Die
Metamorphose der Welterscheinungen
Den
höchsten Grad der Reife erlangte Goethes Weltanschauung,
als ihm die Anschauung der zwei großen Triebräder der
Natur: die Bedeutung der Begriffe von Polarität und
von Steigerung aufging. (Vgl. den Aufsatz:
Erläuterung zu dem Aufsatz «Die Natur».
Kürschner Band 34, S. 63 f.) Die Polarität ist den
Erscheinungen der Natur eigen, insofern wir sie materiell
denken. Sie besteht darin, daß sich alles Materielle in
zwei entgegengesetzten Zuständen äußert, wie der
Magnet in einem Nordpol und einem Südpol. Diese
Zustände der Materie liegen entweder offen vor Augen, oder
sie schlummern in dem Materiellen und können durch
geeignete Mittel in demselben erweckt werden. Die Steigerung
kommt den Erscheinungen zu, insofern wir sie geistig denken.
Sie kann beobachtet werden bei den Naturvorgängen, die
unter die Idee der Entwicklung fallen. Auf den verschiedenen
Stufen der Entwicklung zeigen diese Vorgänge die ihnen zu
Grunde liegende Idee mehr oder weniger deutlich in ihrer
äußeren Erscheinung. In der Frucht ist die Idee der
Pflanze, das vegetabilische Gesetz, nur undeutlich in der
Erscheinung ausgeprägt. Die Idee, die der Geist erkennt,
und die Wahrnehmung sind einander unähnlich. «In den
Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine
höchste Erscheinung, und die Rose wäre nur wieder der
Gipfel der Erscheinung.» In der Herausarbeitung des
Geistigen aus dem Materiellen durch die schaffende Natur
besteht das, was Goethe Steigerung nennt. Die Natur ist
«in immerstrebendem Aufsteigen» begriffen,
heißt, sie sucht Gebilde zu schaffen, die, in
aufsteigender Ordnung, die Ideen der Dinge auch in der
äußeren Erscheinung immer mehr zur Darstellung
bringen. Goethe ist der Ansicht, daß «die Natur kein
Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen
Beobachter nackt vor die Augen stellt». Die Natur
kann Erscheinungen hervorbringen, von denen sich die Ideen
für ein großes Gebiet verwandter Vorgänge
unmittelbar ablesen lassen. Es sind die Erscheinungen, in denen
die Steigerung ihr Ziel erreicht hat, in denen die Idee
unmittelbare Wahrheit wird. Der schöpferische Geist der
Natur tritt hier an die Oberfläche der Dinge; was an den
grob-materiellen Erscheinungen nur dem Denken erfaßbar
ist, was nur mit geistigen Augen geschaut werden kann: das wird
in den gesteigerten dem leiblichen Auge sichtbar. Alles
Sinnliche ist hier auch geistig und alles Geistige sinnlich.
Durchgeistigt denkt sich Goethe die ganze Natur. Ihre Formen
sind dadurch verschieden, daß der Geist in ihnen mehr oder
weniger auch äußerlich sichtbar wird. Eine tote
geistlose Materie kennt Goethe nicht. Als solche erscheinen
diejenigen Dinge, in denen sich der Geist der Natur eine seinem
ideellen Wesen unähnliche äußere Form gibt. Weil
ein Geist in der Natur und im menschlichen Innern wirkt,
deshalb kann der Mensch sich zur Teilnahme an den Produktionen
der Natur erheben. «... vom Ziegelstein, der dem Dache
entstürzt, bis zum leuchtenden Geistesblitz, der dir
aufgeht und den du mitteilst», gilt für Goethe alles
im Weltall als Wirkung, als Manifestation eines
schöpferischen Geistes. «Alle Wirkungen, von welcher
Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen
auf die stetigste Weise zusammen, gehen ineinander über;
sie undulieren von der ersten bis zur letzten.» «Ein
Ziegelstein löst sich vom Dache los: wir nennen dies im
gemeinen Sinne zufällig; er trifft die Schultern
eines Vorübergehenden doch wohl mechanisch, allein
nicht ganz mechanisch, er folgt den Gesetzen der Schwere, und
so wirkt er physisch. Die zerrissenen
Lebensgefäße geben sogleich ihre Funktion auf; im
Augenblicke wirken die Säfte chemisch, die
elementaren Eigenschaften treten hervor. Allein das
gestörte organische Leben widersetzt sich ebenso
schnell und sucht sich herzustellen; indessen ist das
menschliche Ganze mehr oder weniger bewußtlos und
psychisch zerrüttet. Die sich wiedererkennende
Person fühlt sich ethisch im tiefsten verletzt; sie
beklagt ihre gestörte Tätigkeit, von welcher Art sie
auch sei, aber ungern ergäbe der Mensch sich in Geduld.
