Die Betrachtung der Farbenwelt
Die
Erscheinungen der Farbenwelt
Goethe wird durch die Empfindung, daß «die hohen
Kunstwerke von Menschen nach wahren und
natürlichen Gesetzen hervorgebracht» sind,
fortwährend angeregt, diese wahren und natürlichen
Gesetze des künstlerischen Schaffens aufzusuchen. Er ist
überzeugt, die Wirkung eines Kunstwerkes müsse darauf
beruhen, daß aus demselben eine natürliche
Gesetzmäßigkeit herausleuchtet. Er will diese
Gesetzmäßigkeit erkennen. Er will wissen, aus welchem
Grunde die höchsten Kunstwerke zugleich die höchsten
Naturwerke sind. Es wird ihm klar, daß die Griechen nach
eben den Gesetzen verfuhren, nach denen die Natur
verfährt, als sie «aus der menschlichen Gestalt den
Kreis göttlicher Bildung» entwickelten (Italienische
Reise, 28. Januar 1787). Er will sehen, wie die Natur diese
Bildung zustande bringt, um sie in den Kunstwerken verstehen zu
können. Goethe schildert, wie es ihm in Italien
allmählich gelungen ist, zu einer Einsicht in die
natürliche Gesetzmäßigkeit des
künstlerischen Schaffens zu kommen (vgl. «Konfession
des Verfassers», Kürschner, Band 36). «Zum
Glück konnte ich mich an einigen von der Poesie
herübergebrachten, mir durch inneres Gefühl und
langen Gebrauch bewährten Maximen festhalten, so daß
es mir zwar schwer, aber nicht unmöglich ward, durch
ununterbrochenes Anschauen der Natur und Kunst, durch
lebendiges wirksames Gespräch mit mehr oder weniger
einsichtigen Kennern, durch stetes Leben mit mehr oder weniger
praktischen oder denkenden Künstlern, nach und nach mir
die Kunst überhaupt einzuteilen, ohne sie zu
zerstückeln, und ihre verschiedenen, lebendig ineinander
greifenden Elemente gewahr zu werden.» Nur ein einziges
Element will ihm nicht die natürlichen Gesetze offenbaren,
nach denen es im Kunstwerke wirkt: das Kolorit. Mehrere
Gemälde werden «in seiner Gegenwart erfunden und
komponiert, die Teile, der Stellung und der Form nach,
sorgfältig durchstudiert». Die Künstler
können ihm Rechenschaft geben, wie sie bei der Komposition
verfahren. Sobald aber die Rede aufs Kolorit kommt, da scheint
alles von der Willkür abzuhängen. Niemand weiß,
welcher Bezug zwischen Farbe und Helldunkel, und zwischen den
einzelnen Farben herrscht. Worauf es beruht, daß Gelb
einen warmen und behaglichen Eindruck macht, Blau die
Empfindung der Kälte hervorruft, daß Gelb und Rotblau
nebeneinander eine harmonische Wirkung hervorbringen,
darüber kann Goethe keinen Aufschluß gewinnen. Er
sieht ein, daß er sich mit der Gesetzmäßigkeit
der Farbenwelt in der Natur erst bekannt machen
muß, um von da aus in die Geheimnisse des Kolorits
einzudringen.
Weder die Begriffe über die physische Natur der
Farbenerscheinungen, die Goethe von seiner Studienzeit her noch
im Gedächtnis hatte, noch die physikalischen Kompendien,
die er um Rat fragte, erwiesen sich für seinen Zweck als
fruchtbar. «Wie alle Welt war ich überzeugt, daß
die sämtlichen Farben im Licht enthalten seien; nie war es
mir anders gesagt worden und niemals hatte ich die geringste
Ursache gefunden, daran zu zweifeln, weil ich bei der Sache
nicht weiter interessiert war» («Konfession des
Verfassers », Kürschner, Band 36/2). Als er aber
anfing, interessiert zu sein, da fand er, daß er aus
dieser Ansicht nichts für seinen Zweck entwickeln konnte.
Der Begründer dieser Ansicht, die Goethe bei den
Naturforschern herrschend fand und die heute noch dieselbe
Stellung einnimmt, ist Newton. Sie behauptet, das weiße
Licht, wie es von der Sonne ausgeht, ist aus farbigen Lichtern
zusammengesetzt. Die Farben entstehen dadurch, daß die
einzelnen Bestandteile aus dem weißen Lichte ausgesondert
werden. Läßt man durch eine kleine runde Öffnung
Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer treten, und fängt es auf
einem weißen Schirme, der senkrecht gegen die Richtung des
einfallenden Lichtes gestellt wird, aut., so erhält man
ein weißes Sonnenbild. Stellt man zwischen die
Öffnung und den Schirm ein Glasprisma, durch welches das
Licht durchstrahlt, so verändert sich das weiße runde
Sonnenbild. Es erscheint verschoben, in die Länge gezogen
und farbig. Man nennt dieses Bild Sonnenspektrum. Bringt man
das Prisma so an, daß die oberen Partien des Lichtes einen
kürzeren Weg innerhalb der Glasmasse zurückzulegen
haben als die unteren, so ist das farbige Bild nach unten
verschoben. Der obere Rand des Bildes ist rot, der untere
violett; das Rote geht nach unten in Gelb, das Violette nach
oben in Blau über; die mittlere Partie des Bildes ist im
allgemeinen weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des
Schirmes vom Prisma verschwindet das Weiße in der Mitte
vollständig; das ganze Bild erscheint farbig, und zwar von
oben nach unten in der Folge: rot, orange, gelb, grün,
hellblau, indigo, violett. Aus diesem Versuche schließen
Newton und seine Anhänger, daß die Farben
ursprünglich in dem weißen Lichte enthalten seien,
aber miteinander vermischt. Durch das Prisma werden sie
voneinander gesondert. Sie haben die Eigenschaft, beim
Durchgange durch einen durchsichtigen Körper verschieden
stark von ihrer Richtung abgelenkt, das heißt gebrochen zu
werden. Das rote Licht wird am wenigsten, das violette am
meisten gebrochen. Nach der Stufenfolge ihrer Brechbarkeit
erscheinen sie im Spektrum. Betrachtet man einen schmalen
Papierstreifen auf schwarzem Grunde durch das Prisma, so
erscheint derselbe ebenfalls abgelenkt. Er ist zugleich breiter
und an seinen Rändern farbig. Der obere Rand erscheint
violett, der untere rot; das Violette geht auch hier ins Blaue,
das Rote ins Gelbe über; die Mitte ist im allgemeinen
weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des Prismas von
dem Streifen erscheint dieser ganz farbig. In der Mitte
erscheint wieder das Grün. Auch hier soll das Weiße
des Papierstreifens in seine farbigen Bestandteile zerlegt
sein. Daß nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes
oder Streifens vom Prisma alle Farben erscheinen, während
sonst die Mitte weiß ist, erklären die Newtonianer
einfach. Sie sagen: in der Mitte fallen die stärker
abgelenkten Lichter vom oberen Teil des Bildes mit den
schwächer abgelenkten vom unteren zusammen und vermischen
sich zu Weiß. Nur an den Rändern erscheinen die
Farben, weil hier in die am schwächsten abgelenkten
Lichtteile keine stärker abgelenkten von oben und in die
am stärksten abgelenkten keine schwächer abgelenkten
von unten hineinfallen können.
