Persönlichkeit
und Weltanschauung
Die
Außenseite der Natur lernt der Mensch durch die Anschauung
kennen; ihre tiefer liegenden Triebkräfte enthüllen
sich in seinem eigenen Innern als subjektive Erlebnisse. In der
philosophischen Weltbetrachtung und im künstlerischen
Empfinden und Hervorbringen durchdringen die subjektiven
Erlebnisse die objektiven Anschauungen. Das wird wieder ein
Ganzes, Was sich in zwei Teile spalten mußte, um in den
menschlichen Geist einzudringen. Der Mensch befriedigt seine
höchsten geistigen Bedürfnisse, wenn er der objektiv
angeschauten Welt einverleibt, was sie in seinem Innern ihm als
ihre tieferen Geheimnisse offenbart. Erkenntnisse und
Kunsterzeugnisse sind nichts anderes, als von menschlichen
inneren Erlebnissen erfüllte Anschauungen. In dem
einfachsten Urteile über ein Ding oder Ereignis der
Außenwelt können ein menschliches Seelenerlebnis und
eine äußere Anschauung im innigen Bunde miteinander
gefunden werden. Wenn ich sage: ein Körper stößt
den andern, so habe ich bereits ein inneres Erlebnis auf die
Außenwelt übertragen. Ich sehe einen Körper in
Bewegung; er trifft auf einen andern; dieser kommt
infolgedessen auch in Bewegung. Mit diesen Worten ist der
Inhalt der Wahrnehmung erschöpft. Ich bin aber dabei nicht
beruhigt. Denn ich fühle: es ist in der ganzen Erscheinung
noch mehr vorhanden, als was die bloße Wahrnehmung
liefert. Ich greife nach einem inneren Erlebnis, das mich
über die Wahrnehmung aufklärt. Ich weiß,
daß ich selbst durch Anwendung von Kraft, durch
Stoßen, einen Körper in Bewegung versetzen kann.
Dieses Erlebnis übertrage ich auf die Erscheinung und
sage: der eine Körper stößt den andern.
«Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er
ist» (Goethe, Sprüche in Prosa. Kürschner Band
36,2, S. 353). Es gibt Menschen, die aus dem Vorhandensein
dieses subjektiven Bestandteiles in jedem Urteile über die
Außenwelt die Folgerung ziehen, daß der objektive
Wesenskern der Wirklichkeit dem Menschen unzugänglich sei.
Sie glauben, der Mensch verfälsche den unmittelbaren,
objektiven Tatbestand der Wirklichkeit, wenn er seine
subjektiven Erlebnisse in diese hineinlegt. Sie sagen: weil der
Mensch sich die Welt nur durch die Brille seines subjektiven
Lebens vorstellen kann, ist alle seine Erkenntnis nur eine
subjektive, beschränkt-menschliche. Wem es aber zum
Bewußtsein kommt, was im Innern des Menschen sich
offenbart, der wird nichts mit solchen unfruchtbaren
Behauptungen zu tun haben wollen. Er weiß, daß
Wahrheit eben dadurch zustande kommt, daß Wahrnehmung und
Idee sich im menschlichen Erkentnisprozeß durchdringen.
Ihm ist klar, daß in dem Subjektiven das eigentlichste und
tiefste Objektive lebt. «Wenn die gesunde Natur des
Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in
einem großen, schönen würdigen und werten Ganzen
fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies
Entzücken gewährt, dann würde das Weltall
wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel
gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und
Wesens bewundern.» (Kürschner, Band 27, S. 42.)
Die der bloßen Anschauung zugängliche Wirklichkeit
ist nur die eine Hälfte der ganzen Wirklichkeit; der
Inhalt des menschlichen Geistes ist die andere Hälfte.
Träte nie ein Mensch der Welt gegenüber, so käme
diese zweite Hälfte nie zur lebendigen Erscheinung, zum
vollen Dasein. Sie wirkte zwar als verborgene Kräftewelt;
aber es wäre ihr die Möglichkeit entzogen, sich in
einer eigenen Gestalt zu zeigen. Man möchte sagen, ohne
den Menschen würde die Welt ein unwahres Antlitz zeigen.
Sie wäre so, wie sie ist, durch ihre tieferen Kräfte,
aber diese tieferen Kräfte blieben selbst verhüllt
durch das, was sie wirken. Im Menschengeiste werden sie aus
ihrer Verzauberung erlöst. Der Mensch ist nicht bloß
dazu da, um sich von der fertigen Welt ein Bild zu machen;
nein, er wirkt selbst mit an dem Zustandekommen dieser
Welt.
Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei
verschiedenen Menschen. Für diejenigen, welche nicht an
die objektive Natur der Innenwelt glauben, ist das ein Grund
mehr, dem Menschen das Vermögen abzusprechen, in das Wesen
der Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen der Dinge sein, was
dem einen so, dem andern anders erscheint. Für denjenigen,
der die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt aus der
Verschiedenheit der Innenerlebnisse nur, daß die Natur
ihren reichen Inhalt auf verschiedene Weise aussprechen kann.
Dem einzelnen Menschen erscheint die Wahrheit in einem
individuellen Kleide. Sie paßt sich der Eigenart seiner
Persönlichkeit an. Besonders für die höchsten,
dem Menschen wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu
gewinnen, überträgt der Mensch seine geistigen,
intimsten Erlebnisse auf die angeschaute Welt und mit ihnen
zugleich das Eigenartigste seiner Persönlichkeit. Es gibt
auch allgemeingültige Wahrheiten, die jeder Mensch
aufnimmt, ohne ihnen eine individuelle Färbung zu geben.
Dies sind aber die oberflächlichsten, die trivialsten. Sie
entsprechen dem allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, der
bei allen der gleiche ist. Gewisse Eigenschaften, die in allen
Menschen gleich sind, erzeugen über die Dinge auch gleiche
Urteile. Die Art, wie die Menschen die Dinge nach Maß und
Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher finden alle die
gleichen mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber,
in denen sich die Einzelpersönlichkeit von dem allgemeinen
Gattungscharakter abhebt, liegt auch der Grund zu den
individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit. Nicht darauf kommt
es an, daß in dem einen Menschen die Wahrheit anders
erscheint als in dem andern, sondern darauf, daß alle zum
Vorschein kommenden individuellen Gestalten einem einzigen
Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen Welt. Die
Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene
Sprachen und Dialekte; in jedem großen Menschen spricht
sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen
Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine
Wahrheit, die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis
zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's
Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es
ist doch immer dieselbige.» Dies ist Goethes Meinung.
Nicht ein starres, totes Begriffssystem ist die Wahrheit, das
nur einer einzigen Gestalt fähig ist; sie ist ein
lebendiges Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und
das Wellen der verschiedensten Gestalt an seiner
Oberfläche zeigen kann. «Die Theorie an und für
sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den
Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht», sagt
Goethe. Er schätzt keine Theorie, die ein für allemal
abgeschlossen sein will, und in dieser Gestalt eine ewige
Wahrheit darstellen soll. Er will lebendige Begriffe, durch die
der Geist des einzelnen nach seiner individuellen Eigenart die
Anschauungen zusammenfaßt. Die Wahrheit erkennen
heißt ihm in der Wahrheit leben. Und in der
Wahrheit leben ist nichts anderes, als bei der Betrachtung
jedes einzelnen Dinges hinzusehen, welches innere Erlebnis sich
einstellt, wenn man diesem Dinge gegenübersteht. Eine
solche Ansicht von dem menschlichen Erkennen kann nicht von
Grenzen des Wissens, nicht von einer Eingeschränktheit
desselben durch die Natur des Menschen sprechen. Denn die
Fragen, die sich nach dieser Ansicht das Erkennen vorlegt,
entspringen nicht aus den Dingen; sie sind dem Menschen auch
nicht von irgend einer andern außerhalb seiner
Persönlichkeit gelegenen Macht auferlegt. Sie entspringen
aus der Natur der Persönlichkeit selbst. Wenn der Mensch
den Blick auf ein Ding richtet, dann entsteht in ihm der Drang,
mehr zu sehen, als ihm in der Wahrnehmung entgegentritt. Und so
weit dieser Drang reicht, so weit reicht sein
Erkenntnisbedürfnis. Woher stammt dieser Drang? Doch nur
davon, daß ein inneres Erlebnis sich in der Seele angeregt
fühlt, mit der Wahrnehmung eine Verbindung einzugehen.