Religiös hingegen wird ihm leicht, diesen Fall
einer höheren Schickung zuzuschreiben, ihn als Bewahrung
vor größerem Übel, als Einleitung zu
höherem Guten anzusehen. Dies reicht hin für den
Leidenden; aber der Genesende erhebt sich genial, vertraut Gott
und sich selbst und fühlt sich gerettet, ergreift auch
wohl das Zufällige, wendet's zu seinem Vorteil, um einen
ewig frischen Lebenskreis zu beginnen.» Als Modifikationen
des Geistes erscheinen Goethe alle Weltwirkungen, und der
Mensch, der sich in sie vertieft und sie beobachtet von der
Stufe des Zufälligen bis zu der des Genialen, durchlebt
die Metamorphose des Geistes von der Gestalt, in der sich
dieser in einer ihm unähnlichen äußeren
Erscheinung darstellt, bis zu der, wo er in seiner ihm
ureigensten Form erscheint. Einheitlich wirkend sind im Sinne
der Goetheschen Weltanschauung alle schöpferischen
Kräfte. Ein Ganzes, das sich in einer Stufenfolge von
verwandten Mannigfaltigkeiten offenbart, sind sie. Goethe war
aber nie geneigt, die Einheit der Welt sich als
einförmig vorzustellen. Oft verfallen die
Anhänger des Einheitsgedankens in den Fehler, die
Gesetzmäßigkeit, die sich auf einem
Erscheinungsgebiete beobachten läßt, auf die ganze
Natur auszudehnen. In diesem Falle ist z.B. die mechanistische
Weltanschauung. Sie hat ein besonderes Auge und
Verständnis für das, was sich mechanisch
erklären laßt. Deshalb erscheint ihr das Mechanische
als das einzig Naturgemäße. Sie sucht auch die
Erscheinungen der organischen Natur auf mechanische
Gesetzmäßigkeit zurückzuführen. Bin
Lebendiges ist ihr nur eine komplizierte Form des
Zusammenwirkens mechanischer Vorgänge. In besonders
abstoßender Form fand Goethe eine solche Weltanschauung in
Holbachs «Systeme de la nature» ausgesprochen, das
ihm in Straßburg in die Hände fiel. Eine Materie
sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und
sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen
Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des
Daseins hervorbringen. «Dies alles wären wir sogar
zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner
bewegten Materie die Welt vor unsern Augen aufgebaut
hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als
wir: denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt,
verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher
als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur
erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch
richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt
dadurch recht viel gewonnen zu haben. »(Dichtung und
Wahrheit, II. Buch.) In ähnlicher Weise hätte sich
Goethe geäußert, wenn er den Satz Du Bois-Reymonds
(«Grenzen des Naturerkennens», S.13) hätte
hören können: «Naturerkennen ... ist
Zurückführung der Veränderungen in der
Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von
der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden,
oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik
der Atome.» Goethe dachte sich die Arten von
Naturwirkungen miteinander verwandt und ineinander
übergehend; aber er wollte sie nie auf eine einzige Art
zurückführen. Er trachtete nicht nach einem
abstrakten Prinzip, auf das alle Naturerscheinungen
zurückgeführt werden sollen, sondern nach Beobachtung
der charakteristischen Art, wie sich die schöpferische
Natur in jedem einzelnen ihrer Erscheinungsgebiete durch
besondere Formen ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit
offenbart. Nicht eine Gedankenform wollte er
sämtlichen Naturerscheinungen aufzwängen, sondern
durch Einleben in verschiedene Gedankenformen wollte er sich
den Geist so lebendig und biegsam erhalten, wie die Natur
selbst ist. Wenn die Empfindung von der großen Einheit
alles Naturwirkens in ihm mächtig war, dann war er
Pantheist. «Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen
Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben;
als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist als
Naturforscher, und eines so entschieden als das andere. Bedarf
ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als
sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt.»