Dies ist die Ansicht, aus der Goethe für seinen Zweck
nichts entwickeln kann. Er will deshalb die Erscheinungen
selbst beobachten. Er wendet sich an Hofrat Büttner in
Jena, der ihm die Apparate leihweise überläßt,
mit denen er die nötigen Versuche anstellen kann. Er ist
zunächst mit anderen Arbeiten beschäftigt und will,
auf Büttners Drängen, die Apparate wieder
zurückgeben. Vorher nimmt er doch noch ein Prisma zur
Hand, um durch dasselbe auf eine völlig geweißte Wand
zu sehen. Er erwartet, daß sie in verschiedenen Stufen
gefärbt erscheine. Aber sie bleibt weiß. Nur an den
Stellen, wo das Weiße an Dunkles stößt, treten
Farben auf. Die Fensterstäbe erscheinen in den
allerlebhaftesten Farben. Aus diesen Beobachtungen glaubt
Goethe zu erkennen, daß die Newtonsche Anschauung falsch
sei, daß die Farben nicht im weißen Lichte enthalten
seien. Die Grenze, das Dunkle, müsse mit der Entstehung
der Farben etwas zu tun haben. Er setzt die Versuche fort.
Weiße Flächen auf schwarzem und schwarze Flächen
auf weißem Grunde werden betrachtet. Allmählich
bildet er sich eine eigene Ansicht. Eine weiße Scheibe auf
schwarzem Grunde erscheint beim Durchblicken durch das Prisma
verschoben. Die oberen Partien der Scheibe, meint Goethe,
schieben sich über das angrenzende Schwarz des
Untergrundes; während sich dieser Untergrund über die
unteren Partien der Scheibe hinzieht. Sieht man nun durch das
Prisma, so erblickt man durch den oberen Scheibenteil den
schwarzen Grund wie durch einen weißen Schleier. Besieht
man sich den unteren Teil der Scheibe, so scheint dieser durch
das übergelagerte Dunkel hindurch. Oben wird ein Helles
über ein Dunkles geführt; unten ein Dunkles über
ein Helles. Der obere Rand erscheint blau, der untere gelb. Das
Blau geht gegen das Schwarze zu in Violett; das Gelbe nach
unten in ein Rot über. Wird das Prisma von der
beobachteten Scheibe entfernt, so verbreitern sich die farbigen
Ränder; das Blau nach unten, das Gelb nach oben. Bei
hinreichender Entfernung greift das Gelb von unten über
das Blau von oben; durch das Übereinandergreifen entsteht
in der Mitte Grün. Zur Bestätigung dieser Ansicht
betrachtet Goethe eine schwarze Scheibe auf weißem Grunde
durch das Prisma. Nun wird oben ein Dunkles über ein
Helles, unten ein Helles über ein Dunkles geführt.
Oben erscheint Gelb, unten Blau. Bei Verbreiterung der
Ränder durch Entfernung des Prismas von der Scheibe wird
das untere Blau, das allmählich gegen die Mitte zu in
Violett übergeht, über das obere Gelb, das in seiner
Verbreiterung nach und nach einen roten Ton erhält,
geführt. Es entsteht in der Mitte Pfirsichblüt.
Goethe sagte sich: was für die weiße Scheibe richtig
ist, muß auch für die schwarze gelten. «Wenn
sich dort das Licht in so vielerlei Farben auflöst... so
müßte ja hier auch die Finsternis als in Farben
aufgelöst angesehen werden.» («Konfession des
Verfassers »,Kürschner, Band 36/2.) Goethe teilt nun
seine Beobachtungen und die Bedenken, die ihm daraus gegen die
Newtonsche Anschauung erwachsen sind, einem ihm bekannten
Physiker mit. Dieser erklärt die Bedenken für
unbegründet. Er leitete die farbigen Ränder und das
Weiße in der Mitte, sowie dessen Übergang in
Grün, bei gehöriger Entfernung des Prismas von dem
beobachteten Objekt, im Sinne der Newtonschen Ansicht ab.
