Die Anschauungen über
Natur und Entwicklung der Lebewesen
Die
Metamorphosenlehre
Man
kann Goethes Verhältnis zu den Naturwissenschaften nicht
verstehen, wenn man sich bloß an die Einzelentdeckungen
hält, die er gemacht hat. Ich sehe als leitenden
Gesichtspunkt für die Betrachtung dieses
Verhältnisses die Worte an, die Goethe am 18. August 1787
von Italien aus an Knebel gerichtet hat: «Nach dem, was
ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen
habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger
wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu
machen, nicht um etwas Neues zu entdecken, sondern um das
Entdeckte nach meiner Art anzusehen.» Auf die Art, wie
Goethe die ihm bekannten Naturerscheinungen in einer seiner
Denkungsart gemäßen Naturansicht zusammengefaßt
hat, scheint es mir anzukommen. Wenn alle die
Einzelentdeckungen, die ihm gelungen sind, schon vor ihm
gemacht gewesen wären, und er uns nichts als seine
Naturansicht gegeben hätte, so schmälerte dies
die Bedeutung seiner Naturstudien nicht im geringsten. Ich bin
mit Du Bois-Reymond einer Meinung darüber, daß «
auch ohne Goethe die Wissenschaft überhaupt so weit
wäre, wie sie ist», daß die ihm gelungenen
Schritte früher oder später andere getan hätten.
(Goethe und kein Ende, S.1) Ich kann diese Worte nur nicht, wie
es Du Bois-Reymond tut, auf den ganzen Umfang von Goethes
naturwissenschaftlichen Arbeiten beziehen. Ich beschränke
sie auf die in ihrem Verlaufe gemachten Einzelentdeckungen.
Keine einzige derselben würde uns wahrscheinlich heute
fehlen, wenn Goethe sich nie mit Botanik, mit Anatomie usw.
beschäftigt hätte. Seine Naturansicht aber ist ein
Ausfluß seiner Persönlichkeit; kein anderer
hätte zu ihr kommen können. Ihn interessierten auch
nicht die Einzelentdeckungen. Sie drängten sich ihm
während seiner Studien von selbst auf, weil über die
Tatsachen, die sie betreffen, zu seiner Zeit Ansichten Geltung
hatten, die unvereinbar mit seiner Art, die Dinge zu
betrachten, waren. Hätte er mit dem, was die
Naturwissenschaft ihm überlieferte, seine Anschauung
aufbauen können: so würde er sich nie mit
Detailstudien beschäftigt haben. Er mußte ins
Einzelne gehen, weil das, was ihm über das Einzelne von
den Naturforschern gesagt wurde, seinen Forderungen nicht
entsprach. Und nur wie zufällig ergaben sich bei diesen
Detailstudien die Einzelentdeckungen. Ihn beschäftigte
zunächst nicht die Frage: ob der Mensch wie die
übrigen Tiere einen Zwischenkieferknochen in der oberen
Kinnlade habe. Er wollte den Plan entdecken, nach dem die Natur
die Stufenfolge der Tiere und auf der Höhe dieser
Stufenfolge den Menschen bildet. Das gemeinsame Urbild, das
allen Tiergattungen und zuletzt in seiner höchsten
Vollkommenheit auch der Menschengattung zu Grunde liegt, wollte
er finden. Die Naturforscher sagten ihm: es besteht ein
Unterschied im Bau des tierischen und des menschlichen
Körpers. Die Tiere haben in der oberen Kinnlade den
Zwischenknochen, der Mensch habe ihn nicht. Seine Ansicht war,
daß sich der menschliche physische Bau nur dem Grade der
Vollkommenheit nach von dem tierischen unterscheiden
könne, nicht aber in Einzelheiten. Denn, wenn das letztere
der Fall wäre, könnte nicht ein gemeinsames Urbild
der tierischen und der menschlichen Organisation zu Grunde
liegen. Er konnte mit der Behauptung der Naturforscher nichts
anfangen. Deshalb suchte er nach dem Zwischenknochen bei dem
Menschen und fand ihn. Ähnliches ist bei allen seinen
Einzelentdeckungen zu beobachten. Sie sind ihm nie Selbstzweck.
Sie müssen gemacht werden, um seine Vorstellungen
über die Naturerscheinungen als berechtigt erscheinen zu
lassen.
Im
Gebiete der organischen Naturerscheinungen ist das Bedeutsame
in Goethes Ansicht die Vorstellung, die er vom Wesen des
Lebens aus bildete. Nicht auf die Betonung der Tatsache,
daß Blatt, Kelch, Krone usw. Organe an der Pflanze sind,
die miteinander identisch sind, und sich aus einem
gemeinschaftlichen Grundgebilde entwickeln, kommt es an.
Sondern darauf, welche Vorstellung Goethe von dem Ganzen der
Pflanzennatur als einem Lebendigen hatte und wie er sich das
Einzelne aus diesem Ganzen hervorgehend dachte. Seine Idee von
dem Wesen des Organismus ist seine ureigenste zentrale
Entdeckung im Gebiete der Biologie zu nennen. Daß sich in
der Pflanze, in dem Tiere etwas anschauen lasse, was der
bloßen Sinnenbeobachtung nicht zugänglich ist, war
Goethes Grundüberzeugung. Was das leibliche Auge an dem
Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur die Folge zu
sein des lebendigen Ganzen durcheinander wirkender
Bildungsgesetze, die dem geistigen Auge allein
zugänglich sind. Was er mit dem geistigen Auge an der
Pflanze, an dem Tier erschaut, das hat er beschrieben. Nur wer
ebenso wie er zu sehen fähig ist, kann seine Idee von dem
Wesen des Organismus nachdenken. Wer bei dem stehen bleibt, was
die Sinne und das Experiment liefern, der kann Goethe nicht
verstehen. Wenn wir seine beiden Gedichte lesen «Die
Metamorphose der Pflanzen» und «Die Metamorphose der
Tiere», so scheint es zunächst, als ob die Worte uns
nur von einem Glied des Organismus zum andern führten, als
ob bloß äußerlich Tatsächliches
verknüpft werden sollte. Wenn wir uns aber durchdringen
mit dem, was Goethe als Idee des Lebewesens vorschwebt, dann
fühlen wir uns in die Sphäre des Lebendig-Organischen
versetzt, und aus einer zentralen Vorstellung wachsen die
Vorstellungen über die einzelnen Organe hervor.
*
Als
Goethe anfing, selbständig über die Erscheinungen der
Natur nachzusinnen, nahm vor allem andern der Begriff des
Lebens seine Aufmerksamkeit in Anspruch. In einem Briefe
aus der Straßburger Zeit vom 14. Juli 1770 schreibt er von
einem Schmetterling: «Das arme Tier zittert im Netz,
streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ja
unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos
da; der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch
etwas dazu, noch ein Hauptstück, und bei der Gelegenheit,
wie bei jeder andern, ein sehr hauptsächliches
Hauptstück: das Leben.-» Daß ein
Organismus nicht wie ein totes Naturprodukt betrachtet werden
kann, daß noch mehr darin steckt als die Kräfte, die
auch in der unorganischen Natur leben, war Goethe von
vornherein klar. Wenn Du Bois-Reymond meint, daß «die
rein mechanische Weltkonstruktion, welche heute die
Wissenschaft ausmacht, dem Weimarschen Dichterfürsten
nicht minder verhaßt gewesen wäre, als einst
Friederikens Freund das 9systeme de la nature:», so hat er
unzweifelhaft Recht; und nicht minder hat er Recht mit den
andern Worten: von dieser Weltkonstruktion, die «durch die
Urzeugung an die Kant-Laplace'sche Theorie grenzt, von der
Entstehung des Menschen aus dem Chaos durch das von Ewigkeit
zu Ewigkeit mathematisch bestimmte Spiel der Atome, von dem
eisigen Weltende - von diesen Bildern, welche unser Geschlecht
so unfühlend ins Auge faßt, wie es an die
Schrecknisse des Eisenbahnfahrens sich gewöhnte -
hätte Goethe sich schaudernd abgewandt»
(Goethe und kein Ende, S.35 f.). Gewiß hätte er sich
schaudernd abgewandt, weil er einen höheren Begriff des
Lebendigen suchte und ihn auch fand als den eines
komplizierten, mathematisch bestimmten Mechanismus. Nur wer
unfähig ist, einen solchen höhern Begriff zu fassen
und das Lebendige mit dem Mechanischen identifiziert, weil er
am Organismus nur das Mechanische zu sehen vermag, der wird
sich für die mechanische Weltkonstruktion und ihr Spiel
der Atome erwärmen und unfühlend die Bilder ins Auge
fassen, die Du Bois-Reymond entwirft. Wer aber den Begriff des
Organischen im Sinne Goethes in sich aufnehmen kann, der wird
über seine Berechtigung ebensowenig streiten wie über
das Vorhandensein des Mechanischen. Man streitet ja auch nicht
mit dem Farbenblinden über die Farbenwelt. Alle
Anschauungen, welche das Organische sich mechanisch vorstellen,
verfallen dem Richterspruch, den Goethe seinen Mephistopheles
sagen läßt:
Wer
will was Lebendig's erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in der Hand.
Fehlt, leider! nur das geistige Band.
Die
Möglichkeit, sich intimer mit dem Leben der Pflanzen zu
beschäftigen, fand sich für Goethe, als ihm der
Herzog Karl August am 21. April 1776 einen Garten schenkte.
Auch durch die Streifzüge im Thüringerwald, auf denen
er die Lebenserscheinungen der niederen Organismen beobachten
konnte, wird Goethe angeregt. Moose und Flechten nehmen seine
Aufmerksamkeit in Anspruch. Am 31. Oktober bittet er Frau von
Stein um Moose von allen Sorten, womöglich mit den Wurzeln
und feucht, damit er sie benützen könne, um die
Fortpflanzung zu beobachten. Es ist wichtig, im Auge zu
behalten, daß Goethe sich im Anfange seiner botanischen
Studien mit den niederen Pflanzenformen beschäftigte. Denn
er hat später bei der Konzeption seiner Idee der Urpflanze
nur die höheren Pflanzen berücksichtigt. Dies kann
also nicht davon herrühren, daß ihm das Gebiet der
niederen fremd war, sondern davon, daß er die Geheimnisse
der Pflanzennatur an den höheren deutlicher
ausgeprägt glaubte. Er wollte die Idee der Natur da
aufsuchen, wo sie sich am klarsten offenbart und dann von dem
Vollkommenen zum Unvollkommenen herabsteigen, um dieses aus
jenem zu begreifen. Nicht das Zusammengesetzte wollte er durch
das Einfache erklären; sondern jenes mit einem
Blick als wirkendes Ganzes überschauen und dann das
Einfache und Unvollkommene als einseitige Ausbildung des
Zusammengesetzten und Vollkommenen erklären. Wenn die
Natur fähig ist, nach unzähligen Pflanzenformen noch
eine zu machen, die sie alle enthält, so muß auch dem
Geiste beim Anschauen dieser vollkommenen Form das Geheimnis
der Pflanzenbildung in unmittelbarer Anschauung aufgehen, und
er wird dann leicht das an dem Vollkommenen Beobachtete auf das
Unvollkommene anwenden können. Umgekehrt machen es die
Naturforscher, die das Vollkommene nur als eine mechanische
Summe der einfachen Vorgänge ansehen. Sie gehen von diesem
Einfachen aus und leiten das Vollkommene von demselben ab.
Als
sich Goethe nach einem wissenschaftlichen Führer für
seine botanischen Studien umsah, konnte er keinen andern finden
als Linné. Wir erfahren von seiner
Beschäftigung mit Linné zuerst aus den Briefen an
Frau von Stein vom Jahre 1782. Wie ernst es Goethe mit seinen
naturwissenschaftlichen Bestrebungen war, geht aus dem
Interesse hervor, das er an Linnés Schriften genommen hat.
Er gesteht, daß nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die
größte Wirkung von Linné ausgegangen ist. Aber
wie wenig konnte ihn Linné befriedigen. Goethe wollte die
verschiedenen Pflanzenformen beobachten, um das Gemeinsame, das
in ihnen lebt, zu erkennen. Er wollte wissen, was alle diese
Gebilde zu Pflanzen macht. Und Linné hatte sich damit
begnügt, die mannigfaltigsten Pflanzenformen in einer
bestimmten Ordnung nebeneinander zu stellen und zu beschreiben.