(An Jacobi, 6. Jan. 1813.) Als Künstler wandte sich Goethe
an jene Naturerscheinungen, in denen die Idee in unmittelbarer
Anschauung gegenwärtig ist. Das Einzelne erschien hier
unmittelbar göttlich; die Welt als eine Vielheit
göttlicher Individualitäten. Als Naturforscher
mußte Goethe auch in den Erscheinungen, deren Idee nicht
in ihrem individuellen Dasein sichtbar wird, die Kräfte
der Natur verfolgen. Als Dichter konnte er sich bei der
Vielheit des Göttlichen beruhigen; als Naturforscher
mußte er die einheitlich wirkenden Naturideen suchen.
«Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der
größten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen,
bringt das Objektiv-Schöne hervor, welches freilich
würdige Subjekte finden muß, von denen es
aufgefaßt wird.» Dieses Objektiv-Schöne im
einzelnen Geschöpf will Goethe als Künstler
anschauen; aber als Naturforscher will er «die Gesetze
kennen, nach welchen die allgemeine Natur handeln will».
Polytheismus ist die Denkweise, die in dem Einzelnen ein
Geistiges sieht und verehrt; Pantheismus die andere, die den
Geist des Ganzen erfaßt. Beide Denkweisen können
nebeneinander bestehen; die eine oder die andere macht sich
geltend, je nachdem der Blick auf das Naturganze gerichtet ist,
das Leben und Folge ist aus einem Mittelpunkte, oder auf
diejenigen Individuen, in denen die Natur in einer Form
vereinigt, was sie in der Regel über ein ganzes Reich
ausbreitet. Solche Formen entstehen, wenn z.B. die
schöpferischen Naturkräfte nach
«tausendfältigen Pflanzen», noch eine machen,
worin «alle übrigen enthalten», oder «nach
tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle
enthält: den Menschen».
*
Goethe macht einmal die Bemerkung: «Wer sie (meine
Schriften) und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt,
wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere
Freiheit gewonnen.» (Unterhaltungen mit dem Kanzler von
Müller, . Jan.1831.) Damit hat er auf die wirkende Kraft
hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnisstreben
geltend macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die
Gegensätze um sich her wahrzunehmen und ihre Gesetze als
ihnen eingepflanzte Prinzipien zu betrachten, von denen sie
beherrscht werden, hat er das Gefühl, daß sie ihm als
unbekannte Mächte gegenüberstehen, die auf ihn wirken
und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdrängen. Er
fühlt sich den Dingen gegenüber unfrei; er empfindet
die Gesetzmäßigkeit der Natur als starre
Notwendigkeit, der er sich zu fügen hat. Erst wenn der
Mensch gewahr wird, daß die Naturkräfte nichts
anderes sind als Formen desselben Geistes, der auch in ihm
selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, daß er der
Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit wird nur so
lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt
ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man
sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern
betätigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes
Element beim Werden und Wesen der Dinge. Man ist Du und Du mit
aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Tun das aufgenommen,
was man sonst nur als äußeren Antrieb empfindet. Dies
ist der Befreiungs-Prozeß, den im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die
Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den
italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare
Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das
Innehaben dieser Ideen auf den Menschen ausübt. Eine Folge
dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen
Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister
bezeichnet. «Die Umfassenden, die man in einem stolzern
Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im
höchsten Sinne produktiv; indem sie nämlich von Ideen
ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und
es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in
diese Idee zu fügen.» Zu der unmittelbaren
Anschauung des Befreiungsaktes hat es aber Goethe nie gebracht.
Diese Anschauung kann nur derjenige haben, der sich selbst in
seinem Erkennen belauscht. Goethe hat zwar die höchste
Erkenntnisart ausgeübt; aber er hat diese Erkenntnisart
nicht an sich beobachtet. Gesteht er doch selbst:
«Wie hast du's denn so weit gebracht?
Sie
sagen, du habest es gut vollbracht!»
Mein
Kind! Ich hab' es klug gemacht;
Ich
habe nie über das Denken gedacht.
Aber so wie die schöpferischen Naturkräfte «nach
tausendfältigen Pflanzen» noch eine machen, worin
« alle übrigen enthalten» sind, so bringen sie
auch nach tausendfältigen Ideen noch eine hervor, worin
die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfaßt
der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und
Vorgänge auch diejenige des Denkens fügt. Eben weil
Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung
erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein
Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen,
das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die
Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des
Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken
und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht.