Ähnlich verhalten sich andere Naturforscher, denen Goethe
die Sache vorlegt. Er setzt die Beobachtungen, für die er
gerne Beihilfe von kundigen Fachleuten gehabt hätte,
allein fort. Er läßt ein großes Prisma aus
Spiegelscheiben zusammensetzen, das er mit reinem Wasser
anfüllt. Weil er bemerkt, daß die gläsernen
Prismen, deren Querschnitt ein gleichseitiges Dreieck ist,
wegen der starken Verbreiterung der Farbenerscheinung dem
Beobachter oft hinderlich sind, läßt er seinem
großen Prisma den Querschnitt eines gleichschenkeligen
Dreieckes geben, dessen kleinster Winkel nur fünfzehn bis
zwanzig Grade groß ist. Die Versuche, welche in der Weise
angestellt werden, daß das Auge durch das Prisma auf einen
Gegenstand blickt, nennt Goethe subjektiv. Sie stellen
sich dem Auge dar, sind aber nicht in der Außenwelt
fixiert. Er will zu diesen noch objektive hinzufügen. Dazu
bedient er sich des Wasserprismas. Das Licht scheint durch ein
Prisma durch, und hinter dem Prisma wird das Farbenbild auf
einem Schirme aufgefangen. Goethe läßt nun das
Sonnenlicht durch die Öffnungen ausgeschnittener Pappen
hindurchgehen. Er erhält dadurch einen erleuchteten Raum,
der ringsherum von Dunkelheit begrenzt ist. Diese begrenzte
Lichtmasse geht durch das Prisma und wird durch dasselbe von
ihrer Richtung abgelenkt. Hält man der aus dem Prisma
kommenden Lichtmasse einen Schirm entgegen, so entsteht auf
demselben ein Bild, das im allgemeinen an den Rändern oben
und unten gefärbt ist. Ist das Prisma so gestellt,
daß sein Querschnitt von oben nach unten schmäler
wird, so ist der obere Rand des Bildes blau, der untere gelb
gefärbt. Das Blau geht gegen den dunklen Raum in Violett,
gegen die helle Mitte zu in Hellblau über; das Gelbe gegen
die Dunkelheit zu in Rot. Auch bei dieser Erscheinung leitet
Goethe die Farbenerscheinung von der Grenze her. Oben strahlt
die helle Lichtmasse in den dunklen Raum hinein; sie erhellt
ein Dunkles, das dadurch blau erscheint. Unten strahlt der
dunkle Raum in die Lichtmasse hinein; er verdunkelt ein Helles
und läßt es gelb erscheinen. Durch Entfernung des
Schirmes von dem Prisma werden die Farbenränder breiter,
das Gelbe nähert sich dem Blauen. Durch Einstrahlung des
Blauen in das Gelbe erscheint bei hinlänglicher Entfernung
des Schirmes vom Prisma in der Mitte des Bildes Grün.
Goethe macht sich das Hineinstrahlen des Hellen in das Dunkle
und des Dunklen in das Helle dadurch anschaulich, daß er
in der Linie, in welcher die Lichtmasse durch den dunklen Raum
geht, eine weiße feine Staubwolke erregt, die er durch
feinen trockenen Haarpuder hervorbringt. «Die mehr oder
weniger gefärbte Erscheinung wird nun durch die
weißen Atome aufgefangen und dem Auge in ihrer ganzen
Breite und Länge dargestellt.» (Farbenlehre,
didaktischer Teil § 326.) Goethe findet seine Ansicht, die
er an den subjektiven Erscheinungen gewonnen, durch die
objektiven bestätigt. Die Farben werden durch das
Zusammenwirken von Hell und Dunkel hervorgebracht. Das Prisma
dient nur dazu, Hell und Dunkel übereinander zu
schieben.
*
Goethe kann, nachdem er diese Versuche gemacht hat, die
Newtonische Ansicht nicht zu der seinigen machen. Es geht ihm
mit ihr ähnlich, wie mit der Hallerschen
Einschachtelungslehre. Wie diese den ausgebildeten Organismus
bereits mit allen seinen Teilen im Keime enthalten denkt, so
glauben die Newtonianer, daß die Farben, die unter
gewissen Bedingungen am Lichte erscheinen, in diesem schon
eingeschlossen seien. Er könnte gegen diesen Glauben
dieselben Worte gebrauchen, die er der Einschachtelungslehre
entgegengehalten hat, sie «beruhe auf einer bloßen
außersinnlichen Einbildung, auf einer Annahme, die man zu
denken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen
kann.» Vgl. den Aufsatz über K. Fr. Wolff,
Kürschner, Band 33.) Ihm sind die Farben Neubildungen, die
an dem Lichte entwickelt werden, nicht Wesenheiten, die aus dem
Lichte bloß ausgewickelt werden. Wegen seiner «der
Idee gemäßen Denkweise» muß er die
Newtonsche Ansicht ablehnen. Diese kennt das Wesen des Ideellen
nicht. Nur was tatsächlich vorhanden ist, erkennt sie an.
Was in derselben Weise vorhanden ist wie das
Sinnlich-Wahrnehmbare. Und wo sie die Tatsächlichkeit
nicht durch die Sinne nachweisen kann, da nimmt sie dieselbe
hypothetisch an. Weil am Lichte die Farben sich entwickeln,
also der Idee nach schon in demselben enthalten sein
müssen, glaubt sie, sie seien auch tatsächlich,
materiell in demselben enthalten und werden durch das Prisma
und die dunkle Umgrenzung nur hervorgeholt. Goethe weiß,
daß die Idee in der Sinnenwelt wirksam ist; deshalb
versetzt er etwas, was als Idee vorhanden ist, nicht in den
Bereich des Tatsächlichen. In der unorganischen Natur
wirkt das Ideelle ebenso wie in der organischen, nur nicht als
sinnlich-übersinnliche Form. Seine äußere
Erscheinung ist ganz materiell, bloß sinnlich. Es dringt
nicht ein in das Sinnliche; es durchgeistigt dieses nicht. Die
Vorgänge der unorganischen Natur verlaufen
gesetzmäßig, und diese Gesetzmäßigkeit
stellt sich dem Beobachter als Idee dar. Wenn man an einer
Stelle des Raumes weißes Licht und an einer andern Farben
wahrnimmt, die an demselben entstehen, so besteht zwischen den
beiden Wahrnehmungen ein gesetzmäßiger Zusammenhang,
der als Idee vorgestellt werden kann. Wenn aber jemand diese
Idee verkörperlicht und als Tatsächliches in den Raum
hinaus versetzt, das von dem Gegenstande der einen Wahrnehmung
in den der andern hinüberzieht, so entspringt das aus
einer grobsinnlichen Vorstellungsweise. Dieses Grobsinnliche
ist es, was Goethe von der Newtonschen Anschauung
zurückstößt. Die Idee ist es, die einen
unorganischen Vorgang in den andern hinüberleitet, nicht
ein Tatsächliches, das von dem einen zu dem andern
wandert.