Hier stieß Goethes naive, unbefangene Naturbeobachtung in
einem einzelnen Falle auf die durch einseitig aufgefaßten
Platonismus beeinflußte Denkweise der Wissenschaft. Diese
Denkweise sieht in den einzelnen Formen Verwirklichungen
ursprünglicher, nebeneinander bestehender, platonischer
Ideen oder Schöpfungsgedanken. Goethe sieht in dem
einzelnen Gebilde nur eine besondere Ausgestaltung eines
ideellen Urwesens, das in allen Formen lebt. Jene Denkweise
will möglichst genau die einzelnen Formen unterscheiden,
um die Vielgliedrigkeit der Ideenformen oder des
Schöpfungsplanes zu erkennen; Goethe will die
Vielgliedrigkeit des Besonderen aus der ursprünglichen
Einheit erklären. Daß vieles in mannigfaltigen Formen
da ist, ist für jene Denkungsart ohne weiteres klar, denn
schon die idealen Urbilder sind für sie das Mannigfaltige.
Für Goethe ist das nicht klar, denn das Viele gehört
nach seiner Ansicht nur zusammen, wenn sich Eines darin
offenbart. Goethe sagt deshalb, was Linné «mit Gewalt
auseinander zu halten suchte, mußte nach dem innersten
Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben».
Linné nimmt die vorhandenen Formen einfach hin, ohne
danach zu fragen, wie sie aus einer Grundform geworden sind:
«Spezies zählen wir so viele, als verschiedene Formen
im Prinzip geschaffen worden sind »: dies ist sein
Grundsatz. Goethe sucht im Pflanzenreich das Wirksame, das
durch Spezifizierung der Grundform das Einzelne schafft.
Ein
naiveres Verhältnis zur Pflanzenwelt als bei Linné
fand Goethe bei Rousseau. Am i6. Juni 1782 schreibt er an Karl
August: «In Rousseaus Werken finden sich ganz allerliebste
Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf
das faßlichste und zierlichste einer Dame vorträgt.
Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und eine
Beilage zum Emil. Ich nehme daher Anlaß, das schöne
Reich der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs neue zu
empfehlen.» In seiner «Geschichte meines botanischen
Studiums»legt Goethe dar, was ihn zu Rousseaus botanischen
Ideen hingezogen hat: «Sein Verhältnis zu
Pflanzenfreunden und -kennern, besonders zu der Herzogin von
Portland, mag seinen Scharfblick mehr in die Breite gewiesen
haben, und ein Geist wie der seinige, der den Nationen Ordnung
und Gesetz vorzuschreiben sich berufen fühlt, mußte
doch zur Vermutung gelangen, daß in dem
unermeßlichen Pflanzenreiche keine so große
Mannigfaltigkeit der Formen erscheinen könnte, ohne
daß ein Grundgesetz, es sei auch noch so verborgen, sie
wieder sämtlich zur Einheit
zurückbrächte.» Ein solches Grundgesetz, das
die Mannigfaltigkeit zur Einheit zurückbringt, von der sie
ursprünglich ausgegangen ist, sucht auch Goethe.
Zwei Schriften vom Freiherrn von Gleichen, genannt
Rußwurm, fielen damals in Goethes geistigen Horizont. Sie
behandeln beide das Leben der Pflanze in einer Weise, die
für ihn fruchtbar werden konnte: «Das Neueste aus dem
Reiche der Pflanzen»(Nürnberg 1764) und
«Auserlesene mikroskopische Entdeckungen bei den
Pflanzen» (Nürnberg 1777-1781). Sie beschäftigen
sich mit den Befruchtungsvorgängen der Pflanzen.
Blütenstaub, Staubfäden und Stempel sind in ihnen
sorgfältig beschrieben, und in gut ausgeführten
Tafeln die Vorgänge bei der Befruchtung dargestellt.
Goethe macht nun selbst Versuche, um die von
Gleichen-Rußwurm beschriebenen Ergebnisse mit eigenen
Augen zu beobachten. Er schreibt am 12. Januar 1785 an Jacobi:
«Ein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des v.
Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingseintritt
nachzubeobachten und zu kontrollieren.» Zur selben Zeit
studiert er die Wesenheit des Samens, wie aus einem Bericht an
Knebel vom 2. April 1785 hervorgeht: «Die Materie vom
Samen habe ich durchgedacht, so weit meine Erfahrungen
reichen.» Diese Beobachtungen Goethes erscheinen erst im
rechten Lichte, wenn man berücksichtigt, daß er schon
dazumal nicht bei ihnen stehen geblieben ist, sondern eine
Gesamtanschauung der Naturvorgänge zu gewinnen suchte, der
sie zur Stütze und Bekräftigung dienen sollten. Am 8.
April desselben Jahres meldet er Merck, daß er nicht nur
Tatsachen beobachtet, sondern auch «hübsche
Kombinationen» über diese Tatsachen gemacht
habe.
*
Von
wesentlichem Einfluß auf die Ausbildung der Ideen Goethes
über organische Naturwirkungen war der Anteil, den er an
Lavaters großem Werke: «Physiognomische Fragmente zur
Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe»
nahm, das in den Jahren 1775-1778 erschienen ist. Er hat selbst
Beiträge zu diesem Werke geliefert. In der Art, wie er
sich in diesen Beiträgen ausspricht, ist seine
spätere Weise, das Organische anzusehen, schon
vorgebildet. Lavater blieb dabei stehen, die Gestalt des
menschlichen Organismus als Ausdruck der Seele zu behandeln. Er
wollte aus den Formen der Körper die Charaktere der Seelen
deuten. Goethe fing bereits damals an, die äußere
Gestalt um ihrer selbst willen zu betrachten, ihre eigene
Gesetzmäßigkeit und Bildungskraft zu studieren. Er
beschäftigt sich zugleich mit den Schriften des
Aristoteles über die Physiognomik und versucht es, auf
Grundlage des Studiums der organischen Gestalt, den Unterschied
des Menschen von den Tieren festzustellen. Er findet diesen in
dem durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten
Hervortreten des Kopfes, in der vollkommenen Ausbildung des
menschlichen Gehirns, zu dem alle Teile wie zu einem Organ
hindeuten, auf das sie gestimmt sind. Im Gegenteil ist bei dem
Tiere der Kopf an den Rückgrat bloß angehängt,
das Gehirn, das Rückenmark haben nicht mehr Umfang als zur
Auswirkung der untergeordneten Lebensgeister und zur Leitung
der bloß sinnlichen Verrichtungen unbedingt notwendig ist.
Goethe sucht schon damals den Unterschied des Menschen von den
Tieren nicht in irgend einem einzelnen, sondern in dem
verschiedenen Grade der Vollkommenheit, den das gleiche
Grundgebilde in dem einen oder anderen Falle erreicht. Es
schwebt ihm bereits das Bild eines Typus vor, der sowohl bei
den Tieren wie beim Menschen sich findet, der bei den ersteren
so ausgebildet ist, daß der ganze Bau den animalischen
Funktionen dient, während bei letzterem der Bau das
Grundgerüste für die Entwicklung des Geistes abgibt.
Aus solchen Betrachtungen heraus erwächst Goethes
Spezialstudium der Anatomie. Am 22. Januar 1776 berichtet er an
Lavater: «Der Herzog hat mir sechs Schädel kommen
lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer
Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht
ohne mich fanden.» Im Tagebuche Goethes lesen wir unter
dem i Oktober 1781, daß er in Jena mit dem alten Einsiedel
Anatomie trieb und in demselben Jahre fing er an, sich von
Loder in diese Wissenschaft genauer einführen zu lassen.
Er erzählt davon in Briefen an Frau von Stein vom 29.
Oktober 1781 und an den Herzog vom 4. November. Er hat auch die
Absicht, den jungen Leuten an der Zeichenakademie «das
Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis des menschlichen
Körpers anzuführen». - «Ich tue es»,
sagt er, «um meinet- und ihretwillen; die Methode, die ich
gewählt habe, wird sie diesen Winter über völlig
mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen.
» Er hat, wie aus dem Tagebuch zu ersehen, diese
Vorlesungen auch gehalten. Auch mit Loder hat er in dieser Zeit
über den Bau des menschlichen Körpers manches
Gespräch geführt. Und wieder ist es seine allgemeine
Naturansicht, die als treibende Kraft und als eigentliches Ziel
dieser Studien erscheint. Er behandelt die« Knochen als
einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche
anhängen läßt» (Briefe an Lavater und Merck
vom 14. November 1781). Vorstellungen über das Wirken des
Organischen, über den Zusammenhang der menschlichen
Bildung mit der tierischen beschäftigen damals seinen
Geist. Daß der menschliche Bau nur die höchste Stufe
des tierischen ist, und daß er durch diesen vollkommeneren
Grad des Tierischen die sittliche Welt aus sich hervorbringt,
ist eine Idee, die bereits in der Ode «das Göttliche
»vom Jahre 1782 niedergelegt ist.
Edel
sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.- - - -
Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen Müssen wir alle
Unsers Daseins
Kreise vollenden.
Die
«ewigen, ehrnen Gesetze» wirken im Menschen gerade so
wie in der übrigen Organismenwelt; sie erreichen in ihm
nur eine Vollkommenheit, durch die es ihm möglich ist,
«edel, hilfreich und gut» zu sein.
Während in Goethe sich solche Ideen immer mehr
festsetzten, arbeitete Herder an seinen «Ideen zu einer
Philosophie der Geschichte der Menschheit». Alle Gedanken
dieses Buches wurden von den beiden durchgesprochen. Goethe war
von Herders Auffassung der Natur befriedigt. Sie fiel mit
seinen eigenen Vorstellungen zusammen. «Herders Schrift
macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere
waren... Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen
Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen
ist, wird äußerst interessant», schreibt am 1.
Mai 1784 Frau von Stein an Knebel. Wie sehr man berechtigt ist,
von Herders Ideen auf die Goethes zu schließen, zeigen die
Worte, die Goethe am 8. Dez. 1783 an Knebel richtet:
«Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte, wie Du
Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben
wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind köstlich.»
Sätze wie die folgenden liegen ganz in Goethes
Denkrichtung. «Das Menschengeschlecht ist der große
Zusammenfluß niederer organischer Kräfte.»
« Und so können wir den vierten Satz annehmen:
daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den
Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Zuge
aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff
sammeln.»
Mit
solchen Vorstellungen war allerdings die Ansicht der damaligen
Anatomen nicht zu vereinigen, daß der kleine Knochen, den
die Tiere in der oberen Kinnlade haben, der Zwischenkiefer, der
die oberen Schneidezähne enthält, dem Menschen fehle.
Sömmering, einer der bedeutendsten Anatomen der damaligen
Zeit, schrieb am 8. Oktober 1782 an Merck: «Ich
wünschte, daß Sie Blumenbach nachsähen, wegen
des ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der einzige
Knochen ist, den alle Tiere vom Affen an, selbst der
Orang-Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie
beim Menschen findet; wenn Sie diesen Knochen abrechnen, so
fehlt Ihnen nichts, um nicht alles vom Menschen auf die Tiere
transferieren zu können. Ich lege deshalb einen Kopf von
einer Hirschkuh bei, um Sie zu überzeugen, daß
dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach) oder os incisivum
(wie es Camper nennt) selbst bei Tieren vorhanden ist, die
keine Schneidezähne in der oberen Kinnlade haben.»
Das war die allgemeine Meinung der Zeit. Auch der berühmte
Camper, für den Merck und Goethe die innigste Verehrung
hatten, bekannte sich zu ihr. Der Umstand, daß der
Zwischenknochen beim Menschen links und rechts mit den
Oberkieferknochen verwachsen ist, ohne daß bei einem
normal gebildeten Individuum eine deutliche Grenze zu sehen
ist, hat zu dieser Ansicht geführt. Hätten die
Gelehrten recht gehabt mit derselben, dann wäre es
unmöglich, ein gemeinsames Urbild für den Bau des
tierischen und menschlichen Organismus aufzustellen; eine
Grenze zwischen den beiden Formen müßte angenommen
werden. Der Mensch wäre nicht nach dem Urbilde geschaffen,
das auch den Tieren zu Grunde liegt. Dieses Hindernis seiner
Weltanschauung mußte Goethe hinwegräumen. Es gelang
ihm im Frühling 1784 in Gemeinschaft mit Loder. Nach
seinem allgemeinen Grundsatze, «daß die Natur kein
Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen
Beobachter nackt vor die Augen stellt», ging Goethe vor.
Er fand bei einzelnen abnorm gebildeten Schädeln die
Grenze zwischen Ober- und Zwischenkiefer wirklich vorhanden.
Freudig berichtet er von dem Fund am 27. März an Herder
und Frau von Stein. An Herder schreibt er: «Es soll Dich
auch herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein
zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich
habe mirs auch in Verbindung mit Deinem Ganzen gedacht, wie
schön es da wird.» Und als Goethe die Abhandlung, die
er über die Sache geschrieben hat, im November 1784 an
Knebel schickt, deutet er die Bedeutung, die er der Entdeckung
für seine ganze Vorstellungswelt beilegt, mit den Worten
an: «Ich habe mich enthalten, das Resultat, worauf schon
Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzt merken zu lassen,
daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom
Tier in nichts einzelnem finden könne.» Goethe
konnte erst Vertrauen zu seiner Naturansicht gewinnen, als die
irrtümliche Ansicht über das fatale Knöchelchen
beseitigt war. Er gewann allmählich den Mut, seine Ideen
über die Art, wie die Natur, mit einer Hauptform
gleichsam spielend, das mannigfaltige Leben hervorbringt,
«auf alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich
auszudehnen». In diesem Sinne schreibt er im Jahre 1786 an
Frau von Stein.