Sonst wäre er zur Einsicht gelangt, daß man gerade im
Sinne seiner Weltanschauung es wohl ablehnen könne,
über das Denken zu denken, daß man aber doch zu einer
Anschauung der Gedankenwelt kommen könne. An dem
Zustandekommen aller übrigen Anschauungen ist der Mensch
unbeteiligt. In ihm leben die Ideen dieser Anschauungen auf.
Diese Ideen würden aber nicht da sein, wenn in ihm nicht
die produktive Kraft vorhanden wäre, sie zur Erscheinung
zu bringen. Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind, was in
den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie
durch die menschliche Tätigkeit. Die eigene Natur der
Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine
Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung
durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt
wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In
der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in
seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos
in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint
nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist
jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst
Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der
Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das
Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses
Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee
selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist
hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der
Ideenwelt. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende
Tätigkeit anschaut, fühlt die Freiheit. Goethe hat
diese Empfindung zwar erlebt, aber nicht in der
höchsten Form ausgesprochen. Er übte in seiner
Naturbetrachtung eine freie Tätigkeit; aber sie wurde ihm
nie gegenständlich. Er hat nie hinter die Kulissen des
menschlichen Erkennens geschaut und deshalb die Idee des
Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner
höchsten Metamorphose nie in sein Bewußtsein
aufgenommen. Sobald der Mensch zur Anschauung dieser
Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge.
Er hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den
wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen. Er
wird nicht mehr nach unbekannten Gründen, nach außer
ihm liegenden Ursachen der Dinge forschen; er weiß,
daß das höchste Erlebnis, dessen er fähig ist,
in der Selbstbetrachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer
ganz durchdrungen ist von den Gefühlen, die dieses
Erlebnis hervorruft, der wird die wahrsten Verhältnisse zu
den Dingen gewinnen. Bei wem das nicht der Fall ist, der wird
die höchste Form des Daseins anderswo suchen, und, da er
sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem unbekannten
Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung der Dinge
wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der
Beantwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt,
fortwährend auf ein Unerforschliches berufen. Weil Goethe
durch sein Leben in der Ideenwelt ein Gefühl hatte
von dem festen Mittelpunkt, innerhalb der Persönlichkeit,
ist es ihm gelungen, innerhalb bestimmter Grenzen im
Naturbetrachten zu sicheren Begriffen zu kommen. Weil ihm aber
die unmittelbare Anschauung des innersten Erlebnisses abging,
tastet er außer halb dieser Grenzen unsicher umher. Er
redet aus diesem Grunde davon, daß der Mensch nicht
geboren sei, die « Probleme der Welt zu lösen, wohl
aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der
Grenze des Begreiflichen zu halten». Er sagt: «Kant
hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen
zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei,
und daß er die unauflöslichen Probleme liegen
ließ.» Hätte ihm die Anschauung des
höchsten Erlebnisses Sicherheit in der Betrachtung der
Dinge gegeben, so hätte er auf seinem Wege mehr gekonnt
als «durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter
Zuverlässigkeit gelangen». Statt geradewegs durch die
Erfahrung durchzuschreiten in dem Bewußtsein, daß das
Wahre nur eine Bedeutung hat, insoweit es von der menschlichen
Natur gefordert wird, gelangt er doch zu der Überzeugung,
daß « ein höherer Einfluß die
Standhaften, die Tätigen, die Verständigen, die
Geregelten und Regelnden, die Menschlichen, die Frommen»
begünstige, und daß sich «die moralische
Weltordnung» am schönsten da zeige, wo sie «dem
Guten, dem wacker Leidenden mittelbar zu Hilfe kommt».
*
Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war
es ihm unmöglich, zu den letzten Gedanken über die
sittliche Weltordnung zu gelangen, die zu seiner
Naturanschauung notwendig gehören. Die Ideen der Dinge
sind der Inhalt des in den Dingen Wirksamen und Schaffenden.
Die sittlichen Ideen erlebt der Mensch unmittelbar in der
Ideenform. Wer zu erleben imstande ist, wie in der Anschauung
der Ideenwelt das Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit
sich selbst erfüllt, der ist auch in der Lage, die
Produktion des Sittlichen innerhalb der menschlichen Natur zu
erleben. Wer die Naturideen nur in ihrem Verhältnis zu der
Anschauungswelt kennt, der wird auch die sittlichen Begriffe
auf etwas ihnen Äußeres beziehen wollen. Er wird eine
ähnliche Wirklichkeit für diese Begriffe suchen, wie
sie für die aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe
vorhanden ist. Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit
anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr,
daß nichts Äußeres ihnen entspricht, daß
sie unmittelbar im Geist-Erleben als Ideen produziert werden.