Die
Goethesche Weltanschauung kann nur zwei Quellen für alle
Erkenntnis der unorganischen Naturvorgänge anerkennen:
dasjenige, was an diesen Vorgängen sinnlich wahrnehmbar
ist, und die ideellen Zusammenhänge des
Sinnlich-Wahrnehmbaren, die sich dem Denken offenbaren. Die
ideellen Zusammenhänge innerhalb der Sinneswelt sind nicht
gleicher Art. Es gibt solche, die unmittelbar einleuchtend
sind, wenn sinnliche Wahrnehmungen nebeneinander oder
nacheinander auftreten, und andere, die man erst durchschauen
kann, wenn man sie auf solche der ersten Art
zurückführt. In der Erscheinung, die sich dem Auge
darbietet, wenn es ein Dunkles durch ein Helles ansieht und
Blau wahrnimmt, glaubt Goethe einen Zusammenhang der ersten Art
zwischen Licht, Finsternis und Farbe zu erkennen. Ebenso ist
es, wenn Helles durch ein Dunkles angeschaut, gelb ergibt. Die
Randerscheinungen des Spektrums lassen einen Zusammenhang
erkennen, der durch unmittelbares Beobachten klar wird. Das
Spektrum, das in einer Stufenfolge sieben Farben vom Rot bis
zum Violett zeigt, kann nur verstanden werden, wenn man sieht,
wie zu den Bedingungen, durch welche die Randerscheinungen
entstehen, andere hinzugefügt werden. Die einfachen
Randerscheinungen haben sich in dem Spektrum zu einem
komplizierten Phänomen verbunden, das nur verstanden
werden kann, wenn man es aus den Grunderscheinungen ableitet.
Was in dem Grundphänomen in seiner Reinheit vor dem
Beobachter steht, das erscheint in dem komplizierten, durch die
hinzugefügten Bedingungen, unrein, modifiziert. Die
einfachen Tatbestände sind nicht mehr unmittelbar zu
erkennen. Goethe sucht daher die komplizierten Phänomene
überall auf die einfachen, reinen
zurückzuführen. In dieser Zurückführung
sieht er die Erklärung der unorganischen Natur. Vom reinen
Phänomen geht er nicht mehr weiter. In demselben offenbart
sich ein ideeller Zusammenhang sinnlicher Wahrnehmungen, der
sich durch sich selbst erklärt. Das reine Phänomen
nennt Goethe Urphänomen. Er sieht es als mäßige
Spekulation an, über das Urphänomen weiter
nachzudenken. «Der Magnet ist ein Urphänomen, das man
nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben.»
(Sprüche in Prosa, Kürschner, Band 36.) Ein
zusammengesetztes Phänomen wird erklärt, wenn man
zeigt, wie es sich aus Urphänomenen aufbaut.
Die
moderne Naturwissenschaft verfährt anders als Goethe. Sie
will die Vorgänge in der Sinnenwelt auf Bewegungen
kleinster Körperteile zurückführen und bedient
sich zur Erklärung dieser Bewegungen derselben Gesetze,
durch die sie die Bewegungen begreift, die sichtbar im Raume
vor sich gehen. Diese sichtbaren Bewegungen zu erklären,
ist Aufgabe der Mechanik. Wird die Bewegung eines Körpers
beobachtet, so fragt die Mechanik: Durch welche Kraft ist er in
Bewegung versetzt worden; welchen Weg legt er in einer
bestimmten Zeit zurück; welche Form hat die Linie, in der
er sich bewegt usw. Die Beziehungen der Kraft, des
zurückgelegten Weges, der Form der Bahn sucht sie
mathematisch darzustellen. Nun sagt der Naturforscher: Das rote
Licht kann auf eine schwingende Bewegung kleinster
Körperteile zurückgeführt werden, die sich im
Raume fortpflanzt. Begriffen wird diese Bewegung dadurch,
daß man die in der Mechanik gewonnenen Gesetze auf sie
anwendet. Die Wissenschaft der unorganischen Natur betrachtet
es als ihr Ziel, allmählich vollständig in
angewandte Mechanik überzugehen.
Die
moderne Physik fragt nach der Anzahl der Schwingungen in der
Zeiteinheit, welche einer bestimmten Farbenqualität
entsprechen. Aus der Anzahl der Schwingungen, die dem Rot
entsprechen und aus derjenigen, welche dem Violett entsprechen,
sucht sie den physikalischen Zusammenhang der beiden Farben zu
bestimmen. Vor ihren Blicken verschwindet das Qualitative; sie
betrachtet das Räumliche und Zeitliche der Vorgänge.
Goethe fragt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Rot und
Violett, wenn man vom Räumlichen und Zeitlichen absieht
und bloß das Qualitative der Farben betrachtet. Die
Goethesche Betrachtungsweise hat zur Voraussetzung, daß
das Qualitative wirklich auch in der Außenwelt vorhanden
ist und mit dem Zeitlichen und Räumlichen ein untrennbares
Ganzes ist. Die moderne Physik muß dagegen von der
Grundanschauung ausgehen, daß in der Außenwelt nur
Quantitatives, licht- und farblose Bewegungsvorgänge
vorhanden seien, und daß alles Qualitative erst als
Wirkung des Quantitativen auf den sinn- und geistbegabten
Organismus entstehe. Wäre diese Annahme richtig, dann
könnten die gesetzmäßigen Zusammenhänge des
Qualitativen auch nicht in der Außenwelt gesucht, sie
mußten aus dem Wesen der Sinneswerkzeuge, des
Nervenapparates und des Vorstellungsorganes abgeleitet werden.