Sobald die Verbindung vollzogen ist, ist auch das
Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Erkennen wollen ist eine
Forderung der menschlichen Natur und nicht der Dinge. Diese
können dem Menschen nicht mehr über ihr Wesen sagen,
als er ihnen abfordert. Wer von einer Beschränktheit des
Erkenntnisvermögens spricht, der weiß nicht, woher
das Erkenntnisbedürfnis stammt. Er glaubt, der Inhalt der
Wahrheit liege irgendwo aufbewahrt, und in dem Menschen lebe
nur der unbestimmte Wunsch, den Zugang zu dem Aufbewahrungsorte
zu finden. Aber es ist das Wesen der Dinge selbst, das sich aus
dem Innern des Menschen herausarbeitet und dahin strebt, wohin
es gehört: zu der Wahrnehmung. Nicht nach einem
Verborgenen strebt der Mensch im Erkenntnisprozeß, sondern
nach der Ausgleichung zweier Kräfte, die von zwei Seiten
auf ihn wirken. Man kann wohl sagen, ohne den Menschen
gäbe es keine Erkenntnis des Innern der Dinge, denn ohne
ihn wäre nichts da, wodurch dieses Innere sich aussprechen
könnte. Aber man kann nicht sagen, es gibt im Innern der
Dinge etwas, das dem Menschen unzugänglich ist. Daß
an den Dingen noch etwas anderes vorhanden ist, als was die
Wahrnehmung liefert, weiß der Mensch nur, weil dieses
andere in seinem eigenen Innern lebt. Von einem weiteren
unbekannten Etwas der Dinge sprechen, heißt Worte
über etwas machen, was nicht vorhanden ist.
*
Die
Naturen, die nicht zu erkennen vermögen, daß es die
Sprache der Dinge ist, die im Innern des Menschen gesprochen
wird, sind der Ansicht, alle Wahrheit müsse von außen
in den Menschen eindringen. Solche Naturen halten sich entweder
an die bloße Wahrnehmung und glauben, allein durch Sehen,
Hören, Tasten, durch Auflesung der geschichtlichen
Vorkommnisse und durch Vergleichen, Zählen, Rechnen,
Wägen des aus der Tatsachenwelt Aufgenommenen die Wahrheit
erkennen zu können; oder sie sind der Ansicht, daß
die Wahrheit nur zu dem Menschen kommen könne, wenn sie
ihm auf eine außerhalb des Erkennens gelegene Art
offenbart werde, oder endlich, sie wollen durch Kräfte
besonderer Natur, durch Ekstase oder mystisches Schauen in den
Besitz der höchsten Einsichten kommen, die ihnen, nach
ihrer Ansicht, die dem Denken zugängliche Ideenwelt nicht
darbieten kann. Den im Kantschen Sinne Denkenden und den
einseitigen Mystikern reihen sich noch besonders geartete
Metaphysiker an. Diese suchen zwar durch das Denken sich
Begriffe von der Wahrheit zu bilden. Aber sie suchen den Inhalt
für diese Begriffe nicht in der menschlichen Ideenwelt,
sondern in einer hinter den Dingen liegenden zweiten
Wirklichkeit. Sie meinen, durch reine Begriffe über einen
solchen Inhalt entweder etwas Sicheres ausmachen zu
können, oder wenigstens durch Hypothesen sich
Vorstellungen von ihm bilden zu können. Ich spreche hier
zunächst von der zuerst angeführten Art von Menschen,
von den Tatsachenfanatikern. Ihnen kommt es zuweilen zum
Bewußtsein, daß in dem Zählen und Rechnen
bereits eine Verarbeitung des Anschauungsinhaltes mit Hilfe des
Denkens stattfindet. Dann aber sagen sie, die Gedankenarbeit
sei bloß das Mittel, durch das der Mensch den
Zusammenhang der Tatsachen zu erkennen bestrebt ist. Was aus
dem Denken bei Bearbeitung der Außenwelt fließt, gilt
ihnen als bloß subjektiv; als objektiven Wahrheitsgehalt,
als wertvollen Erkenntnisinhalt sehen sie nur das an, was mit
Hilfe des Denkens von außen an sie herankommt. Sie fangen
zwar die Tatsachen in ihre Gedankennetze ein, lassen aber nur
das Eingefangene als objektiv gelten. Sie übersehen,
daß dieses Eingefangene durch das Denken eine Auslegung,
Zurechtrückung, eine Interpretation erfährt, die es
in der bloßen Anschauung nicht hat. Die Mathematik ist ein
Ergebnis reiner Gedankenprozesse, ihr Inhalt ist ein geistiger,
subjektiver. Und der Mechaniker, der die Naturvorgänge in