Ihm ist klar, daß weder ein nur äußerlich
wirkender göttlicher Wille, noch eine solche sittliche
Weltordnung wirksam sind, um diese Ideen zu erzeugen. Denn es
ist in ihnen nichts von einem Bezug auf solche Gewalten zu
bemerken. Alles was sie aussprechen, ist in ihrer geistig
erlebten reinen Ideenform auch eingeschlossen. Nur durch ihren
eigenen Inhalt wirken sie auf den Menschen als sittliche
Mächte. Kein kategorischer Imperativ steht mit der
Peitsche hinter ihnen und drängt den Menschen, ihnen zu
folgen. Der Mensch empfindet, daß er sie selbst
hervorgebracht hat und liebt sie, wie man sein Kind liebt. Die
Liebe ist das Motiv des Handelns. Die geistige Lust am eigenen
Erzeugnis ist der Quell des Sittlichen.
Es
gibt Menschen, die keine sittlichen Ideen zu produzieren
vermögen. Sie nehmen diejenigen anderer Menschen durch
Überlieferung in sich auf. Und wenn sie kein
Anschauungsvermögen für Ideen als solche haben,
erkennen sie den im Geiste erlebbaren Ursprung des Sittlichen
nicht. Sie suchen ihn in einem übermenschlichen, ihnen
äußerlichen Willen. Oder sie glauben, daß eine
außerhalb der menschlich erlebten Geistwelt bestehende
objektive sittliche Weltordnung bestehe, aus der die
moralischen Ideen stammen. In dem Gewissen des Menschen wird
oft das Sprachorgan dieser Weltordnung gesucht. Wie über
gewisse Dinge seiner übrigen Weltanschauung ist Goethe
auch in seinen Gedanken über den Ursprung des Sittlichen
unsicher. Auch hier treibt sein Gefühl für das
Ideengemäße Sätze hervor, die den Forderungen
seiner Natur gemäß sind. «Pflicht: wo man liebt,
was man sich selbst befiehlt.» Nur wer die Gründe des
Sittlichen rein in dem Inhalt der sittlichen Ideen sieht,
sollte sagen: «Lessing, der mancherlei Beschränkung
unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen
sagen: niemand muß müssen. Ein geistreicher,
frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muß. Ein
dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: Wer
einsieht, der will auch. Und so glaubte man den ganzen
Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu
haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis des
Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Tun und Lassen;
deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit
handeln zu sehen.» Daß in Goethe ein Gefühl
für die echte Natur des Sittlichen herrscht, welches sich
nur nicht zur klaren Anschauung erhebt, zeigt folgender
Ausspruch: «Der Wille muß, um vollkommen zu werden,
sich im Sittlichen dem Gewissen, das nicht irrt ... fügen
... Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, mit ihm ist
alles gegeben; es hat nur mit der innern eigenen Welt zu
tun.» Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, kann nur
heißen: der Mensch findet in sich keinen sittlichen Inhalt
ursprünglich vor; er gibt sich ihn selbst. Diesen
Aussprüchen stehen andere gegenüber, die den Ursprung
des Sittlichen in ein Gebiet außerhalb des Menschen
verlegen: «Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht
mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den
Blick sehnend zum Himmel auf... weil er es tief und klar in
sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen
Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen, noch
aufzugeben vermögen.» «Was gar nicht
aufzulösen ist, überlassen wir Gott als dem
allbedingenden und allbefreienden Wesen.»
*
Für die Betrachtung der innersten Menschennatur, für
die Selbstbeschauung fehlt Goethe das Organ. «Hierbei
bekenne ich, daß mir von jeher die große und so
bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer
verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter
Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen
verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt
zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollten.
Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt,
die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue
Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns
auf» Davon ist gerade das Umgekehrte wahr: der Mensch
kennt die Welt nur, insofern er sich kennt. Denn in seinem
Innern offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den
Außendingen nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol als
Anschauung vorhanden ist. Wovon der Mensch sonst nur als von
einem Unergründlichen, Unerforschlichen, Göttlichen
sprechen kann: das tritt ihm in der Selbstanschauung in wahrer
Gestalt vor Augen. Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle
in unmittelbarer Gestalt sieht, gewinnt er die Kraft und
Fähigkeit, dieses Ideelle auch in aller äußeren
Erscheinung, in der ganzen Natur aufzusuchen und anzuerkennen.
Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat, denkt nicht
mehr daran, hinter den Erscheinungen einen
«verborgenen» Gott zu suchen: er ergreift das
Göttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der
Natur. Goethe bemerkte in Beziehung auf Schelling: «Ich
würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf
poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei
mir die Poesie, und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt
treibt, indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann,
sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muß
und deshalb gleich in die Natur hinaus fliehe.» Die
höchste Anschauung, die Anschauung der Ideenwelt selbst,
hat er eben nicht finden können. Sie kann die Poesie nicht
zerstören, denn sie befreit den Geist nur von allen
Vermutungen, daß in der Natur ein Unbekanntes,
Unergründliches sein könne. Dafür aber macht sie
ihn fähig, sich unbefangen ganz den Dingen hinzugeben;
denn sie gibt ihm die Überzeugung, daß aus der Natur
alles zu entnehmen ist, was der Geist von ihr nur wünschen
kann.
Die
höchste Anschauung befreit aber den Menschengeist auch von
allem einseitigen Abhängigkeitsgefühl. Er fühlt
sich durch ihren Besitz souverän im Reiche der sittlichen
Weltordnung. Er weiß, daß die Triebkraft, die alles
hervorbringt, in seinem Innern als in seinem eigenen Willen
wirkt, und daß die höchsten Entscheidungen über
Sittliches in ihm selbst liegen. Denn diese höchsten
Entscheidungen fließen aus der Welt der sittlichen Ideen,
bei deren Produktion die Seele des Menschen anwesend ist. Mag
der Mensch im einzelnen sich beschränkt fühlen, mag
er auch von tausend Dingen abhängig sein; im ganzen gibt
er sich sein sittliches Ziel und seine sittliche Richtung. Das
Wirksame aller übrigen Dinge kommt im Menschen als Idee
zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er
selbst hervorbringt. In jeder einzelnen menschlichen
Individualität vollzieht sich der Prozeß, der im
Ganzen der Natur sich abspielt: die Schöpfung eines
Tatsächlichen aus der Idee heraus. Und der Mensch selbst
ist der Schöpfer. Denn auf dem Grunde seiner
Persönlichkeit lebt die Idee, die sich selbst einen Inhalt
gibt. Über Goethe hinausgehend, muß man seinen Satz
erweitern, die Natur sei «in dem Reichtum der
Schöpfung so groß, nach tausendfältigen Pflanzen
eine zu machen, worin alle übrigen enthalten sind,
und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie
alle enthält, den Menschen». Die Natur ist in ihrer
Schöpfung so groß, daß sie den Prozeß,
durch den sie frei aus der Idee heraus alle Geschöpfe
hervorbringt, in jedem Menschenindividuum wiederholt, indem die
sittlichen Handlungen aus dem ideellen Grunde der
Persönlichkeit entspringen. Was der Mensch auch als
objektiven Grund seines Handelns empfindet, es ist alles nur
Umschreibung und zugleich Verkennung seiner eigenen Wesenheit.
Sich selbst realisiert der Mensch in seinem sittlichen Handeln.
In lapidaren Sätzen hat Max Stirner diese Erkenntnis in
seiner Schrift «Der Einzige und sein Eigentum»
ausgesprochen. «Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin
es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im
Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein
schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren
wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei
es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit
und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins.
Stell' ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie
auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer
seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab'
mein Sach' auf Nichts gestellt.» Aber zugleich darf der
Mensch zu diesem Stirnerschen Geist, wie Faust zu
Mephistopheles sagen: «In deinem Nichts hoff' ich das All
zu finden», denn in meinem Innern wohnt in individueller
Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All
schafft. So lange der Mensch in sich diese Wirkungskraft nicht
geschaut hat, wird er sich ihr gegenüber erscheinen wie
Faust dem Erdgeist gegenüber. Sie wird ihm stets die Worte
zurufen: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht
mir!» Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens zaubert
diesen Geist hervor, der von sich sagt:
In
Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Ich
habe in meiner «Philosophie der Freiheit»
darzustellen versucht, wie die Erkenntnis, daß der Mensch
in seinem Tun auf sich selbst gestellt ist, hervorgeht aus dem
innersten Erlebnis, aus der Anschauung der eigenen Wesenheit.