Die qualitativen Elemente der Vorgänge wären dann
nicht Gegenstand der physikalischen Untersuchung, sondern der
physiologischen und psychologischen. Dieser Voraussetzung
gemäß verfährt die moderne Naturwissenschaft.
Der Organismus übersetzt, nach ihrer Ansicht, entsprechend
der Einrichtung seiner Augen, seines Sehnervs und seines
Gehirns einen Bewegungsvorgang in die Empfindung des Rot, einen
andern in die des Violett. Daher ist alles Äußere der
Farbenwelt erklärt, wenn man den Zusammenhang der
Bewegungsvorgänge durchschaut hat, von denen diese Welt
bestimmt wird. Ein Beweis für diese Ansicht wird in
folgender Beobachtung gesucht. Der Sehnerv empfindet jeden
äußeren Eindruck als Lichtempfindung. Nicht nur
Licht, sondern auch ein Stoß oder Druck auf das Auge, eine
Zerrung der Netzhaut bei schneller Bewegung des Auges, ein
elektrischer Strom, der durch den Kopf geleitet wird: das alles
bewirkt Lichtempfindung. Dieselben Dinge empfindet ein anderer
Sinn in anderer Weise. Stoß, Druck, Zerrung, elektrischer
Strom bewirken, wenn sie die Haut erregen, Tastempfindungen.
Elektrizität erregt im Ohr eine Gehör-, auf der Zunge
eine Geschmacksempfindung. Daraus schließt man, daß
der Empfindungsinhalt, der im Organismus durch eine Einwirkung
von außen auftritt, verschieden ist von dem
äußeren Vorgange, durch den er veranlaßt wird.
Die rote Farbe wird von dem Organismus nicht empfunden, weil
sie an einen entsprechenden Bewegungsvorgang draußen im
Raume gebunden ist, sondern weil Auge, Sehnerv und Gehirn des
Organismus so eingerichtet sind, daß sie einen farblosen
Bewegungsvorgang in eine Farbe übersetzen. Das hiermit
ausgesprochene Gesetz wurde von dem Physiologen Johannes
Müller, der es zuerst aufgestellt hat, das Gesetz der
spezifischen Sinnesenergien genannt.
Die
angeführte Beobachtung beweist nur, daß der sinn- und
geistbegabte Organismus die verschiedenartigsten Eindrücke
in die Sprache der Sinne übersetzen kann, auf die sie
ausgeübt werden. Nicht aber, daß der Inhalt jeder
Sinnesempfindung auch nur im Innern des Organismus vorhanden
ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht eine unbestimmte,
ganz allgemeine Erregung, die nichts enthält, was
veranlaßt, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen.
Eine Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck
entsteht, ist inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem
Räumlich-Zeitlichen, das ihr entspricht. Die Bewegung
eines Körpers und seine Farbe sind auf ganz gleiche Weise
Wahmehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung für sich
vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst an
dem Körper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle
übrigen mechanischen und mathematischen Vorstellungen der
Wahrnehmungswelt entnommen. Mathematik und Mechanik entstehen
dadurch, daß von dem Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil
ausgesondert und für sich betrachtet wird. In der
Wirklichkeit gibt es keine Gegenstände oder Vorgänge,
deren Inhalt erschöpft ist, wenn man das an ihnen
begriffen hat, was durch Mathematik und Mechanik
auszudrücken ist. Alles Mathematische und Mechanische ist
an Farbe, Wärme und andere Qualitäten gebunden. Wenn
der Physik nötig ist, anzunehmen, daß der Wahrnehmung
einer Farbe Schwingungen im Raume entsprechen, denen eine sehr
kleine Ausdehnung und eine sehr große Geschwindigkeit
eigen ist, so können diese Bewegungen nur analog den
Bewegungen gedacht werden, die sichtbar im Raume vorgehen. Das
heißt, wenn die Körperwelt bis in ihre kleinsten
Elemente bewegt gedacht wird, so muß sie auch bis in ihre
kleinsten Elemente hinein mit Farbe, Wärme und andern
Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben,
Wärme, Töne usw. als Qualitäten auffaßt,
die als Wirkungen äußerer Vorgänge durch den
vorstellenden Organismus nur im Innern desselben existieren,
der muß auch alles Mathematische und Mechanische, das mit
diesen Qualitäten zusammenhängt, in dieses Innere
verlegen. Dann aber bleibt ihm für seine Außenwelt
nichts mehr übrig. Das Rot, das ich sehe, und die
Lichtschwingungen die der Physiker als diesem Rot entsprechend
nachweist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der
abstrahierende Verstand voneinander trennen kann. Die
Schwingungen im Raume, die der Qualität «Rot»
entsprechen, würde ich als Bewegung sehen, wenn mein Auge
dazu organisiert wäre. Aber ich würde verbunden mit
der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.
Die
moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirkliches Abstraktum,
ein aller Empfindungsqualitäten entkleidetes, schwingendes
Substrat in den Raum und wundert sich, daß nicht begriffen
werden kann, was den vorstellenden mit Nervenapparaten und
Gehirn ausgestatteten Organismus veranlassen kann, diese
gleichgültigen Bewegungsvorgänge in die bunte, von
Wärmegraden und Tönen durchsetzte Sinnenwelt zu
übersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der
Mensch wegen einer unüberschreitbaren Grenze seines
Erkennens nie verstehen werde, wie die Tatsache: «ich
schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton,
sehe Rot», zusammenhängt mit bestimmten Bewegungen
kleinster Körperteile im Gehirn, welche Bewegungen wieder
veranlaßt werden durch die Schwingungen der geschmack-,
geruch-, ton- und farbenlosen Elemente der äußeren
Körperwelt. «Es ist eben durchaus und für immer
unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-,
Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte
gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie
sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen
werden.» («Grenzen des Naturerkennens», Leipzig
1882, S.33f.) Es liegt aber hier durchaus keine
Erkenntnisgrenze vor. Wo im Raume eine Anzahl von Atomen in
einer bestimmten Bewegung ist, da ist notwendig auch eine
bestimmte Qualität (z.B. Rot) vorhanden. Und umgekehrt, wo
Rot auftritt, da muß die Bewegung vorhanden sein. Nur das
abstrahierende Denken kann das eine von dem andern trennen. Wer
die Bewegung von dem übrigen Inhalte des Vorganges, zu dem
die Bewegung gehört, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt,
der kann den Übergang von dem einen zu dem andern nicht
wieder finden.