mathematischen Zusammenhängen vorstellt, kann dies nur
unter der Voraussetzung, daß diese Zusammenhänge in
dem Wesen dieser Vorgänge begründet sind. Das
heißt aber nichts anderes als: in der Anschauung ist eine
mathematische Ordnung verborgen, die nur derjenige sieht, der
die mathematischen Gesetze in seinem Geiste ausbildet. Zwischen
den mathematischen und mechanischen Anschauungen und den
intimsten geistigen Erlebnissen ist aber kein Art-, sondern nur
ein Gradunterschied. Und mit demselben Rechte wie die
Ergebnisse der mathematischen Forschung kann der Mensch andere
innere Erlebnisse, andere Gebiete seiner Ideenwelt auf die
Anschauungen übertragen. Nur scheinbar stellt der
Tatsachenfanatiker rein äußere Vorgänge fest. Er
denkt zumeist über die Ideenwelt und ihren Charakter, als
subjektives Erlebnis, nicht nach. Auch sind seine inneren
Erlebnisse inhaltsame, blutleere Abstraktionen, die von dem
kraftvollen Tatsacheninhalt verdunkelt werden. Die
Täuschung, der er sich hingibt, kann nur so lange
bestehen, als er auf der untersten Stufe der
Naturinterpretation stehen bleibt, solange er bloß
zählt, wägt, berechnet. Auf den höheren Stufen
drängt sich die wahre Natur der Erkenntnis bald auf. Man
kann es aber an den Tatsachenfanatikern beobachten, daß
sie sich vorzüglich an die unteren Stufen halten. Sie
gleichen dadurch einem Ästhetiker, der ein Musikstück
bloß danach beurteilen will, was an ihm berechnet und
gezählt werden kann. Sie wollen die Erscheinungen der
Natur von dem Menschen absondern. Nichts Subjektives soll in
die Beobachtung einfließen. Goethe verurteilt dieses
Verfahren mit den Worten: «Der Mensch an sich selbst,
insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der
größte und genaueste physikalische Apparat, den es
geben kann, und das ist eben das größte Unheil der
neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom
Menschen abgesondert hat, und bloß in dem, was
künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was
sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen
will.» Es ist die Angst vor dem Subjektiven, die zu
solcher Verfahrungsweise führt, und die aus einer
Verkennung der wahrhaften Natur desselben herrührt.
«Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß
sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn
eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr
des Musikers? Ja man kann sagen, was sind die elementarischen
Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle
erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich
einigermaßen assimilieren zu können?»
(Kürschner, Band 36, 2, S.351) Nach Goethes Ansicht soll
der Naturforscher nicht allein darauf aufmerksam sein, wie die
Dinge erscheinen, sondern wie sie erscheinen würden, wenn
alles, was in ihnen als ideelle Triebkräfte wirkt, auch
wirklich zur äußeren Erscheinung käme. Erst wenn
sich der leibliche und geistige Organismus des Menschen den
Erscheinungen gegenüberstellt, dann enthüllen sie ihr
Inneres.
Wer
mit freiem, offenem Beobachtungsgeist und mit einem
entwickelten Innenleben, in dem die Ideen der Dinge sich
offenbaren, an die Erscheinungen herantritt, dem enthüllen
diese, nach Goethes Meinung, alles, was an ihnen ist. Goethes
Weltanschauung entgegengesetzt ist daher diejenige, welche das
Wesen der Dinge nicht innerhalb der Erfahrungswirklichkeit,
sondern in einer hinter derselben liegenden zweiten
Wirklichkeit sucht. Ein Bekenner einer solchen Weltanschauung
trat Goethe in Fr. H. Jacobi entgegen. Goethe macht seinem
Unwillen in einer Bemerkung der Tag- und Jahreshefte (zum Jahre
1811) Luft: « Jacobi <Von den göttlichen
Dingen> machte mir nicht wohl; wie konnte mir das Buch eines
so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die
These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott.
Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angebotenen und
geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die
Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so
daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz
machte, mußte nicht ein so seltsamer,
einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von
dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für
ewig entfernen?» Goethes Anschauungsweise gibt ihm die
Sicherheit, daß er in der ideellen Durchdringung der Natur
ein ewig Gesetzmäßiges erlebe, und das ewig
Gesetzmäßige ist ihm mit dem Göttlichen
identisch. Wenn das Göttliche hinter den Naturdingen sich
verbergen würde und doch das schöpferische Element in
ihnen bildete, könnte es nicht angeschaut werden;
der Mensch müßte an dasselbe glauben. In einem
Briefe an Jacobi nimmt Goethe sein Schauen
gegenüber dem Glauben in Schutz:
«Gott hat Dich mit der Metaphysik gestraft und dir
einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich mit der
Physik gesegnet. Ich halte mich an die Gottesverehrung
des Atheisten (Spinoza) und überlasse Euch alles,
was ihr Religion heißt und heißen mögt. Du
hältst aufs Glauben an Gott; ich aufs
Schauen.» Wo dieses Schauen aufhört, da hat
der menschliche Geist nichts zu suchen. In den Sprüchen in
Prosa lesen wir: «Der Mensch ist wirklich in die Mitte
einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt,
daß er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche
erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunden Menschen haben
die Überzeugung ihres Daseins und eines Daseienden um sich
her. Indessen gibt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn,
d.h. eine Stelle, wo sich kein Gegenstand ab spiegelt, wie denn
auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird
der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er
sich darin, so verfällt er in eine
Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge einer andern
Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder
Gestalt noch Begrenzung haben, sondern als leere
Nacht-Räumlichkeit ängstigen und den, der sich
nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen.»
(Kürschner, Band 36, 2, S. 458.) Aus derselben Gesinnung
heraus ist der Ausspruch: «Das Höchste wäre, zu
begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die
Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der
Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen;
sie selbst sind die Lehre.»
Kant spricht dem Menschen die Fähigkeit ab, in das Gebiet
der Natur einzudringen, in dem ihre schöpferischen
Kräfte unmittelbar anschaulich werden. Nach seiner
Meinung sind die Begriffe abstrakte Einheiten, in die der
menschliche Verstand die mannigfaltigen Einzelheiten der Natur
zusammenfaßt, die aber nichts zu tun haben mit der
lebendigen Einheit, mit dem schaffenden Ganzen der
Natur, aus der diese Einzelheiten wirklich hervorgehen. Der
Mensch erlebt in dem Zusammenfassen nur eine subjektive
Operation. Er kann seine allgemeinen Begriffe auf die
empirische Anschauung beziehen; aber diese Begriffe sind nicht
in sich lebendig, produktiv, so daß der Mensch das
Hervorgehen des Individuellen aus ihnen anschauen könnte.
Eine tote, bloß im Menschen vorhandene Einheit sind
für Kant die Begriffe. «Unser Verstand ist ein
Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand,
für den es freilich zufällig sein muß,
welcherlei und wie verschieden das Besondere sein mag, das ihm
in der Natur gegeben werden, und was unter seine Begriffe
gebracht werden kann.» Dies ist Kants Charakteristik des
Verstandes (§ 77 der «Kritik der Urteilskraft»).
Aus ihr ergibt sich folgendes mit Notwendigkeit: «Es liegt
der Vernunft unendlich viel daran, den Mechanismus der Natur in
ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der
Erklärung derselben nicht vorbei zu gehen. weil ohne
diesen keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden
kann. Wenn man uns gleich einräumt: daß ein
höchster Architekt die Formen der Natur, so wie sie von je
her da sind, unmittelbar geschaffen, oder die, so sich in ihrem
Laufe kontinuierlich nach eben demselben Muster bilden,
prädeterminiert habe, so ist doch dadurch unsere
Erkenntnis der Natur nicht im mindesten gefördert; weil
wir jenes Wesens Handlungsart und die Ideen desselben,
welche die Prinzipien der Möglichkeit der Naturwesen
enthalten sollen, gar nicht kennen, und von demselben
als von oben herab (apriori) die Natur nicht erklären
können» (§ 78 der «Kritik der
Urteilskraft»). Goethe ist der Überzeugung, daß
der Mensch in seiner Ideenwelt die Handlungsart des
schöpferischen Naturwesens unmittelbar erlebt. «Wenn
wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und
Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das
erste Wesen annähern sollen: so dürfte es wohl im
Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das
Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme
an ihren Produktionen würdig machten.» Ein
wirkliches Hineinleben in das Schaffen und Walten der Natur ist
für Goethe die Erkenntnis des Menschen. Ihr ist es
gegeben: «zu erforschen, zu erfahren, wie Natur im
Schaffen lebt.»