Stirner hat 1844 die Ansicht verteidigt, daß der Mensch,
wenn er sich wahrhaft versteht, nur in sich selbst den Grund
für seine Wirksamkeit sehen könne. Bei ihm geht aber
diese Erkenntnis nicht aus der Anschauung des innersten
Erlebnisses, sondern aus dem Gefühle der Freiheit
und Ungebundenheit gegenüber allen Zwang heischenden
Weltmächten hervor. Stirner bleibt bei der
Forderung der Freiheit stehen; er wird auf diesem
Gebiete zu der denkbar schroffsten Betonung der auf sich selbst
gestellten Menschennatur geführt. Ich versuche auf
breiterer Basis das Leben in der Freiheit zu schildern, indem
ich zeige, was der Mensch erblickt, wenn er auf den Grund
seiner Seele sieht. Goethe ist bis zu der Anschauung der
Freiheit nicht gekommen, weil er eine Abneigung gegen die
Selbsterkenntnis hatte. Wäre das nicht der Fall gewesen,
so hätte die Erkenntnis des Menschen als einer freien, auf
sich selbst gegründeten Persönlichkeit die Spitze
seiner Weltanschauung bilden müssen. Die Keime zu dieser
Erkenntnis treten uns bei ihm überall entgegen; sie sind
zugleich die Keime seiner Naturansicht. Innerhalb seiner
eigentlichen Naturstudien spricht Goethe nirgends von
unerforschlichen Gründen, von verborgenen
Triebkräften der Erscheinungen. Er begnügt sich
damit, die Erscheinungen in ihrer Folge zu beobachten und sie
mit Hilfe derjenigen Elemente zu erklären, die sich den
Sinnen und dem Geiste bei der Beobachtung offenbaren. Am 5. Mai
1786 schreibt er in diesem Sinne an Jacobi, daß er den Mut
habe, sein «ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu
widmen, die er reichen» und von deren Wesenheit er sich
« eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann»,
ohne sich im mindesten zu bekümmern, wie weit er kommen
werde und was ihm zugeschnitten ist. Wer sich dem
Göttlichen in dem einzelnen Naturdinge zu nähern
glaubt, der braucht sich nicht mehr eine besondere Vorstellung
von einem Gotte zu bilden, der außer und neben den Dingen
existiert. Nur wenn Goethe das Gebiet der Natur
verläßt, dann hält auch sein Gefühl
für die Wesenheit der Dinge nicht mehr stand. Dann
führt ihn der Mangel an menschlicher Selbsterkenntnis zu
Behauptungen, die weder mit seiner ihm angeborenen Denkweise,
noch mit der Richtung seiner Naturstudien zu vereinigen sind.
Wer Neigung hat, sich auf solche Behauptungen zu berufen, der
mag annehmen, daß Goethe an einen menschenähnlichen
Gott und eine individuelle Fortdauer derjenigen Lebensform der
Seele geglaubt hat, die an die Bedingungen der physischen
Leibesorganisation gebunden ist. Mit Goethes Naturstudien steht
ein solcher Glaube im Widerspruch. Sie hätten nie die
Richtung nehmen können, die sie genommen haben, wenn sich
Goethe bei ihnen von diesem Glauben hätte bestimmen
lassen. Im Sinne seiner Naturstudien liegt es durchaus, das
Wesen der menschlichen Seele so zu denken, daß diese nach
der Ablegung des Leibes in einer übersinnlichen
Daseinsform lebt. Diese Daseinsform bedingt, daß ihr durch
die andern Lebensbedingungen auch eine andere
Bewußtseinsart eigen wird als die ist, die sie durch den
physischen Leib hat. So führt die Goethesche
Metamorphosenlehre auch zu der Anschauung von Metamorphosen des
Seelenlebens. Aber man wird diese Goethesche
Unsterblichkeitsidee nur recht ins Auge fassen können,
wenn man weiß, daß Goethe zu einer
unmetamorphosierten Fortsetzung desjenigen Geisteslebens, das
durch den physischen Leib bedingt ist, durch seine
Weltanschauung nicht hat geführt werden können. Weil
Goethe in dem hier angedeuteten Sinn eine Anschauung des
Gedankenlebens nicht versuchte, wurde er auch im Fortgang
seiner Lebensführung nicht dazu veranlaßt, diejenige
Unsterblichkeitsidee besonders auszugestalten, welche die
Fortsetzung seiner Metamorphosengedanken wäre.