Immer lesbarer wird Goethe das Buch der Natur, nachdem er den
einen Buchstaben richtig entziffert hat. «Mein langes
Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt wirkts auf einmal und
meine stille Freude ist unaussprechlich», schreibt er der
Frau von Stein am 15. Mai 1785. Er hält sich jetzt auch
bereits für fähig, eine kleine botanische Abhandlung
für Knebel zu schreiben. Die Reise, die er 1785 nach
Karlsbad mit diesem zusammen unternimmt, wird zu einer
förmlichen botanischen Studienreise. Nach der
Rückkehr werden mit Hilfe Linnés die Reiche der
Pilze, Moose, Flechten und Algen durchgegangen. Er teilt am 9.
November der Frau von Stein mit: «Ich lese Linné
fort, denn ich muß wohl, ich habe kein anderes Buch. Es
ist das die beste Art, ein Buch gewiß zu lesen, die ich
öfters praktizieren muß, besonders da ich nicht
leicht ein Buch auslese. Dieses ist aber vorzüglich nicht
zum Lesen, sondern zum Rekapitulieren gemacht und tut mir nun
treffliche Dienste, da ich über die meisten Punkte selbst
gedacht habe.» Während dieser Studien bekommt auch
die Grundform, aus welcher die Natur alle mannigfaltigen
Pflanzengebilde herausarbeitet, einzelne, wenn auch noch nicht
deutliche Umrisse in seinem Geiste. In einem Briefe an die Frau
von Stein vom 9. Juli 1786 sind die Worte enthalten: «Es
ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur
gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben
hervorbringt.» Im April und Mai 1786 beobachtete Goethe
durch das Mikroskop die niederen Organismen, die sich in
Aufgüssen verschiedener Substanzen (Pisangmark, Kaktus,
Trüffeln, Pfefferkörnern, Tee, Bier usw.) entwickeln.
Er notiert sorgfältig die Vorgänge, die er an diesen
Lebewesen beobachtet und verfertigt Zeichnungen dieser
organischen Formen (vgl. Goethes naturwissenschaftliche
Schriften in der Sophien-Ausgabe, 2. Abteilung, Band 7,
S.289-309). Man kann auch aus diesen Notizen ersehen, daß
Goethe der Erkenntnis des Lebens nicht durch solche
Beobachtung niederer und einfacher Organismen näher zu
kommen sucht. Es ist ganz offenbar, daß er die
wesentlichen Züge der Lebensvorgänge an den
höheren Organismen ebenso zu erfassen glaubt, wie an den
niederen. Er ist der Ansicht, daß sich an dem
Infusionstierchen dieselbe Art von Gesetzmäßigkeit
wiederholt, die das Auge des Geistes an dem Hund wahrnimmt. Die
Beobachtung durch das Mikroskop lehrt nur Vorgänge kennen,
die im Kleinen das sind, was das unbewaffnete Auge im
Großen sieht. Sie bietet eine Bereicherung der sinnlichen
Erfahrung. Einer höheren Art des Anschauens, nicht
einer Verfolgung der den Sinnen zugänglichen Vorgänge
bis in ihre kleinsten Bestandteile, offenbart sich das Wesen
des Lebens. Goethe sucht dieses Wesen durch die Betrachtung der
höheren Pflanzen und Tiere zu erkennen. Er würde
diese Erkenntnis ohne Zweifel in derselben Weise gesucht haben,
auch wenn zu seiner Zeit die Pflanzen- und Tieranatomie schon
ebenso weit vorgeschritten gewesen wäre, wie sie
gegenwärtig ist. Wenn Goethe die Zellen, aus denen sich
der Pflanzen- und Tierkörper aufbaut, hätte
beobachten können, so würde er erklärt haben,
daß sich an diesen elementaren organischen Formen dieselbe
Gesetzmäßigkeit zeigt, die auch am Zusammengesetzten
wahrzunehmen ist. Er hätte sich durch dieselben Ideen,
durch die er sich die Lebensvorgänge der höheren
Organismen erklärte, auch die Erscheinungen an diesen
kleinen Wesen begreiflich gemacht.
Den
lösenden Gedanken des Rätsels, das ihm die organische
Bildung und Umbildung aufgegeben hat, findet Goethe erst in
Italien. Am 3. September verläßt er Karlsbad, um nach
dem Süden zu gehen. In wenigen, aber bedeutsamen
Sätzen schildert er in seiner «Geschichte meines
botanischen Studiums » (Kürschner, Band 33, S. 61
ff.) die Gedanken, welche die Beobachtung der Pflanzenwelt in
ihm aufregt bis zu dem Augenblicke, da ihm in Sizilien eine
klare Vorstellung darüber sich offenbart, wie es
möglich ist, daß den Pflanzenformen «bei einer
eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit
eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen
ist, um in so viele Bedingungen, die über dem Erdkreis auf
sie einwirken, sich zu fügen und darnach bilden und
umbilden zu können». Beim Übergang über die
Alpen, im botanischen Garten von Padua und an anderen Orten
zeigte sich ihm das «Wechselhafte der
Pflanzengestalten». «Wenn in der tiefern Gegend
Zweige und Stengel stärker und mastiger waren, die Augen
näher aneinander standen und die Blätter breit waren,
so wurden höher ins Gebirge hinauf Zweige und Stengel
zarter, die Augen rückten auseinander, so daß von
Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum stattfand
und die Blätter sich lanzenförmiger bildeten. Ich
bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und
überzeugte mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten
wären. Auch am Walchensee bemerkte ich längere und
schlankere Binsen, als im Unterland» (Italienische Reise,
8. Sept.). Am 8. Oktober findet er in Venedig am Meere
verschiedene Pflanzen, an denen ihm die Wechselbeziehung des
Organischen zu seiner Umgebung besonders anschaulich wird.
«Sie sind alle zugleich mastig und streng, saftig und
zäh, und es ist offenbar, daß das alte Salz des
Sandbodens, mehr aber die salzige Luft ihnen diese
Eigenschaften gibt; sie strotzen von Säften wie
Wasserpflanzen, sie sind fest und zäh wie Bergpflanzen;
wenn ihre Blätterenden eine Neigung zu Stacheln haben, wie
Disteln tun, sind sie gewaltig spitz und stark. Ich fand einen
solchen Busch Blätter; es schien mir unser unschuldiger
Huflattig, hier aber mit scharfen Waffen bewaffnet, und das
Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die Stiele, alles
mastig und fett» (Italienische Reise). Im botanischen
Garten zu Padua bekommt der Gedanke in Goethes Geiste eine
bestimmtere Gestalt, wie man sich alle Pflanzengestalten
vielleicht aus einer entwickeln könne (Italienische
Reise, 27. Sept.); im November teilt er Knebel mit: «So
freut mich doch mein bißchen Botanik erst recht in diesen
Landen, wo eine frohere, weniger unterbrochene Vegetation zu
Hause ist. Ich habe schon recht artige, ins allgemeine gehende
Bemerkungen gemacht, die auch Dir in der Folge angenehm sein
werden.» Am 25. März 1787 kommt ihm eine «gute
Erleuchtung über botanische Gegenstände». Er
bittet Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald
zustande sei. Nur fürchtet er, «daß niemand die
übrige Pflanzenwelt darin wird erkennen wollen »
(Italienische Reise). Am ,7. April geht er mit dem
«festen, ruhigen Vorsatz, seine dichterischen Träume
fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten». Allein
ehe er sichs versieht, erhascht ihn das Pflanzenwesen wie ein
Gespenst. «Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in
Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des
Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen
hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre
Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher.
Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes, fiel mir
die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser Schar
die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es
denn doch geben! woran würde ich sonst erkennen, daß
dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle
nach einem Muster gebildet wären.» Er bemüht
sich, die abweichenden Gestalten zu unterscheiden, aber immer
wieder werden seine Gedanken zu dem einen Urbild, das
ihnen allen zu Grunde liegt, hingelenkt (Italienische Reise, 7.
April 1787). Goethe legt sich ein botanisches Tagebuch an, in
dem er alle während der Reise über das Pflanzenreich
gemachten Erfahrungen und Reflexionen einzeichnet (vgl.
Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 7, S.273 ff.). Diese
Tagebuchblätter zeigen, wie unermüdlich er damit
beschäftigt ist, Pflanzenexemplare ausfindig zu machen,
die geeignet sind, auf die Gesetze des Wachstums und der
Fortpflanzung hinzuleiten. Glaubt er irgend einem Gesetze auf
der Spur zu sein, so stellt er es zunächst in
hypothetischer Form auf, um es sich dann im Verlauf seiner
weiteren Erfahrungen bestätigen zu lassen. Die
Vorgänge der Keimung, der Befruchtung, des Wachstums
notiert er sorgfältig. Daß das Blatt das Grundorgan
der Pflanze ist, und daß die Formen aller übrigen
Pflanzenorgane am besten zu verstehen sind, wenn man sie als
umgewandelte Blätter betrachtet, leuchtet ihm immer mehr
ein. Er schreibt in das Tagebuch: «Hypothese: Alles ist
Blatt und durch diese Einfachheit wird die größte
Mannigfaltigkeit möglich.» Und am ,7. Mai teilt er
Herder mit: « Ferner muß ich Dir vertrauen, daß
ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz
nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht
werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten
Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe
ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige sehe
ich auch schon im Ganzen und nur einige Punkte müssen
bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste
Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst
beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu
kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche erfinden, die
konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch
nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht etwa
malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern
eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe
Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden
lassen..... «Vorwärts und rückwärts ist die
Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so
unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht
denken darf Einen solchen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn
in der Natur aufzufinden, ist eine Aufgabe, die uns in einen
peinlich süßen Zustand versetzt» (Italienische
Reise).
*
Goethe nimmt zur Erklärung der Lebenserscheinungen einen
Weg, der gänzlich verschieden ist von denen, welche die
Naturforscher gewöhnlich gehen. Diese scheiden sich in
zwei Parteien. Es gibt Verteidiger einer in den organischen
Wesen wirkenden Lebenskraft, die gegenüber anderen
Naturursachen eine besondere, höhere Kräfteform
darstellt. Wie es Schwerkraft, chemische Anziehung und
Abstoßung, Magnetismus usw. gibt, so soll es auch eine
Lebenskraft geben, welche die Stoffe des Organismus in eine
solche Wechselwirkung bringt, daß dieser sich erhalten,
wachsen, nähren und fortpflanzen kann. Die Naturforscher,
welche dieser Meinung sind, sagen: in dem Organismus wirken
dieselben Kräfte wie in der übrigen Natur; aber sie
wirken nicht wie in einer leblosen Maschine. Sie werden von der
Lebenskraft gleichsam eingefangen und auf eine höhere
Stufe des Wirkens gehoben. Den Bekennern dieser Meinung stehen
andere Naturforscher gegenüber, welche glauben, daß
in den Organismen keine besondere Lebenskraft wirke. Sie halten
die Lebenserscheinungen für komplizierte chemische und
physikalische Vorgänge und geben sich der Hoffnung hin,
daß es einst vielleicht gelingen werde, einen Organismus
ebenso durch Zurückführung auf unorganische
Kraftwirkungen zu erklären wie eine Maschine. Die erste
Ansicht wird als Vitalismus, die andere als Mechanismus
bezeichnet. Von beiden ist die Goethesche Auffassungsweise
durchaus verschieden. Daß in dem Organismus noch etwas
anderes wirksam ist, als die Kräfte der unorganischen
Natur, erscheint ihm selbstverständlich. Zur mechanischen
Auffassung der Lebenserscheinungen kann er sich nicht bekennen.