Nur
was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung
abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und
Lichtwelt angehört, kann auch nur auf ein ebensolches
Qualitatives innerhalb desselben Gebietes
zurückgeführt werden. Die Mechanik führt
zusammengesetzte Bewegungen auf einfache zurück, die
unmittelbar begreiflich sind. Die Farbentheorie muß
komplizierte Farbenerscheinungen auf einfache
zurückführen, die in gleicher Weise durchschaut
werden können. Ein einfacher Bewegungsvorgang ist ebenso
ein Urphänomen, wie das Entstehen des Gelben aus dem
Zusammenwirken von Hell und Dunkel. Goethe weiß, was die
mechanischen Urphänomene für die Erklärung der
unorganischen Natur leisten können. Was innerhalb der
Körperwelt nicht mechanisch ist, das führt er auf
Urphänomene zurück, die nicht mechanischer Art sind.
Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, er habe die mechanische
Betrachtung der Natur verworfen und sich nur auf die
Beobachtung und Aneinanderreihung des Sinnlich-Anschaulichen
beschränkt. Vgl. z.B. Harnack in seinem Buche «Goethe
in der Epoche seiner Vollendung», S. 12) Du Bois-Reymond
findet («Goethe und kein Ende», Leipzig 1883, S.29):
«Goethes Theoretisieren beschränkt sich darauf, aus
einem Urphänomen, wie er es nennt, andere Phänomene
hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild dem andern folgt,
ohne einleuchtenden ursächlichen Zusammenhang. Der
Begriff der mechanischen Kausalität war es, der Goethe
gänzlich abging.» Was tut aber die Mechanik
anderes, als verwickelte Vorgänge aus einfachen
Urphänomenen hervorgehen lassen? Goethe hat auf dem
Gebiete der Farbenwelt genau dasselbe gemacht, was der
Mechaniker im Gebiete der Bewegungsvorgänge leistet. Weil
Goethe nicht der Ansicht ist, alle Vorgänge in der
unorganischen Natur seien rein mechanische, deshalb hat man ihm
den Begriff der mechanischen Kausalität aberkannt. Wer das
tut, der zeigt nur, daß er selbst im Irrtum darüber
ist, was mechanische Kausalität innerhalb der
Körperwelt bedeutet. Goethe bleibt innerhalb des
Qualitativen der Licht- und Farbenwelt stehen; das
Quantitative, Mechanische, das mathematisch auszudrücken
ist, überläßt er andern. Er «hat die
Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten
gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich genug ergeben,
wo die Beihilfe der Meßkunst wünschenswert sein
würde ... Aber so mag auch dieser Mangel zum Vorteil
gereichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathematikers
Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die
Farbenlehre seiner Hilfe bedarf, und wie er zur Vollendung
dieses Teils der Naturlehre das Seinige betragen kann.»
(§ 727 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.) Die
qualitativen Elemente des Gesichtssinnes: Licht, Finsternis,
Farben müssen erst aus ihren eigenen Zusammenhängen
begriffen, auf Urphänomene zurückgeführt werden;
dann kann auf einer höheren Stufe des Denkens untersucht
werden, welcher Bezug besteht zwischen diesen
Zusammenhängen und dem Quantitativen, dem
Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbenwelt. Die
Zusammenhänge innerhalb des Qualitativen der Farbenwelt
will Goethe in ebenso strengem Sinne auf die einfachsten
Elemente zurückführen, wie das der Mathematiker oder
Mechaniker auf seinem Gebiete tut. Die
«Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans
Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem
Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu
lernen und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen,
müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem
strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig
wären. - Denn eigentlich ist es die mathematische
Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit
gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre
Beweise sind eigentlich nur umständliche
Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung
vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in
seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem ganzen Umfange
übersehen und unter allen Bedingungen richtig und
unumstößlich erfunden worden.» (« Der
Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt»
Kürschner, Band 34).
