gestein bestehenden Gipfel, wo er
sich sagen kann: «Hier ruhst du unmittelbar auf einem
Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine
neuere Schicht, keine aufgehäuften, zusammengeschwemmten
Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der
Urwelt gelegt, du gehst nicht wie in jenen fruchtbaren
Tälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben
nichts Lebendiges erzeugt und nichts Lebendiges verschlungen,
sie sind vor allem Leben und über alles Leben. In diesem
Augenblicke, da die innern anziehenden und bewegenden
Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar auf mich wirken, da
die Einflüsse des Himmels mich näher umschweben,
werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur
hinaufgestimmt, und wie der Menschengeist alles belebt, so wird
auch ein Gleichnis in mir rege, dessen Erhabenheit ich nicht
widerstehen kann. So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich
diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe und kaum in der Ferne am
Fuße ein gering wachsendes Moos erblickte, so einsam, sage
ich, wird es dem Menschen zumute, der nur den ältesten,
ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele
eröffnen will. Ja, er kann zu sich sagen: Hier, auf dem
ältesten, ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der
Schöpfung gebaut ist, bring ich dem Wesen aller Wesen ein
Opfer. Ich fühle die ersten, festesten Anfänge unsers
Daseins; ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und
gelinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine
Seele wird über sich selbst und über alles erhaben
und sehnt sich nach dem nähern Himmel. Aber bald ruft die
brennende Sonne Durst und Hunger, seine menschlichen
Bedürfnisse, zurück. Er sieht sich nach jenen
Tälern um, über die sich sein Geist schon
hinausschwang.» Solchen Enthusiasmus der Erkenntnis,
solche Empfindungen für die ältesten, festen
Wahrheiten kann nur derjenige in sich entwickeln, der immer und
immer wieder aus den Regionen der Ideenwelt den Weg
zurückfindet zu den unmittelbaren Anschauungen.
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