Ebensowenig sucht er, um die Wirkungen im Organismus zu
erklären, nach einer besonderen Lebenskraft. Er ist
überzeugt, daß zur Erfassung der Lebensvorgänge
eine Anschauung gehört, die anderer Art ist als diejenige,
durch welche die Erscheinungen der unorganischen Natur
wahrgenommen werden. Wer zur Annahme einer Lebenskraft sich
entschließt, der sieht zwar ein, daß die organischen
Wirkungen nicht mechanisch sind, aber es fehlt ihm zugleich die
Fähigkeit, jene andere Art der Anschauung in sich
auszubilden, durch die ihm das Organische erkennbar werden
könnte. Die Vorstellung der Lebenskraft bleibt dunkel und
unbestimmt. Ein neuerer Anhänger des Vitalismus, Gustav
Bunge, meint: «In der kleinsten Zelle - da stecken schon
alle Rätsel des Lebens drin, und bei der Erforschung der
kleinsten Zelle - da sind wir mit den bisherigen Hilfsmitteln
bereits an der Grenze angelangt» («Vitalismus und
Mechanismus», Leipzig 1886, S. 7). Es ist durchaus im
Sinne der Goetheschen Denkweise, darauf zu antworten: Dasjenige
Anschauungsvermögen, welches nur das Wesen der
unorganischen Erscheinungen erkennt, ist mit seinen
Hilfsmitteln an der Grenze angelangt, die überschritten
werden muß, um das Lebendige zu erfassen. Dieses
Anschauungsvermögen wird aber nie innerhalb seines
Bereiches Mittel finden, die zur Erklärung des Lebens auch
nur der kleinsten Zelle geeignet sein können. Wie zur
Wahrnehmung der Farbenerscheinungen das Auge gehört, so
gehört zur Auffassung des Lebens die Fähigkeit, in
dem Sinnlichen ein Übersinnliches unmittelbar anzuschauen.
Dieses Übersinnliche wird demjenigen immer
entschlüpfen, der nur die Sinne auf die organischen Formen
richtet. Goethe sucht die sinnliche Anschauung der
Pflanzengestalten auf eine höhere Art zu beleben und sich
die sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze
vorzustellen (vgl.« Geschichte meines botanischen
Studiums»in Kürschner, Band 33, S.80). Der Vitalist
nimmt seine Zuflucht zu dem inhaltleeren Begriff der
Lebenskraft, weil er das, was seine Sinne im Organismus
nicht wahrnehmen können, überhaupt nicht sieht.
Goethe sieht das Sinnliche von einem Übersinnlichen so
durchdrungen, wie eine gefärbte Fläche von der Farbe.
Die Anhänger des Mechanismus sind der Ansicht, daß es
einmal gelingen könne, lebende Substanzen auf
künstlichem Wege aus unorganischen Stoffen herzustellen.
Sie sagen, vor noch nicht vielen Jahren wurde behauptet,
daß es im Organismus Substanzen gebe, die nicht auf
künstlichem Wege, sondern nur durch die Wirkung der
Lebenskraft entstehen können. Gegenwärtig ist man
bereits imstande, einige dieser Substanzen künstlich im
Laboratorium zu erzeugen. Ebenso könne es dereinst
möglich sein, aus Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und
Salzen ein lebendiges Eiweiß herzustellen, welches die
Grundsubstanz der einfachsten Organismen ist. Dann, meinen die
Mechanisten, werde unbestreitbar erwiesen sein, daß Leben
nichts weiter ist, als eine Kombination unorganischer
Vorgänge, der Organismus nichts weiter als eine auf
natürlichem Wege entstandene Maschine.
Vom
Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung ist darauf zu
erwidern: die Mechanisten sprechen ineiner Weise von Stoffen
und Kräften, die durch keine Erfahrung gerechtfertigt ist.
Und man hat sich an diese Weise zu sprechen so gewöhnt,
daß es sehr schwer wird, diesen Begriffen gegenüber
die reinen Aussprüche der Erfahrung geltend zu machen. Man
betrachte aber doch einen Vorgang der Außenwelt
unbefangen. Man nehme ein Quantum Wasser von einer bestimmten
Temperatur. Wodurch weiß man etwas von diesem Wasser? Man
sieht es an und bemerkt, daß es einen Raum einnimmt und
zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen ist. Man steckt den
Finger oder ein Thermometer hinein, und findet es mit einem
bestimmten Grade von Wärme behaftet. Man drückt gegen
seine Oberfläche und erfährt, daß es
flüssig ist. Das sind Aussprüche, welche die Sinne
über den Zustand des Wassers machen. Nun erhitze man das
Wasser. Es wird sieden und zuletzt sich in Dampf verwandeln.
Wieder kann man sich durch die Wahrnehmung der Sinne von den
Beschaffenheiten des Körpers, des Dampfes, in den sich das
Wasser verwandelt hat, Kenntnis verschaffen. Statt das Wasser
zu erhitzen, kann man es dem elektrischen Strom unter gewissen
Bedingungen aussetzen. Es verwandelt sich in zwei Körper,
Wasserstoff und Sauerstoff. Auch über die Beschaffenheit
dieser beiden Körper kann man sich durch die Aussagen der
Sinne belehren. Man nimmt also in der Körperwelt
Zustände wahr und beobachtet zugleich, daß diese
Zustände unter gewissen Bedingungen in andere
übergehen. Über die Zustände unterrichten die
Sinne. Wenn man noch von etwas anderem als von Zuständen,
die sich verwandeln, spricht, so beschränkt man sich nicht
mehr auf den reinen Tatbestand, sondern man fügt zu
demselben Begriffe hinzu. Sagt man, der Sauerstoff und der
Wasserstoff, die sich durch den elektrischen Strom aus dem
Wasser entwickelt haben, seien schon im Wasser enthalten
gewesen, nur so innig miteinander verbunden, daß sie in
ihrer Selbständigkeit nicht wahrzunehmen waren, so hat man
zu der Wahrnehmung einen Begriff hinzugefügt, durch den
man sich das Hervorgehen der beiden Körper aus dem einen
erklärt. Und wenn man weitergeht und behauptet, Sauerstoff
und Wasserstoff seien Stoffe, was man schon durch die Namen
tut, die man ihnen beilegt, so hat man ebenfalls zu dem
Wahrgenommenen einen Begriff hinzugefügt. Denn
tatsächlich ist in dem Raume, der vom Sauerstoff
eingenommen wird, nur eine Summe von Zuständen
wahrzunehmen. Zu diesen Zuständen denkt man den Stoff
hinzu, an dem sie haften sollen. Was man von dem Sauerstoff und
dem Wasserstoff in dem Wasser schon vorhanden denkt, das
Stoffliche, ist ein Gedachtes, das zu dem Wahmehmungsinhalt
hinzugefügt ist. Wenn man Wasserstoff und Sauerstoff durch
einen chemischen Prozeß zu Wasser vereinigt, so kann man
beobachten, daß eine Summe von Zuständen in eine
andere übergeht. Wenn man sagt: es haben sich zwei
einfache Stoffe zu einem zusammengesetzten vereinigt, so hat
man eine begriffliche Auslegung des Beobachtungsinhaltes
versucht. Die Vorstellung« Stoff» erhält ihren
Inhalt nicht aus der Wahrnehmung, sondern aus dem Denken. Ein
ähnliches wie vom «Stoffe» gilt von der
«Kraft». Man sieht einen Stein zur Erde fallen. Was
ist der Inhalt der Wahrnehmung? Eine Summe von
Sinneseindrücken, Zuständen, die an
aufeinanderfolgenden Orten auftreten. Man sucht sich diese
Veränderung in der Sinnenwelt zu erklären, und sagt:
die Erde ziehe den Stein an. Sie habe eine «Kraft»,
durch die sie ihn zu sich hinzwingt. Wieder hat unser Geist
eine Vorstellung zu dem Tatbestande hinzugefügt und
derselben einen Inhalt gegeben, der nicht aus der Wahrnehmung
stammt. Nicht Stoffe und Kräfte nimmt man wahr, sondern
Zustände und deren Übergänge in einander. Man
erklärt sich diese Zustandsänderungen durch
Hinzufügung von Begriffen zu den Wahrnehmungen.
Man
nehme einmal an, es gebe ein Wesen, das Sauerstoff und
Wasserstoff wahrnehmen könnte, nicht aber Wasser. Wenn wir
vor den Augen eines solchen Wesens den Sauerstoff und
Wasserstoff zu Wasser vereinigten, so verschwänden vor ihm
die Zustände, die es an den beiden Stoffen wahrgenommen
hat, in nichts. Wenn wir ihm nun die Zustände auch
beschrieben, die wir am Wasser wahrnehmen: es könnte sich
von ihnen keine Vorstellung machen. Das beweist, daß in
den Wahrnehmungsinhalten des Sauerstoffes nichts liegt, aus dem
der Wahrnehmungsinhalt Wasser abzuleiten ist. Ein Ding besteht
aus zwei oder mehreren anderen, heißt: es haben sich zwei
oder mehrere Wahrnehmungsinhalte in einen
zusammenhängenden, aber den ersteren gegenüber
durchaus neuen, verwandelt.
Was
wäre also erreicht, wenn es gelänge,
Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und Salze künstlich zu
einer lebenden Eiweißsubstanz im Laboratorium zu
vereinigen? Man wüßte, daß die
Wahrnehmungsinhalte der vielerlei Stoffe sich zu einem
Wahmehmungsinhalt vereinigen können. Aber dieser
Wahmehmungsinhalt ist aus jenen durchaus nicht abzuleiten. Der
Zustand des lebenden Eiweißes kann nur an diesem selbst
beobachtet, nicht aus den Zuständen der Kohlensäure,
des Ammoniaks, des Wassers und der Salze herausentwickelt
werden. Im Organismus hat man etwas von den unorganischen
Bestandteilen, aus denen er aufgebaut werden kann, völlig
verschiedenes vor sich. Die sinnlichen Wahrnehmungsinhalte
verwandeln sich bei der Entstehung des Lebewesens in
sinnlich-übersinnliche. Und wer nicht die Fähigkeit
hat, sich sinnlich-übersinnliche Vorstellungen zu machen,
der kann von dem Wesen eines Organismus ebensowenig etwas
wissen, wie jemand vom Wasser etwas erfahren könnte, wenn
ihm die sinnliche Wahrnehmung desselben unzugänglich
wäre.
*
Die
Keimung, das Wachstum, die Umwandlung der Organe, die
Ernährung und Fortpflanzung des Organismus sich als
sinnlich-übersinnlichen Vorgang vorzustellen, war Goethes
Bestreben bei seinen Studien über die Pflanzen- und die
Tierwelt. Er bemerkte, daß dieser
sinnlich-übersinnliche Vorgang in der Idee bei
allen Pflanzen derselbe ist, und daß er nur in der
äußeren Erscheinung verschiedene Formen
annimmt. Dasselbe konnte Goethe für die Tierwelt
feststellen. Hat man die Idee der sinnlich-übersinnlichen
Urpflanze in sich ausgebildet, so wird man sie in allen
einzelnen Pflanzenformen wiederfinden. Die Mannigfaltigkeit
entsteht dadurch, daß das der Idee nach Gleiche in der
Wahrnehmungswelt in verschiedenen Gestalten existieren kann.
Der einzelne Organismus besteht aus Organen, die auf ein
Grundorgan zurückzuführen sind. Das Grundorgan der
Pflanze ist das Blatt mit dem Knoten, an dem es sich
entwickelt. Dieses Organ nimmt in der äußeren
Erscheinung verschiedene Gestalten an: Keimblatt, Laubblatt,
Kelchblatt, Kronenblatt usw. «Es mag nun die Pflanze
sprossen, blühen oder Früchte bringen, so sind es
doch nur immer die selbigen Organe, welche in
vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten
Gestalten die Vorschrift der Natur erfüllen.»
*
Um
ein vollständiges Bild der Urpflanze zu erhalten,
mußte Goethe die Formen im allgemeinen verfolgen, welche
das Grundorgan im Fortgang des Wachstums einer Pflanze von der
Keimung bis zur Samenreife durchmacht. Im Anfang ihrer
Entwicklung ruht die ganze Pflanzengestalt in dem Samen. In
diesem hat die Urpflanze eine Gestalt angenommen, durch die sie
ihren ideellen Inhalt gleichsam in der äußeren
Erscheinung verbirgt.
Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes
Vorbild
Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos
Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,
Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
Kürschner, Band 33, S.105
Aus
dem Samen entwickelt die Pflanze die ersten Organe, die
Kotyledonen, nachdem sie «ihre Hüllen mehr oder
weniger in der Erde» zurückgelassen und «die
Wurzel in den Boden » befestigt hat. Und nun folgt im
weiteren Verlaufe des Wachstums Trieb auf Trieb; Knoten auf
Knoten türmt sich übereinander, und an jedem Knoten
findet sich ein Blatt. Die Blätter erscheinen in
verschiedenen Gestalten. Die unteren noch einfach, die oberen
mannigfach gekerbt, eingeschnitten, aus mehreren Blättchen
zusammengesetzt. Die Urpflanze breitet auf dieser Stufe der
Entwicklung ihren sinnlich-übersinnlichen Inhalt im Raume
als äußere sinnliche Erscheinung aus. Goethe stellt
sich vor, daß die Blätter ihre fortschreitende
Ausbildung und Verfeinerung dem Lichte und der Luft schuldig
sind. «Wenn wir jene in der verschlossenen Samenhülle
erzeugten Kotyledonen, mit einem rohen Safte nur gleichsam
ausgestopft, fast gar nicht oder nur grob organisiert und
ungebildet finden, so zeigen sich uns die Blätter der
Pflanzen, welche unter dem Wasser wachsen, gröber
organisiert als andere, der freien Luft ausgesetzte; ja, sogar
entwickelt die selbige Pflanzenart glättere und weniger
verfeinerte Blätter, wenn sie in tiefen, feuchten Orten
wächst, da sie hingegen, in höhere Gegenden versetzt,
rauhe, mit Haaren versehene, feiner ausgebildete Blätter
hervorbringt.» (Kürschner, Band 33, S.25 f.) In der
zweiten Epoche des Wachstums zieht die Pflanze wieder in einen
engeren Raum zusammen, was sie vorher ausgebreitet hat.
Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die
Gefäße,
Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.
Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder
zurücke,
Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere
Stengel,
Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
Um die Achse gedrängt, entscheidet der bergende Kelch
sich,
Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen
entläßt.
Im
Kelch zieht sich die Pflanzengestalt zusammen; in der
Blumenkrone breitet sie sich wieder aus. Nun folgt die
nächste Zusammenziehung in den Staubgefäßen und
dem Stempel, den Organen der Fortpflanzung. Die Bildungskraft
der Pflanze entwickelte sich in den vorhergehenden
Wachstumsperioden in einerlei Organen als Trieb, das
Grundgebilde zu wiederholen. Dieselbe Kraft verteilt sich auf
dieser Stufe der Zusammenziehung auf zwei Organe. Das Getrennte
sucht sich wieder zusammenzufinden. Dies geschieht im
Befruchtungsvorgang. Der in dem Staubgefäß vorhandene
männliche Blütenstaub vereinigt sich mit der
weiblichen Substanz, die im Stempel enthalten ist; und damit
ist der Keim zu einer neuen Pflanze gegeben. Goethe nennt die
Befruchtung eine geistige Anastomose und sieht in ihr nur eine
andere Form des Vorgangs, der in der Entwicklung von einem
Knoten zum andern stattfindet. «An allen Körpern, die
wir lebendig nennen, bemerken wir die Kraft, ihresgleichen
hervorzubringen. Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden,
bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden
Geschlechter.» (Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 6, S.361.)
Von Knoten zu Knoten bringt die Pflanze ihresgleichen hervor.
Denn Knoten und Blatt sind die einfache Form der Urpflanze. In
dieser Form heißt die Hervorbringung Wachstum. Ist die
Fortpflanzungskraft auf zwei Organe verteilt, so spricht man
von zwei Geschlechtern. Auf diese Weise glaubt Goethe die
Begriffe von Wachstum und Zeugung einander näher
gerückt zu haben. In dem Stadium der Fruchtbildung erlangt
die Pflanze ihre letzte Ausdehnung; in dem Samen erscheint sie
wieder zusammengezogen. In diesen sechs Schritten vollendet die
Natur einen Kreis der Pflanzenentwicklung, und sie beginnt den
ganzen Vorgang wieder von vorne. In dem Samen sieht Goethe nur
eine andere Form des Auges, das sich an den Laubblättern
entwickelt. Die aus den Augen sich entfaltenden Seitenzweige
sind ganze Pflanzen, die, statt in der Erde, auf einer
Mutterpflanze stehen. Die Vorstellung von dem sich stufenweise,
wie auf einer «geistigen Leiter » vom Samen bis zur
Frucht sich umbildenden Grundorgan ist die Idee der Urpflanze.
Gleichsam um die Verwandlungsfähigkeit des Grundorgans
für die sinnliche Anschauung zu beweisen, läßt
die Natur unter gewissen Bedingungen auf einer Stufe statt des
Organs, das nach dem regelmäßigen Wachstumsverlaufe
entstehen sollte, ein anderes sich entwickeln. Bei den
gefüllten Mohnen z. B. treten an der Stelle, wo die
Staubgefäße entstehen sollten, Blumenblätter auf
Das Organ, das der Idee nach zum Staubgefäß
bestimmt war, ist ein Blumenblatt geworden. In dem Organ, das
im regelmäßigen Fortgang der Pflanzenentwicklung eine
bestimmte Form hat, ist die Möglichkeit enthalten, auch
eine andere anzunehmen.
Als
Illustration seiner Idee von der Urpflanze betrachtet Goethe
das Bryophyllum calicinum, die gemeine Keim-Zumpe, eine
Pflanzenart, die von den Molukkeninseln nach Kalkutta und von
da nach Europa gekommen ist. Aus den Kerben der fetten
Blätter dieser Pflanzen entwickeln sich frische
Pflänzchen, die, nach ihrer Ablösung, zu
vollständigen Pflanzen auswachsen. Goethe sieht in diesem
Vorgang sinnlich-anschaulich dargestellt, daß in
dem Blatte eine ganze Pflanze der Idee nach ruht (vgl. Goethes
Bemerkungen über das Bryophyllum calicinum in der
Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band VI, S. 336 ff.).
Wer
die Vorstellung der Urpflanze in sich ausbildet und so
beweglich erhält, daß er sie in allen möglichen
Formen denken kann, die ihr Inhalt zuläßt, der kann
mit ihrer Hilfe sich alle Gestaltungen im Pflanzenreiche
erklären. Er wird die Entwicklung der einzelnen Pflanze
begreifen; aber er wird auch finden, daß alle
Geschlechter, Arten und Varietäten nach diesem Urbilde
geformt sind. Diese Anschauung hat Goethe in Italien
ausgebildet und in seiner 1790 erschienenen Schrift:
«Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu
erklären» niedergelegt.
*
Auch in der Entwicklung seiner Ideen über den menschlichen
Organismus schreitet Goethe in Italien vor. Am 20 Januar [1787]
schreibt er an Knebel: «Auf Anatomie bin ich so ziemlich
vorbereitet, und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen
Körpers, bis auf einen gewissen Grad, nicht ohne Mühe
erworben. Hier wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen
immerfort, aber auf eine höhere Weise, hingewiesen. Bei
unserer medizinisch-chirurgischen Anatomie kommt es bloß
darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein
kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts
heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle schöne Form
darbieten. - In dem großen Lazarett San Spirito hat man
den Künstlern zulieb einen sehr schönen
Muskelkörper dergestalt bereitet, daß die
Schönheit desselben in Verwunderung setzt. Er könnte
wirklich für einen geschundenen Halbgott, für einen
Marsyas gelten. - So pflegt man auch, nach Anleitung der Alten,
das Skelett nicht als eine künstlich zusammengereihte
Knochenmasse zu studieren, vielmehr zugleich mit den
Bändern, wodurch es schon Leben und Bewegung
erhält.» Auch nach seiner Rückkehr aus Italien
treibt Goethe fleißig anatomische Studien. Es drängt
ihn, die Bildungsgesetze der tierischen Gestalt ebenso zu
erkennen, wie ihm dies für diejenigen der Pflanze gelungen
war. Er ist überzeugt, daß auch die Einheit des
Tier-Organismus auf einem Grundorgan beruht, welches in der
äußeren Erscheinung verschiedene Formen annehmen
kann. Verbirgt sich die Idee des Grund-Organs, so erscheint
dieses ungeformt. Es stellt dann die einfacheren Organe des
Tieres dar; bemächtigt sich die Idee des Stoffes so,
daß sie ihn sich völlig ähnlich macht, dann
entstehen die höheren, die edleren Organe. Was in den
einfacheren Organen der Idee nach vorhanden ist, das
schließt sich in den höheren nach außen auf. Es
ist Goethe nicht geglückt glückt, die
Gesetzmäßigkeit der ganzen tierischen Gestalt in eine
einzige Vorstellung zu fassen, wie er es für die
Pflanzenform erreicht hat. Nur für einen Teil dieser
Gestalt hat er das Bildungsgesetz gefunden, für das
Rückenmark und Gehirn mit den diese Organe
einschließenden Knochen. In dem Gehirn sieht er eine
höhere Ausbildung des Rückenmarks. Jedes
Nervenzentrum der Ganglien gilt ihm als ein auf niederer Stufe
stehengebliebenes Gehirn. (Vgl. Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band
8, S. 360) Und die das Gehirn einschließenden
Schädelknochen deutet er als Umformungen der
Wirbelknochen, die das Rückenmark umhüllen. Daß
er die hintern Schädelknochen (Hinterhauptbein, hinteres
und vorderes Keilbein) als drei umgebildete Wirbel anzusehen
hat, ist ihm schon früher aufgegangen; für die
vorderen Schädelknochen behauptet er dasselbe, als er im
Jahre 1790 auf den Dünen des Lido einen Schafschädel
findet, der so glücklich geborsten ist, daß in dem
Gaumbein, der oberen Kinnlade und dem Zwischenknochen drei
Wirbel in verwandelter Gestalt unmittelbar sinnlich sich
darzustellen scheinen.
Die
Anatomie der Tiere war zu Goethes Zeit noch nicht so weit
vorgeschritten, daß er ein Lebewesen hätte
anführen können, welches wirklich an Stelle von
entwickelten Schädelknochen Wirbel hat und das also im
sinnlichen Bilde das zeigt, was bei den vollkommenen Tieren nur
der Idee nach vorhanden ist. Durch die Untersuchungen Carl
Gegenbauers, die im Jahre 1872 veröffentlicht worden sind,
ist es gelungen, eine solche Tierform anzugeben. Die Urfische
oder Selachier haben Schädelknochen und ein Gehirn, die
sich deutlich als Endglieder der Wirbelsäule und des
Rückenmarkes erweisen. Nach dem Befund an diesen Tieren
scheint allerdings eine größere Zahl von Wirbeln in
die Kopfbildung eingegangen zu sein (mindestens neun), als
Goethe angenommen hat. Dieser Irrtum über die Zahl der
Wirbel und auch noch die Tatsache, daß im Embryonalzustand
der Schädel der höheren Tiere keine Spur einer
Zusammensetzung aus wirbelartigen Teilen zeigt, sondern sich
aus einer einfachen knorpeligen Blase entwickelt, ist gegen den
Wert der Goetheschen Idee von der Umwandlung des
Rückenmarks und der Wirbelsäule angeführt
worden. Man gibt zwar zu, daß der Schädel aus Wirbeln
entstanden ist. Aber man leugnet, daß die Kopfknochen in
der Form, in der sie sich bei den höheren Tieren zeigen,
umgebildete Wirbel seien. Man sagt, daß eine vollkommene
Verschmelzung der Wirbel zu einer knorpeligen Blase
stattgefunden habe, in der die ursprüngliche
Wirbelstruktur vollständig verschwunden sei. Aus dieser
Knorpelkapsel haben sich dann die Knochenformen herausgebildet,
die an höheren Tieren wahrzunehmen sind. Diese Formen
haben sich nicht nach dem Urbilde des Wirbels gebildet, sondern
entsprechend den Aufgaben, die sie am entwickelten Kopfe zu
erfüllen haben. Man hätte also, wenn man nach einem
Erklärungsgrund für irgendeine
Schädelknochenform sucht, nicht zu fragen: wie hat sich
ein Wirbel umgebildet, um zu dem Kopfknochen zu werden; sondern
welche Bedingungen haben dazu geführt, daß sich diese
oder jene Knochengestalt aus der einfachen Knorpelkapsel
herausgetrennt hat? Man glaubt an die Bildung neuer Gestalten,
nach neuen Bildungsgesetzen, nachdem die ursprüngliche
Wirbelform in eine strukturlose Kapsel aufgegangen ist. Ein
Widerspruch zwischen dieser Auffassung und der Goetheschen kann
nur vom Standpunkte des Tatsachenfanatismus aus gefunden
werden. Was in der Knorpelkapsel des Schädels nicht mehr
sinnlich wahrnehmbar ist, die Wirbelstruktur, ist in ihr
gleichwohl der Idee nach vorhanden und tritt wieder in
die Erscheinung, sobald die Bedingungen dazu vorhanden sind. In
der knorpeligen Schädelkapsel verbirgt sich die Idee des
wirbelförmigen Grundorgans innerhalb der sinnlichen
Materie; in den ausgebildeten Schädelknochen tritt sie
wieder in die äußere Erscheinung.
*
Goethe hofft, daß sich ihm die Bildungsgesetze der
übrigen Teile des tierischen Organismus in derselben Weise
offenbaren werden, wie es diejenigen des Gehirns,
Rückenmarks und ihrer Umhüllungsorgane getan haben.
Über die am Lido gemachte Entdeckung läßt er am
30.April 1790 Herdern durch Frau von Kalb sagen, daß er
«der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen
um eine ganze Formel näher gerückt ist, und zwar
durch den sonderbarsten Zufall» (Goethe an Frau von Kalb).