*
Goethe entnimmt die Erklärungsprinzipien für die
Erscheinungen unmittelbar aus dem Bereich der Beobachtung. Er
zeigt, wie innerhalb der erfahrbaren Welt die
Erscheinungen zusammenhängen. Vorstellungen, welche
über das Gebiet der Beobachtung hinausweisen, lehnt er
für die Naturauffassung ab. Alle Erklärungsarten, die
das Feld der Erfahrung dadurch überschreiten, daß sie
für die Naturerklärung Faktoren herbeiziehen, die
ihrer Wesenheit nach nicht beobachtbar sind, widersprechen der
Goetheschen Weltanschauung. Eine solche Erklärungsart ist
diejenige, welche das Wesen des Lichtes in einem Lichtstoff
sucht, der als solcher nicht selbst wahrgenommen, sondern nur
in seiner Wirkungsweise als Licht beobachtet werden kann. Auch
gehört zu diesen Erklärungsarten die in der modernen
Naturwissenschaft herrschende, nach welcher die
Bewegungsvorgänge der Lichtwelt nicht von den
wahrnehmbaren Qualitäten, die dem Gesichtssinn gegeben
sind, sondern von den kleinsten Teilen des nicht wahrnehmbaren
Stoffes ausgeführt werden. Es widerspricht der Goetheschen
Weltanschauung nicht, sich vorzustellen, daß eine
bestimmte Farbe mit einem bestimmten Bewegungsvorgang im Raume
verknüpft sei. Aber es widerspricht ihr durchaus, wenn
behauptet wird, dieser Bewegungsvorgang gehöre einem
außerhalb der Erfahrung gelegenen Wirklichkeitsgebiete an,
der Welt des Stoffes, die zwar in ihren Wirkungen, nicht aber
ihrer eigenen Wesenheit nach beobachtet werden kann. Für
einen Anhänger der Goetheschen Weltanschauung sind die
Lichtschwingungen im Raume Vorgänge, denen keine andere
Art von Wirklichkeit zukommt als dem übrigen
Wahmehmungsinhalt. Sie entziehen sich der unmittelbaren
Beobachtung nicht deshalb, weil sie jenseits des Gebietes der
Erfahrung liegen, sondern weil die menschlichen Sinnesorgane
nicht so fein organisiert sind, daß sie Bewegungen von
solcher Kleinheit noch unmittelbar wahrnehmen. Wäre ein
Auge so organisiert, daß es das Hin- und Herschwingen
eines Dinges, das in einer Sekunde sich vierhundert
billionenmal wiederholt, noch in allen Einzelheiten beobachten
könnte, so würde sich ein solcher Vorgang genau so
darstellen wie einer der grobsinnlichen Welt. Das heißt,
das schwingende Ding würde dieselben Eigenschaften zeigen,
wie andere Wahrnehmungsdinge. Jede Erklärungsart, welche
die Dinge und Vorgänge der Erfahrung aus anderen, nicht
innerhalb des Erfahrungsfeldes gelegenen ableitet, kann zu
inhaltvollen Vorstellungen von diesem jenseits der Beobachtung
befindlichen Wirklichkeitsgebiete nur dadurch gelangen,
daß sie gewisse Eigenschaften aus der Erfahrungswelt
entlehnt und auf das Unerfahrbare überträgt. So
überträgt der Physiker Härte,
Undurchdringlichkeit auf die kleinsten Körperelemente,
denen er außerdem noch die Fähigkeit zuschreibt,
ihresgleichen anzuziehen und abzustoßen; dagegen erkennt
er diesen Elementen Farbe, Wärme und andere Eigenschaften
nicht zu. Er glaubt einen erfahrbaren Vorgang der Natur dadurch
zu erklären, daß er ihn auf einen nicht erfahrbaren
zurückführt. Nach Du Bois-Reymonds Ansicht ist
Naturerkennen Zurückführen der Vorgänge in der
Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren
anziehende und abstoßende Kräfte bewirkt werden
(«Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1882, S. 10).
Als das Bewegliche wird dabei die Materie, der den Raum
erfüllende Stoff, angenommen. Dieser Stoff soll von
Ewigkeit her dagewesen sein und wird in alle Ewigkeit hinein da
sein. Dem Gebiete der Beobachtung soll aber die Materie nicht
angehören, sondern jenseits desselben vorhanden sein. Du
Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der Mensch unfähig
sei, das Wesen der Materie selbst zu erkennen, daß er also
die Vorgänge der Körperwelt auf etwas
zurückführe, dessen Natur ihm immer unbekannt bleiben
wird. «Nie werden wir besser als heute wissen, was hier im
Raume, wo Materie ist, spukt.» («Grenzen des
Naturerkennens», S.22.) Vor einer genauen Überlegung
löst sich dieser Begriff der Materie in Nichts auf Der
wirkliche Inhalt, den man diesem Begriffe gibt, ist aus der
Erfahrungswelt entlehnt. Man nimmt Bewegungen innerhalb der
Erfahrungswelt wahr. Man fühlt einen Zug, wenn man ein
Gewicht in der Hand hält, und einen Druck, wenn man auf
die horizontal hingehaltenene Handfläche ein Gewicht legt.
Um diese Wahrnehmung zu erklären, bildet man den Begriff
der Kraft. Man stellt sich vor, daß die Erde das Gewicht
anzieht. Die Kraft selbst kann nicht wahrgenommen werden. Sie
ist ideell. Sie gehört aber doch dem Beobachtungsgebiete
an. Der Geist beobachtet sie, weil er die ideellen Bezüge
der Wahrnehmungen untereinander anschaut. Zu dem Begriffe einer
Abstoßungskraft wird man geführt, wenn man ein
Stück Kautschuk zusammendrückt, und es sich dann
selbst überläßt. Es stellt sich in seiner
früheren Gestalt und Größe wieder her. Man
stellt sich vor, die zusammengedrängten Teile des
Kautschuks stoßen sich ab und nehmen den früheren
Rauminhalt wieder ein. Solche aus der Beobachtung
geschöpfte Vorstellungen überträgt die
angedeutete Denkart auf das unerfahrbare Wirklichkeitsgebiet.
Sie tut in Wirklichkeit also nichts, als ein Erfahrbares aus
einem andern Erfahrbaren herleiten. Nur versetzt sie
willkürlich das letztere in das Gebiet des Unerfahrbaren.