Es
widerspricht dem Geist der Goetheschen Weltanschauung, von
Wesenheiten zu sprechen, die außerhalb der dem
menschlichen Geiste zugänglichen Erfahrungs- und Ideenwelt
liegen und die doch die Gründe dieser Welt enthalten
sollen. Alle Metaphysik wird von dieser Weltanschauung
abgelehnt. Es gibt keine Fragen der Erkenntnis, die, richtig
gestellt, nicht auch beantwortet werden können. Wenn die
Wissenschaft zu irgend einer Zeit über ein gewisses
Erscheinungsgebiet nichts ausmachen kann, so liegt das nicht an
der Natur des menschlichen Geistes, sondern an dem
zufälligen Umstande, daß die Erfahrung über
dieses Gebiet zu dieser Zeit noch nicht vollständig
vorliegt. Hypothesen können nicht über Dinge
aufgestellt werden, die außerhalb des Gebietes
möglicher Erfahrung liegen, sondern nur über solche,
die einmal in dieses Gebiet eintreten können. Eine
Hypothese kann immer nur besagen: es ist wahrscheinlich,
daß innerhalb eines Erscheinungsgebietes diese oder jene
Erfahrung gemacht werden wird. Über die Dinge und
Vorgänge, die nicht innerhalb der menschlichen sinnlichen
oder geistigen Anschauung liegen, kann innerhalb dieser
Denkungsart gar nicht gesprochen werden. Die Annahme eines
«Dinges an sich», das die Wahrnehmungen in dem
Menschen bewirkt, aber nie selbst wahrgenommen werden kann, ist
eine unstatthafte Hypothese. «Hypothesen sind
Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und
die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist; sie
sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das
Gerüste nicht für das Gebäude ansehen.»
Einem Erscheinungsgebiete gegenüber, für das alle
Wahrnehmungen vorliegen und das ideell durchdrungen ist,
erklärt sich der menschliche Geist befriedigt. Er
fühlt, daß sich in ihm ein lebendiges Zusammenklingen
von Idee und Wahrnehmung abspielt. Die befriedigende
Grundstimmung, die Goethes Weltanschauung für ihn hat, ist
derjenigen ähnlich, die man bei den Mystikern beobachten
kann. Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den
Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist
gerade so wie Goethe davon überzeugt, daß ihm in
inneren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt
manchem Mystiker die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das
innere Erlebnis, auf das es ihm ankommt. Über die klaren
Ideen der Vernunft hat mancher einseitige Mystiker
ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für
ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur und
gehören nur dem menschlichen Verstande an. Ein solcher
Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch
Entwicklung ungewöhnlicher Zustände, z. B. durch
Ekstase, zu einem Schauen höherer Art zu gelangen. Er
tötet die sinnliche Beobachtung und das
vernunftgemäße Denken in sich ab, und sucht sein
Gefühlsleben zu steigern. Dann meint er in sich die
wirkende Geistigkeit sogar als Gottheit unmittelbar zu
fühlen. Er glaubt in Augenblicken, in denen ihm das
gelingt, Gott lebe in ihm. Eine ähnliche Empfindung ruft
auch die Goethesche Weltanschauung in dem hervor, der sich zu
ihr bekennt. Nur schöpft sie ihre Erkenntnisse nicht aus
Erlebnissen, die nach Ertötung von Beobachtung und Denken
eintreten, sondern eben aus diesen beiden Tätigkeiten. Sie
flüchtet nicht zu abnormen Zuständen des menschlichen
Geisteslebens, sondern sie ist der Ansicht, daß die
gewöhnlichen naiven Verfahrungsarten des Geistes einer
solchen Vervollkommnung fähig sind, daß der Mensch
das Schaffen der Natur in sich erleben kann. «Es sind am
Ende doch nur, wie mich dünkt, die praktischen und sich
selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen
Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre
zu üben wagt.» (Vgl. Goethes Werke in der
Sophien-Ausgabe. z. Abt., Band II, S. 41) In eine Welt unklarer
Empfindungen und Gefühle versenkt sich mancher Mystiker;
in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die einseitigen
Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese
Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was
Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte
Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert einen solchen Mystiker,
wenn er sich der Ideenwelt hingibt. Er sucht einen Weltinhalt,
der Wärme ausströmt. Aber der, welchen er findet,
klärt über die Welt nicht auf. Er besteht nur in
subjektiven Erregungen, in verworrenen Vorstellungen. Wer von
der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur
denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in
der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt
in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist.
Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern.
So hat Goethe empfunden, als ihm die Anschauung der wirkenden
Natur in Italien aufging. Damals wußte er, wie jene
Sehnsucht zu stillen ist, die er in Frankfurt seinen Faust mit
den Worten aussprechen läßt:
Wo
faß' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt...
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