Er glaubt, seinem Ziele so nahe zu sein, daß er noch in
demselben Jahre, das ihm den Fund gebracht hat, eine Schrift
über die tierische Bildung vollenden will, die sich der
«Metamorphose der Pflanzen» an die Seite stellen
läßt. (Briefwechsel mit Knebel, S. 98.) In Schlesien,
wohin er im Juli 1790 reist, treibt er Studien zur
vergleichenden Anatomie und beginnt an einem Aufsatz «
Über die Gestalt der Tiere» zu schreiben.
(Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 8, S. 261 ff.) Es ist Goethe
nicht gelungen, von dem glücklich gewonnenen
Ausgangspunkte aus zu den Bildungsgesetzen der ganzen
Tiergestalt fortzuschreiten. So viel Ansätze er auch dazu
macht, den Typus der tierischen Gestalt zu finden: etwas der
Idee der Urpflanze Analoges ist nicht zustande gekommen. Er
vergleicht die Tiere untereinander und mit dem Menschen und
sucht ein allgemeines Bild des tierischen Baues zu
gewinnen, nach welchem, als einem Muster, die Natur die
einzelnen Gestalten formt. Eine lebendige Vorstellung, die sich
nach den Grundgesetzen der tierischen Bildung mit einem Gehalt
erfüllt und so das Urtier der Natur gleichsam nachschafft,
ist dieses allgemeine Bild des tierischen Typus nicht. Ein
allgemeiner Begriff ist es nur, der von den besonderen
Erscheinungen abgezogen ist. Er stellt das Gemeinsame in den
mannigfaltigen Tierformen fest; aber er enthält nicht die
Gesetzmäßigkeit der Tierheit.
Alle
Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.
Gedicht «Die Metamorpbose der Tiere»
Wie
dieses Urbild durch gesetzmäßige Umformung eines
Grundgliedes sich als vielgliedrige Urform des tierischen
Organismus entwickelt, davon konnte Goethe eine einheitliche
Vorstellung nicht entwickeln. Sowohl der Versuch über
«die Gestalt der Tiere» als auch der 1795 in Jena
entstandene «Entwurf einer vergleichenden Anatomie,
ausgehend von der Osteologie» und seine spätere
ausführlichere Gestalt «Vorträge über die
drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung
in die vergleichende Anatomie» (1796) enthalten nur
Anleitungen darüber, wie die Tiere zweckmäßig zu
vergleichen sind, um ein allgemeines Schema zu gewinnen, nach
dem die schaffende Gewalt die «organischen Naturen erzeugt
und entwickelt »,eine Norm, nach welcher die
«Beschreibungen auszuarbeiten» und auf welche,
«indem solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere
abgezogen wäre, die verschiedensten Gestalten wieder
zurückzuführen» sind (vgl. die genannten
«Vorträge»). Bei der Pflanze hingegen hat Goethe
gezeigt, wie ein Urgebilde durch aufeinanderfolgende
Modifikationen sich gesetzmäßig zu der vollkommenen
organischen Gestalt ausbildet.
Wenn er auch nicht die schaffende Naturgewalt in ihrer
Bildungs- und Umbildungskraft durch die verschiedenen Glieder
des tierischen Organismus hindurch verfolgen konnte, so ist es
Goethe doch gelungen, einzelne Gesetze zu finden, an die sich
die Natur bei der Bildung der tierischen Formen hält,
welche die allgemeine Norm zwar festhalten, doch aber in der
Erscheinung verschieden sind. Er stellt sich vor, daß die
Natur nicht die Fähigkeit habe, das allgemeine Bild
beliebig zu verändern. Wenn sie in einer Form ein Glied in
besonders vollkommener Form ausbildet, so kann dies nur auf
Kosten eines andern geschehen. Im Urorganismus sind alle
Glieder enthalten, die bei irgendeinem Tiere vorkommen
können. Bei der einzelnen Tierform ist das eine
ausgebildet, das andere nur angedeutet; das eine besonders
vollkommen entwickelt, das andere vielleicht für die
sinnliche Beobachtung gar nicht wahrzunehmen. Für den
letzteren Fall ist Goethe überzeugt, daß in jedem
Tiere das, was von dem allgemeinen Typus an ihm nicht
sichtbar, doch in der Idee vorhanden ist.
Siehst
du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug
Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa
Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste.
Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den
Schlüssel,
Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den
obern
Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,
Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter
Ganz unmöglich zu bilden und böte sie alle Gewalt
auf:
Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne
Völlig zu pflanzen und auch ein Geweih und Hörner
zu
treiben.
«Die Metamotphose der Tiere»
Im
Urorganismus sind alle Glieder ausgebildet und halten sich das
Gleichgewicht; die Mannigfaltigkeit des Einzelnen entsteht
dadurch, daß die Kraft der Bildung sich auf das eine Glied
wirft und dafür ein anderes in der äußeren
Erscheinung gar nicht oder nur andeutungsweise entwikkelt.
Dieses Gesetz des tierischen Organismus nennt man heute das von
der Korrelation oder Kompensation der Organe.
*
Goethe denkt sich in der Urpflanze die ganze Pflanzenwelt, in
dem Urtiere die ganze Tierwelt der Idee nach enthalten. Aus
diesem Gedanken entsteht die Frage: wie kommt es, daß in
dem einen Falle diese bestimmten Pflanzen- oder Tierformen, in
dem andern Falle andere entstehen? Unter welchen Bedingungen
wird aus dem Urtiere ein Fisch? Unter welchen ein Vogel? Goethe
findet zur Erklärung des Baues der Organismen in der
Wissenschaft eine Vorstellungsart vor, die ihm zuwider ist. Die
Anhänger dieser Vorstellungsart fragen bei jedem Organ:
wozu dient es dem Lebewesen, an dem es vorkommt? Einer solchen
Frage liegt der allgemeine Gedanke zugrunde, daß ein
göttlicher Schöpfer oder die Natur jedem Wesen einen
bestimmten Lebenszweck vorgesetzt und ihm dann einen solchen
Bau gegeben habe, daß es diesen Zweck erfüllen
könnte. Goethe findet eine solche Frage ebenso ungereimt,
wie etwa die: zu welchem Zwecke bewegt sich eine elastische
Kugel, wenn sie von einer anderen gestoßen wird? Eine
Erklärung der Bewegung kann nur gegeben werden durch
Auffinden des Gesetzes, nach welchem die Kugel durch einen
Stoß oder eine andere Ursache in Bewegung versetzt worden
ist. Man fragt nicht: wozu dient die Bewegung der Kugel,
sondern: woher entspringt sie? Ebenso soll man, nach Goethes
Meinung, nicht fragen: wozu hat der Stier Hörner, sondern:
wie kann er Hörner haben. Durch welche Gesetze
tritt in dem Stier das Urtier als hörnertragende Form auf?
Goethe hat die Idee der Urpflanze und des Urtiers gesucht, um
in ihnen die Erklärungsgründe für die
Mannigfaltigkeit der organischen Formen zu finden. Die
Urpflanze ist das schaffende Element in der Pflanzenwelt. Will
man eine einzelne Pflanzenart erklären, so muß man
zeigen, wie dieses schaffende Element in dem besonderen Falle
wirkt. Die Vorstellung, ein organisches Wesen verdanke seine
Gestalt nicht den in ihm wirkenden und bildenden Kräften,
sondern sie sei ihm zu gewissen Zwecken von außen
aufgedrängt, wirkt auf Goethe geradezu abstoßend. Er
schreibt: «Neulich fand ich in einer leidig
apostolisch-kapuzinermäßigen Deklamation des
Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles, was
Leben hat, lebt durch etwas außer sich. Oder so
ungefähr klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer
hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht
beim Ärmel.» (Italienische Reise, 5.Oktober 1787.)
Goethe denkt sich das organische Wesen als eine kleine Welt,
die durch sich selbst da ist und sich nach ihren Gesetzen
gestaltet. «Die Vorstellungsart, daß ein lebendiges
Wesen zu gewissen Zwecken nach außen hervorgebracht und
seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determiniert
werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der
natürlichen Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten,
und hält uns noch auf, obgleich einzelne Männer diese
Vorstellungsart eifrig bestritten, die Hindernisse, welche sie
in den Weg legt, gezeigt haben... Es ist, wenn man sich so
ausdrücken darf, eine triviale Vorstellungsart, die eben
deswegen, wie alle trivialen Dinge, trivial ist, weil sie der
menschlichen Natur im ganzen bequem und zureichend ist.»
(Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 7, S. 217 f.) Es ist allerdings
bequem zu sagen: ein Schöpfer hat bei Erschaffung einer
organischen Art einen gewissen Zweckgedanken zu Grunde gelegt,
und ihr deswegen eine bestimmte Gestalt gegeben. Goethe will
aber die Natur nicht aus den Absichten irgendeines außer
der Natur befindlichen Wesens, sondern aus den in ihr selbst
liegenden Bildungsgesetzen erklären. Eine einzelne
organische Form entsteht dadurch, daß Urpflanze oder
Urtier in einem besonderen Falle sich eine bestimmte Gestalt
geben. Diese Gestalt muß eine solche sein, daß die
Form innerhalb der Bedingungen, in denen sie lebt, auch leben
kann. «... die Existenz eines Geschöpfes, das wir
Fisch nennen, sei nur unter der Bedingung eines Elementes, das
wir Wasser nennen, möglich ...» (Sophien-Ausgabe, 2.
Abt., Band 7, S. 221.) Will Goethe begreifen, welche
Bildungsgesetze eine bestimmte organische Form hervorbringen,
so hält er sich an seinen Urorganismus. In ihm liegt die
Kraft, sich in den mannigfaltigsten äußeren Gestalten
zu verwirklichen. Um einen Fisch zu erklären, würde
Goethe untersuchen, welche Bildungskräfte das Urtier
anwendet, um von allen Gestalten, die der Idee nach in ihm
liegen, gerade die Fischgestalt hervorzubringen. Würde das
Urtier innerhalb gewisser Verhältnisse sich in einer
Gestalt verwirklichen, in der es nicht leben kann, so ginge es
zugrunde. Erhalten kann sich eine organische Form
innerhalb gewisser Lebensbedingungen nur, wenn es denselben
angepaßt ist.
Also
bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
Mächtig zurück. So zeigt sich fest die geordnete
Bildung,
Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich
wirkende
Wesen
«Die Metamorphose der Tiere»
Die
in einem gewissen Lebenselemente dauernden organischen
Formen sind durch die Natur dieses Elementes bedingt. Wenn eine
organische Form aus einem Lebenselemente in ein anderes
käme, so müßte sie sich entsprechend
verändern. Das wird in bestimmten Fällen eintreten
können, denn der ihr zugrunde liegende Urorganismus hat
die Fähigkeit, sich in unzähligen Gestalten zu
verwirklichen. Die Umwandlung der einen Form in die andere ist
aber, nach Goethes Ansicht, nicht so zu denken, daß die
äußeren Verhältnisse die Form unmittelbar nach
sich umbilden, sondern so, daß sie die Veranlassung
werden, durch die sich die innere Wesenheit verwandelt.
Veränderte Lebensbedingungen reizen die organische
Form, sich nach inneren Gesetzen in einer gewissen Weise
umzubilden. Die äußeren Einflüsse wirken
mittelbar, nicht unmittelbar auf die Lebewesen. Unzählige
Lebensformen sind in Urpflanze und Urtier der Idee nach
enthalten; diejenigen kommen zur tatsächlichen Existenz,
auf welche äußere Einflüsse als Reize wirken.