Diese Idee aber wäre in Wahrheit dasjenige, was in
Bezug auf dieses Erkenntnisgebiet aus seiner Weltanschauung
folgte. Was er im Hinblick auf die Lebensansicht dieses oder
jenes Zeitgenossen, oder aus anderer Veranlassung als Ausdruck
einer persönlichen Empfindung gab, ohne dabei an den
Zusammenhang mit seiner an den Naturstudien gewonnenen
Weltanschauung zu denken, darf nicht als charakteristisch
für Goethes Unsterblichkeitsidee angeführt
werden.
Für die Wertung eines Goetheschen Ausspruches im
Gesamtbilde seiner Weltanschauung kommt auch in Betracht,
daß die Stimmung seiner Seele in seinen verschiedenen
Lebensaltern solchen Aussprüchen besondere Nuancen gibt.
Dieses Wandels in der Ausdrucksform seiner Ideen war er sich
voll bewußt. Als Förster die Ansicht aussprach, die
Lösung des Faust-Problems werde sich aus dem Worte
ergeben: «Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist
sich des rechten Weges wohl bewußt» entgegnete
Goethe:
«Das wäre ja Aufklärung: Faust endet als Greis,
und im Greisenalter werden wir Mystiker»(aus Försters
Nachlaß, S.216). Und in den Prosasprüchen lesen wir:
«Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse
Philosophie. Das Kind erscheint als Realist; denn es findet
sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel
als von dem seinigen. Der Jüngling, von inneren
Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken,
sich vorfühlen, er wird zum Idealisten umgewandelt.
Dagegen ein Skeptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er
tut wohl zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke
gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im
Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu
erhalten, damit er nicht nachher sich über eine falsche
Wahl zu betrüben habe. Der Greis jedoch wird sich immer
zum Mystizismus bekennen; er sieht, daß so vieles vom
Zufall abzuhängen scheint; das Unvernünftige gelingt,
das Vernünftige schlägt fehl, Glück und
Unglück stellen sich unerwartet ins gleiche; so ist es, so
war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist,
der da war und der da sein wird» (Kürschner, Band
36,2 S. 454).
Ich
habe in dieser Schrift die Weltanschauung Goethes im Auge, aus
der seine Einsichten in das Leben der Natur hervorgewachsen
sind und welche die treibende Kraft in ihm war von der
Entdeckung des Zwischenknochens beim Menschen bis zur
Vollendung der Farbenlehre. Und ich glaube gezeigt zu haben,
daß diese Weltanschauung vollkommener der
Gesamtpersönlichkeit Goethes entspricht, als die
Zusammenstellung von Aussprüchen, bei denen man vor allem
Rücksicht nehmen müßte, wie solche Gedanken
gefärbt sind, durch die Stimmung seiner Jugend- oder
seiner Altersepoche. Ich glaube, Goethe hat in seinen
Naturstudien, wenn auch nicht geleitet von einer klaren,
ideengemäßen Selbsterkenntnis, so doch von einem
richtigen Gefühle, eine freie, aus dem wahren
Verhältnis der menschlichen Natur zur Außenwelt
fließende Verfahrungsweise beobachtet. Goethe ist sich
selbst darüber klar, daß in seiner Denkweise etwas
Unvollendetes liegt: «Ich war mir edler, großer
Zwecke bewußt, konnte aber niemals die Bedingungen
begreifen, unter denen ich wirkte; was mir mangelte, merkte
ich wohl, was an mir zu viel sei, gleichfalls; deshalb
unterließ ich nicht mich zu bilden, nach außen und
von innen. Und doch blieb es beim alten. Ich verfolgte jeden
Zweck mit Ernst, Gewalt und Treue; dabei gelang mir oft,
widerspenstige Bedingungen vollkommen zu überwinden, oft
aber auch scheiterte ich daran, weil ich nachgeben und umgehen
nicht lernen konnte. Und so ging mein Leben hin unter Tun und
Genießen, Leiden und Widerstreben, unter Liebe,
Zufriedenheit, Haß und Mißfallen anderer. Hieran
spiegele sich, dem das gleiche Schicksal geworden.»
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