Die Vorstellung, daß eine Pflanzen- oder Tierart sich im
Laufe der Zeiten durch gewisse Bedingungen in eine andere
verwandle, hat innerhalb der Goetheschen Naturanschauung ihre
volle Berechtigung. Goethe stellt sich vor, daß die Kraft,
welche im Fortpflanzungsvorgang ein neues Individuum
hervorbringt, nur eine Umwandlung derjenigen Kraftform ist, die
auch die fortschreitende Umbildung der Organe im Verlaufe des
Wachstums bewirkt. Die Fortpflanzung ist ein Wachstum über
das Individuum hinaus. Wie das Grundorgan während des
Wachstums eine Folge von Veränderungen durchläuft,
die der Idee nach gleich sind, so kann auch bei der
Fortpflanzung eine Umwandlung der äußeren Gestalt
unter Festhaltung des ideellen Urbildes stattfinden. Wenn eine
ursprüngliche Organismenform vorhanden war, so konnten die
Nachkommen derselben im Laufe großer Zeiträume durch
allmähliche Umwandlung in die gegenwärtig die Erde
bevölkernden mannigfaltigen Formen übergehen. Der
Gedanke einer tatsächlichen Blutsverwandtschaft aller
organischen Formen fließt aus den Grundanschauungen
Goethes. Er hätte ihn sogleich nach der Konzeption seiner
Ideen von Urtier und Urpflanze in vollkommener Form aussprechen
können. Aber er drückt sich, wo er diesen Gedanken
berührt, zurückhaltend, ja unbestimmt aus. In dem
Aufsatz: «Versuch einer allgemeinen
Vergleichungslehre», der nicht lange nach der
«Metamorphose der Pflanzen» entstanden sein
dürfte, ist zu lesen: «Und wie würdig ist es der
Natur, daß sie sich immer derselben Mittel bedienen
muß, um ein Geschöpf hervorzubringen und es zu
ernähren! So wird man auf eben diesen Wegen fortschreiten
und, wie man nur erst die unorganisierten, undeterminierten
Elemente als Vehikel der unorganisierten Wesen angesehen, so
wird man sich nunmehr in der Betrachtung erheben und wird die
organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen
Elementen ansehen. Das ganze Pflanzenreich zum Exempel wird uns
wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches ebensogut
zur bedingten Existenz der Insekten nötig ist als das
Weltmeer und die Flüsse zur bedingten Existenz der Fische,
und wir werden sehen, daß eine ungeheure Anzahl lebender
Geschöpfe in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt
werde, ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder
nur als ein großes Element ansehen, wo ein Geschlecht auf
dem andern und durch das andere, wo nicht entsteht, doch
sich erhält.» Rückhaltloser ist folgender Satz
der «Vorträge über die drei ersten Kapitel des
Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende
Anatomie»(1796): «Dies also hätten wir gewonnen,
ungeschult behaupten zu können: daß alle
vollkommeneren organischen Naturen, worunter wir Fische,
Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der
letzten den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt
seien, das nur in seinen beständigen Teilen mehr oder
weniger hin- und hersieht und sich noch täglich durch
Fortpflanzung aus- und umbildet.» Goethes Vorsicht dem
Umwandlungsgedanken gegenüber ist begreiflich. Der Zeit,
in welcher er seine Ideen ausbildete, war dieser Gedanke nicht
fremd. Aber sie hatte ihn in der wüstesten Weise
ausgebildet. «Die damalige Zeit (schreibt Goethe 1807,
vgl. Kürschner, Band 33, S. 15) jedoch war dunkler, als
man es sich jetzt vorstellen kann. Man behauptete zum Beispiel,
es hänge nur vom Menschen ab, bequem auf allen Vieren zu
gehen, und Bären, wenn sie sich eine Zeitlang aufrecht
hielten, könnten zu Menschen werden. Der verwegene Diderot
wagte gewisse Vorschläge, wie man ziegenfüßige
Faune hervorbringen könne, um solche in Livre'e, zu
besonderem Staat und Auszeichnung, den Großen und Reichen
auf die Kutsche zu stiften.» Mit solchen unklaren
Vorstellungen wollte Goethe nichts zu tun haben. Ihm lag daran,
eine Idee von den Grundgesetzen des Lebendigen zu gewinnen.
Dabei wurde ihm klar, daß die Gestalten des Lebendigen
nichts Starres, Unveränderliches, sondern daß sie in
einer fortwährenden Umbildung begriffen sind. Wie diese
Umbildung sich im einzelnen vollzieht, festzustellen, dazu
fehlten ihm die Beobachtungen. Erst Darwins Forschungen und
Haeckels geistvolle Reflexionen haben einiges Licht auf die
tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse einzelner
organischer Formen geworfen. Vom Standpunkte der Goetheschen
Weltanschauung kann man sich den Behauptungen des Darwinismus
gegenüber, soweit sie das tatsächliche Hervorgehen
einer organischen Art aus der andern betreffen, nur zustimmend
verhalten. Goethes Ideen dringen aber tiefer in das Wesen des
Organischen ein als der Darwinismus der Gegenwart. Dieser
glaubt die im Organischen gelegenen inneren Triebkräfte,
die sich Goethe unter dem sinnlich-übersinnlichen Bilde
vorstellt, entbehren zu können. Ja, er spricht Goethe
sogar die Berechtigung ab, von seinen Voraussetzungen aus von
einer wirklichen Umwandlung der Organe und Organismen zu
sprechen. Jul. Sachs weist Goethes Gedanken mit den Worten
zurück, er übertrage «die vom Verstand
vollzogene Abstraktion auf das Objekt selbst, indem er diesem
eine Metamorphose zuschreibt, die sich im Grunde genommen nur
in unserem Begriffe vollzogen hat.» Goethe soll, nach
dieser Ansicht, nichts weiter getan haben, als
Laubblätter, Kelchblätter, Blumenblätter usw.
unter einen allgemeinen Begriff gebracht und mit dem Namen
Blatt bezeichnet haben. «Ganz anders freilich wäre
die Sache, wenn ... wir annehmen dürften, daß bei den
Vorfahren der uns vorliegenden Pflanzenform die Staubfäden
gewöhnliche Blätter waren usw.» (Sachs,
«Geschichte der Botanik» 1875, S.169). Diese Ansicht
entspringt dem Tatsachenfanatismus, der nicht einsehen kann,
daß die Ideen ebenso objektiv zu den Dingen gehören,
wie das, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann. Goethe ist der
Ansicht, daß von Verwandlung eines Organes in das andere
nur gesprochen werden kann, wenn beide außer ihrer
äußeren Erscheinung noch etwas enthalten, das ihnen
gemeinsam ist. Das ist die sinnlich-übersinnliche Form.
Das Staubgefäß einer uns vorliegenden Pflanzenform
kann nur dann als das umgewandelte Blatt der Vorfahren
bezeichnet werden, wenn in beiden die gleiche
sinnlich-übersinnliche Form lebt. Ist das nicht der Fall,
entwickelt sich an der uns vorliegenden Pflanzenform einfach an
derselben Stelle ein Staubgefäß, an der sich bei den
Vorfahren ein Blatt entwickelt hat, dann hat sich nichts
verwandelt, sondern es ist an die Stelle des einen Organes ein
anderes getreten. Der Zoologe Oskar Schmidt fragt: «Was
sollte denn auch nach Goethes Anschauung umgebildet werden? Das
Urbild doch wohl nicht» («War Goethe
Darwinianer?» Graz 1871, S. 22). Gewiß wandelt sich
nicht das Urbild um, denn dieses Ist ja in allen Formen das
gleiche. Aber eben weil dieses gleich bleibt, können die
äußeren Gestalten verschieden sein und doch ein
einheitliches Ganzes darstellen. Könnte man nicht in zwei
auseinander entwickelten Formen das gleiche ideelle Urbild
erkennen, so könnte keine Beziehung zwischen ihnen
angenommen werden. Erst durch die Vorstellung der ideellen
Urform kann man mit der Behauptung, die organischen Formen
entstehen durch Umbildung auseinander, einen wirklichen Sinn
verbinden. Wer nicht zu dieser Vorstellung sich erhebt, der
bleibt innerhalb der bloßen Tatsachen stecken. In ihr
liegen die Gesetze der organischen Entwicklung. Wie durch
Keplers drei Grundgesetze die Vorgänge im
Sonnensystem begreiflich sind, so durch Goethes ideelle
Urbilder die Gestalten der organischen Natur.
*
Kant, der dem menschlichen Geiste die Fähigkeit abspricht,
ein Ganzes ideell zu durchdringen, durch welches ein
Mannigfaltiges in der Erscheinung bestimmt wird, nennt es ein
«gewagtes Abenteuer der Vernunft », wenn jemand die
einzelnen Formen der organischen Welt aus einem Urorganismus
erklären wolle. Für ihn ist der Mensch nur imstande,
die mannigfaltigen Einzelerscheinungen in einen allgemeinen
Begriff zusammenzufassen, durch den sich der Verstand ein Bild
macht von der Einheit. Dieses Bild ist aber nur im menschlichen
Geiste vorhanden und hat nichts zu tun mit der schaffenden
Gewalt, durch welche die Einheit wirklich die Mannigfaltigkeit
aus sich hervorgehen läßt. Das «gewagte
Abenteuer der Vernunft» bestände darin, daß
jemand annehme, die Erde ließe aus ihrem Mutterschoß
erst einfache Organismen von minder zweckmäßiger
Bildung hervorgehen, die aus sich zweckmäßigere
Formen gebären. Daß ferner aus diesen noch
höhere sich entwickeln, bis hinauf zu den vollkommensten
Lebewesen. Wenn auch jemand eine solche Annahme machte, meint
Kant, so könne er doch nur eine absichtsvolle
Schöpferkraft zu Grunde legen, welche der Entwicklung
einen solchen Anstoß gegeben hat, daß sich alle ihre
einzelnen Glieder zweckmäßig entwickeln. Der Mensch
nimmt eben eine Vielheit mannigfaltiger Organismen wahr; und da
er nicht in sie hineindringen kann, um zu sehen, wie sie sich
selbst eine Form geben, die dem Lebenselement angepaßt
ist, in dem sie sich entwickeln, so muß er sich
vorstellen, sie seien von außen her so eingerichtet,
daß sie innerhalb ihrer Bedingungen leben können.
Goethe legt sich die Fähigkeit bei, zu erkennen, wie die
Natur aus dem Ganzen das Einzelne, aus dem Innern das
Äußere schafft. Was Kant «Abenteuer der
Vernunft» nennt, will er deshalb mutig bestehen (vgl. den
Aufsatz «Anschauende Urteilskraft», Kürschner,
Bd. 33, S.115 f.). Wenn wir keinen anderen Beweis dafür
hätten, daß Goethe den Gedanken einer
Blutsverwandtschaft aller organischen Formen innerhalb der hier
angedeuteten Grenzen als berechtigt anerkennt, wir
müßten es aus diesem Urteil über Kants
«Abenteuer der Vernunft» folgern.
*
Ein
noch vorhandener skizzenhafter «Entwurf einer
Morphologie»läßt erraten, daß Goethe den
Plan hatte, die besonderen Gestalten in ihrer Stufenfolge
darzustellen, die seine Urpflanze und sein Urtier in den
Hauptformen der Lebewesen annehmen (vgl. Sophien-Ausgabe, z.
Abt., Band 6, S.321). Er wollte zuerst das Wesen des
Organischen schildern, wie es ihm bei seinem Nachdenken
über Tiere und Pflanzen aufgegangen. Dann «aus einem
Punkte ausgehend» zeigen, wie das organische Urwesen sich
nach der einen Seite zu der mannigfaltigen Pflanzenwelt, nach
der anderen zu der Vielheit der Tierformen entwickelt, wie die
besonderen Formen der Würmer, Insekten, der höheren
Tiere und die Form des Menschen aus dem allgemeinen Urbilde
abgeleitet werden können. Auch auf die Physiognomik und
Schädellehre sollte ein Licht fallen. Die äußere
Gestalt im Zusammenhange mit den inneren geistigen
Fähigkeiten darzustellen, machte sich Goethe zur Aufgabe.
Es drängte ihn, den organischen Bildungstrieb, der sich in
den niederen Organismen in einer einfachen äußeren
Erscheinung darbietet, zu verfolgen in seinem Streben, sich
stufenweise in immer vollkommeneren Gestalten zu verwirklichen,
bis er sich in dem Menschen eine Form gibt, die diesen zum
Schöpfer der geistigen Erzeugnisse geeignet macht.
Dieser Plan Goethes ist ebensowenig zur Ausführung
gekommen, wie ein anderer, zu dem das Fragment
«Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen» ein
Anlauf ist (vgl. Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 6, S. 286 ff.).
Goethe wollte zeigen, wie alle einzelnen Zweige des
Naturerkennens: Naturgeschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie,
Zoonomie und Physiologie zusammenwirken müssen, um von
einer höheren Anschauungsweise dazu verwendet zu werden,
Gestalten und Vorgänge der Lebewesen zu erklären. Er
wollte eine neue Wissenschaft, eine allgemeine Morphologie der
Organismen aufstellen, «zwar nicht dem Gegenstande nach,
denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode
nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigene Gestalt geben
muß, als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz
anzuweisen hat ...». Was die Anatomie, Naturgeschichte,
Naturlehre, Chemie, Zoonomie, Physiologie an einzelnen
Naturgesetzen darbieten, soll von der lebendigen Vorstellung
des Organischen ebenso aufgenommen und auf eine höhere
Stufe gestellt werden, wie das Lebewesen selbst die einzelnen
Naturvorgänge in den Kreis seiner Bildung aufnimmt und auf
eine höhere Stufe des Wirkens stellt.
Goethe ist zu den Ideen, die ihm durch das Labyrinth der
lebendigen Gestalten durchhalfen, auf eigenen Wegen gelangt.
Die herrschenden Anschauungen über wichtige Gebiete des
Naturwirkens widersprachen seiner allgemeinen Weltanschauung.
Deshalb mußte er sich selbst über solche Gebiete
Vorstellungen ausbilden, die seinem Wesen gemäß
waren. Er war aber überzeugt, daß es nichts Neues
unter der Sonne gebe, und daß man «gar wohl in
Überlieferungen schon angedeutet finden könne, was
man selbst gewahr wird». Er teilt gelehrten Freunden aus
diesem Grund seine Schrift über die «Metamorphose der
Pflanzen» mit und bittet sie, ihm darüber Auskunft zu
geben, ob über den behandelten Gegenstand schon etwas
geschrieben oder überliefert ist. Er hat die Freude,
daß in Friedrich August Wolf auf einen
«trefflichen Vorarbeiter», Kaspar Friedrich
Wolff, aufmerksam macht. Goethe macht sich mit dessen
1759 erschienenen «Theoria generationis» bekannt.
Gerade an diesem Vorarbeiter aber ist zu beobachten, wie jemand
eine richtige Ansicht über die Tatsachen haben und doch
nicht zur vollendeten Idee der organischen Bildung kommen kann,
wenn er nicht fähig ist, sich durch ein höheres als
das sinnliche Anschauungsvermögen in den Besitz der
sinnlich-übersinnlichen Form des Lebens zu setzen.
Wolf ist ein ausgezeichneter Beobachter. Er sucht durch
mikroskopische Untersuchungen sich über die Anfänge
des Lebens aufzuklären. Er erkennt in dem Kelch, der
Blumenkrone, den Staubgefäßen, dem Stempel, dem
Samen, umgewandelte Blätter. Aber er schreibt die
Umwandlung einer allmählichen Abnahme der Lebenskraft zu,
die in dem Maße sich vermindern soll, als die Vegetation
länger fortgesetzt wird, um endlich ganz zu verschwinden.
Kelch, Krone usw. sind ihm daher eine unvollkommene Ausbildung
der Blätter. Wolf ist als Gegner Hallers aufgetreten, der
die Präformations- oder Einschachtelungslehre vertrat.
Nach dieser sollten alle Glieder eines ausgewachsenen
Organismus im Keim schon im Kleinen vorgebildet sein, und zwar
in derselben Gestalt und gegenseitigen Anordnung wie im
vollendeten Lebewesen. Die Entwicklung eines Organismus ist
demzufolge nur eine Auswicklung des schon Vorhandenen. Wolf
ließ nur das gelten, was er mit Augen sah. Und da der
eingeschachtelte Zustand eines Lebewesens auch durch die
sorgfältigsten Beobachtungen nicht zu entdecken war,
betrachtete er die Entwicklung als eine wirkliche Neubildung.
Die Gestalt eines organischen Wesens ist, nach seiner Ansicht,
im Keime noch nicht vorhanden. Goethe ist derselben Meinung in
Bezug auf die äußere Erscheinung. Auch er lehnt die
Einschachtelungslehre Hallers ab. Für Goethe ist der
Organismus im Keime zwar vorgebildet, aber nicht der
äußeren Erscheinung, sondern der Idee nach.
Die äußere Erscheinung betrachtet auch er als eine
Neubildung. Aber er wirft Wolf vor, daß dieser da, wo er
nichts mit den Augen des Leibes sieht, auch mit Geistesaugen
nichts wahrnimmt. Wolf hatte keine Vorstellung davon, daß
etwas der Idee nach doch vorhanden sein kann, auch wenn es
nicht in die äußere Erscheinung tritt. «Deshalb
ist er immer bemüht, auf die Anfänge der
Lebensbildung durch mikroskopische Untersuchungen zu dringen,
und so die organischen Embryonen von ihrer frühesten
Erscheinung bis zur Ausbildung zu verfolgen. Wie vortrefflich
diese Methode auch sei, durch die er soviel geleistet hat, so
dachte der treffliche Mann doch nicht, daß es ein
Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, daß die
Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen
Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät zu
sehen und doch vorbeizusehen. - Bei der Pflanzenverwandlung sah
er dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich
verkleinern; daß aber dieses Zusammenziehen mit einer
Ausdehnung abwechsle, sah er nicht. Er sah, daß es sich an
Volum verringere, und bemerkte nicht, daß es sich zugleich
veredle, und schrieb daher den Weg zur Vollendung, widersinnig,
einer Verkümmerung zu» (Kürschner, Band 33,
S.107 f.).
*
Bis
zu seinem Lebensende stand Goethe mit zahlreichen
Naturforschern in persönlichem und schriftlichem Verkehre.
Er beobachtete die Fortschritte der Wissenschaft von den
Lebewesen mit dem regsten Interesse; er sah mit Freuden, wie in
diesem Erkenntnisgebiete Vorstellungsarten Eingang fanden, die
sich der seinigen näherten und wie auch seine
Metamorphosenlehre von einzelnen Forschern anerkannt und
fruchtbar gemacht wurde. Im Jahre 1817 begann er seine Arbeiten
zu sammeln und in einer Zeitschrift, die er unter dem Titel
«Zur Morphologie» begründete, herauszugeben. Zu
einer Weiterbildung seiner Ideen über organische Bildung
durch eigene Beobachtung oder Reflexion kam er trotz alledem
nicht mehr. Zu einer eingehenderen Beschäftigung mit
solchen Ideen fand er sich nur noch zweimal angeregt. In beiden
Fällen fesselten ihn wissenschaftliche Erscheinungen, in
denen er eine Bestätigung seiner Gedanken fand. Die eine
waren die Vorträge, die K. F. Ph.Martius über die
«Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation» auf den
Naturforscherversammlungen in den Jahren 1828 und 1829 hielt
und von denen die Zeitschrift «Isis» Auszüge
brachte; die andere ein naturwissenschaftlicher Streit in der
französischen Akademie, der im Jahre 1830 zwischen
Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier ausbrach.
Martius dachte sich das Wachstum der Pflanze von zwei Tendenzen
beherrscht, von einem Streben in der senkrechten Richtung,
wovon Wurzel und Stengel beherrscht werden; und von einem
anderen, wodurch Blätter-, Blütenorgane usw.
veranlaßt werden, sich gemäß der Form einer
Spirallinie an die senkrechten Organe anzugliedern. Goethe
griff diese Ideen auf und brachte sie mit seiner Vorstellung
von der Metamorphose in Verbindung. Er schrieb einen
längeren Aufsatz (Kürschner, Band 33), in dem er alle
seine Erfahrungen über die Pflanzenwelt zusammenstellte,
die ihm auf das Vorhandensein der zwei Tendenzen hinzudeuten
schienen. Er glaubt, daß er diese Tendenzen in seine Idee
der Metamorphose aufnehmen müsse. «Wir mußten
annehmen: es walte in der Vegetation eine allgemeine
Spiraltendenz, wodurch, in Verbindung mit dem vertikalen
Streben, aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Gesetze
der Metamorphose vollbracht wird.» Das Vorhandensein der
Spiralgefäße in einzelnen Pflanzenorganen faßt
Goethe als Beweis auf, daß die Spiraltendenz das Leben der
Pflanze durchgreifend beherrscht. «Nichts ist der Natur
gemäßer, als daß sie das, was sie im ganzen
intentioniert, durch das einzelnste in Wirksamkeit
versetzt.» «Man trete zur Sommerzeit vor eine im
Gartenboden eingesteckte Stange, an welcher eine Winde
(Konvolvel) von unten an sich fortschlängelnd in die
Höhe steigt, sich fest anschließend ihr lebendiges
Wachstum verfolgt. Man denke sich Konvolvel und Stange, beide
gleich lebendig, aus einer Wurzel aufsteigend, sich
wechselweise hervorbringend und so unaufhaltsam fortschreitend.
Wer sich diesen Anblick in ein inneres Anschauen verwandeln
kann, der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben. Die
rankende Pflanze sucht das außer sich, was sie sich selbst
geben sollte und nicht vermag.» Dasselbe Gleichnis wendet
Goethe am 5. März 1832 in einem Briefe an den Grafen
Sternberg an und setzt die Worte hinzu: «Freilich
paßt dies Gleichnis nicht ganz, denn im Anfang mußte
die Schlingpflanze um den sich erhebenden Stamm in kaum
merklichen Kreisen herauswinden. Je mehr sie sich aber der
oberen Spitze näherte, desto schneller mußte die
Schraubenlinie sich drehen, um endlich (bei der Blüte) in
einem Kreise auf einen Diskus sich zu versammeln, dem Tanze
ähnlich, wo man sich in der Jugend gar oft Brust an Brust,
Herz an Herz mit den liebenswürdigsten Kindern selbst
wider Willen gedrückt sah. Verzeih diese
Anthropomorphismen.» Ferdinand Cohn bemerkt zu
dieser Stelle: «Hätte Goethe nur noch Darwin erlebt!
... wie würde er sich des Mannes erfreut haben, der durch
streng induktive Methode klare und überzeugende Beweise
für seine Ideen zu finden wußte ...» Darwin
meint, von fast allen Pflanzenorganen zeigen zu können,
daß sie in der Zeit ihres Wachstums die Tendenz zu
schraubenförmigen Bewegungen haben, die er circummutation
nennt.
Im
September 1830 spricht sich Goethe in einem Aufsatz über
den Streit der beiden Naturforscher Cuvier und Geoffroy de
Saint-Hilaire aus; im März 1832 setzt er diesen Aufsatz
fort. Der Tatsachenfanatiker Cuvier trat im Februar und
März 1830 in der französischen Akademie gegen die
Ausführungen Geoffroy de Saint-Hilaires auf, der, nach
Goethes Meinung, zu «einer hohen, der Idee
gemäßen Denkweise gelangt» war. Cuvier ist ein
Meister im Unterscheiden der einzelnen organischen Formen.
Geoffroy bemüht sich, die Analogien in diesen Formen
aufzusuchen und den Nachweis zu führen, die Organisation
der Tiere sei «einem allgemeinen, nur hier und da
modifizierten Plan, woher die Unterscheidung derselben
abzuleiten sei, unterworfen». Er strebt die Verwandtschaft
der Gesetze zu erkennen und ist der Überzeugung, das
Einzelne könne aus dem Ganzen nach und nach entwickelt
werden. Goethe betrachtet Geoffroy als Gesinnungsgenossen; er
spricht das am 2August 1830 zu Eckermann mit den Worten
aus:
«Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden
auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden
Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist
für mich von ganz unglaublichem Wert und ich juble mit
Recht über den endlichen Sieg einer Sache, der ich mein
Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die
meinige ist.» Geoffroy übt eine Denkweise, die auch
die Goethes ist, er sucht in der Erfahrung mit dem sinnlich
Mannigfaltigen zugleich auch die Idee der Einheit zu ergreifen;
Cuvier hält sich an das Mannigfaltige, an das Einzelne,
weil ihm bei dessen Betrachtung die Idee nicht zugleich
aufgeht. Geoffroy hat eine richtige Empfindung von dem
Verhältnisse des Sinnlichen zur Idee; Cuvier hat sie
nicht. Deshalb bezeichnet er Geoffroys umfassendes Prinzip als
anmaßlich, ja, erklärt es sogar für
untergeordnet. Man kann besonders an Naturforschern die
Erfahrung machen, daß sie absprechend über ein
«bloß»Ideelles, Gedachtes sprechen. Sie haben
kein Organ für das Ideelle und kennen daher dessen
Wirkungskreise nicht. Goethe wurde dadurch, daß er dieses
Organ in besonders vollkommener Ausbildung besaß, von
seiner allgemeinen Weltanschauung aus zu seinen tiefen
Einsichten in das Wesen des Lebendigen geführt. Seine
Fähigkeit, die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in
stetem lebendigen Bunde wirken zu lassen, machte es ihm
möglich, die einheitliche sinnlich-übersinnliche
Wesenheit anzuschauen, die sich durch die organische
Entwicklung hindurchzieht, und diese Wesenheit auch da
anzuerkennen, wo ein Organ sich aus dem andern herausbildet,
durch Umbildung seine Verwandtschaft, seine Gleichheit mit dem
vorhergehenden verbirgt, verleugnet und sich in Bestimmung wie
in Bildung in dem Grade verändert, daß keine
Vergleichung nach äußeren Kennzeichen mehr mit dem
vorhergehenden stattfinden könne. (Vgl. den Aufsatz
über Joachim Jungius, Kürschner, Band 33.) Das Sehen
mit den Augen des Leibes vermittelt die Erkenntnis des
Sinnlichen und Materiellen; das Sehen mit Geistesaugen
führt zur Anschauung der Vorgänge im menschlichen
Bewußtsein, zur Beobachtung der Gedanken-, Gefühls-
und Willenswelt; der lebendige Bund zwischen geistigem und
leiblichem Auge befähigt zur Erkenntnis des Organischen,
das als sinnlich-übersinnliches Element zwischen dem rein
Sinnlichen und rein Geistigen in der Mitte liegt.
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