Jeder Vorstellungsart, die innerhalb der Naturanschauung von
einem Unerfahrbaren spricht, ist nachzuweisen, daß sie
einige Lappen aus dem Gebiete der Erfahrung aufnimmt und in ein
jenseits der Beobachtung gelegenes Wirklichkeitsgebiet
verweist. Nimmt man die Erfahrungslappen aus der Vorstellung
des Unerfabrbaren heraus, so bleibt ein inhaltloser Begriff,
ein Unbegriff, zurück. Die Erklärung eines
Erfahrbaren kann nur darin bestehen, daß man es auf ein
anderes Erfahrbares zurückführt. Zuletzt gelangt man
zu Elementen innerhalb der Erfahrung, die nicht mehr auf andere
zurückgeführt werden können. Diese sind nicht
weiter zu erklären, weil sie keiner Erklärung
bedürftig sind. Sie enthalten ihre Erklärung in sich
selbst. Ihr unmittelbares Wesen besteht in dem, was sie der
Beobachtung darbieten. Ein solches Element ist für Goethe
das Licht. Nach seiner Ansicht hat das Licht erkannt, wer es
unbefangen in der Erscheinung wahrnimmt. Die Farben entstehen
am Lichte und ihre Entstehung wird begriffen, wenn man zeigt,
wie sie an demselben entstehen. Das Licht selbst ist in
unmittelbarer Wahrnehmung gegeben. Was in ihm ideell veranlagt
ist, erkennt man, wenn man beobachtet, welcher Zusammenhang
zwischen ihm und den Farben ist. Nach dem Wesen des Lichtes zu
fragen, nach einem Unerfahrbaren, das der Erscheinung
«Licht» entspricht, ist vom Standpunkte der
Goetheschen Weltanschauung aus unmöglich. «Denn
eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges
auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine
vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl
allenfalls das Wesen jenes Dinges.» Das heißt eine
vollständige Darstellung der Wirkungen eines Erfahrbaren
umfaßt alle Erscheinungen, die in ihm ideell
veranlagt sind. «Vergebens bemühen wir uns, den
Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine
Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters
wird uns entgegentreten. - Die Farben sind Taten des Lichtes,
Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben
Aufschlüsse über das Licht erwarten.»
(Didaktischer Teil der Farbenlehre.
Vorwort.)
*
Das
Licht stellt sich der Beobachtung dar als « das
einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, Jas wir
kennen.» (Briefwechsel mit Jacobi, S. 167.) Ihm
entgegengesetzt ist die Finsternis. Für Goethe ist die
Finsternis nicht die vollkommen kraftlose Abwesenheit des
Lichtes. Sie ist ein Wirksames. Sie stellt sich dem Licht
entgegen und tritt mit ihm in Wechselwirkung. Die moderne
Naturwissenschaft sieht die Finsternis an als ein vollkommenes
Nichts. Das Licht, das in einen finstern Raum einströmt,
hat, nach dieser Ansicht, keinen Widerstand der Finsternis zu
überwinden. Goethe stellt sich vor, daß Licht und
Finsternis sich zueinander. ähnlich verhalten wie der
Nord- und Südpol eines Magneten Die Finsternis kann das
Licht in seiner Wirkungskraft schwächen. Umgekehrt kann
das Licht die Energie der Finsternis beschränken. In
beiden Fällen entsteht die Farbe. Eine physikalische
Anschauung, die sich die Finsternis als das vollkommen
Unwirksame denkt, kann von einer solchen Wechselwirkung nicht
sprechen. Sie muß daher die Farben allein aus dem Lichte
herleiten. Die Finsternis tritt für die Beobachtung ebenso
als Erscheinung auf wie das Licht. Das Dunkel ist in demselben
Sinne Wahrnehmungsinhalt wie die Helle. Das eine ist nur der
Gegensatz des andern. Das Auge, das in die Nacht hinausblickt,
vermittelt die reale Wahrnehmung der Finsternis. Wäre die
Finsternis das absolute Nichts, so entstände gar keine
Wahrnehmung, wenn der Mensch in das Dunkel hinaussieht.
Das
Gelb ist ein durch die Finsternis gedämpftes Licht;
das Blau eine durch das Licht abgeschwächte
Finsternis.
Das
Auge ist dazu eingerichtet, dem vorstellenden Organismus die
Erscheinungen der Licht- und Farbenwelt und die Bezüge
dieser Erscheinungen zu vermitteln. Es verhält sich dabei
nicht bloß aufnehmend, sondern tritt in lebendige
Wechselwirkung mit den Erscheinungen. Goethe ist bestrebt, die
Art dieser Wechselwirkung zu erkennen. Er betrachtet das Auge
als ein durchaus Lebendiges und will seine
Lebensäußerungen durchschauen. Wie verhält sich
das Auge zu der einzelnen Erscheinung? Wie verhält es sich
zu den Bezügen der Erscheinungen? Das sind Fragen, die er
sich vorlegt. Licht und Finsternis, Gelb und Blau sind
Gegensätze. Wie empfindet das Auge diese Gegensätze?
Es muß in der Natur des Auges begründet sein,
daß es die Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen
Wahrnehmungen bestehen, auch empfinde. Denn «das Auge hat
sein Dasein dem Lichte zu danken. Aus gleichgültigen
tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor,
das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte
fürs Licht, damit das innere Licht dem äußern
entgegentrete.» (Didaktischer Teil der Farbenlehre.
Einleitung.)
So
wie Licht und Finsternis sich in der äußeren Natur
gegensätzlich verhalten, so stehen die beiden
Zustände einander entgegen, in die das Auge durch die
beiden Erscheinungen versetzt wird. Wenn man das Auge innerhalb
eines finstern Raumes offen hält, so wird ein gewisser
Mangel empfindbar. Wird es dagegen einer stark beleuchteten
weißen Fläche zugewendet, so wird es für eine
gewisse Zeit unfähig, mäßig beleuchtete
Gegenstände zu unterscheiden. Das Sehen ins Dunkle
steigert die Empfänglichkeit; dasjenige in das Helle
schwächt sie ab.
Jeder Eindruck aufs Auge bleibt eine Zeitlang in demselben. Wer
ein schwarzes Fensterkreuz auf einem hellen Hintergrunde
ansieht, wird, wenn er die Augen schließt, die Erscheinung
noch eine Weile vor sich haben. Blickt man, während der
Eindruck noch dauert, auf eine hellgraue Fläche, so
erscheint das Kreuz hell, der Scheibenraum dagegen dunkel. Es
findet eine Umkehrung der Erscheinung statt. Daraus folgt,
daß das Auge durch den einen Eindruck disponiert wird, den
entgegengesetzten aus sich selbst zu erzeugen. Wie in der
Außenwelt Licht und Finsternis in Beziehung zu einander
stehen, so auch die entsprechenden Zustände im Auge.
Goethe stellt sich vor, daß der Ort im Auge, auf den das
dunkle Kreuz fiel, ausgeruht und empfänglich für
einen neuen Eindruck ist. Deshalb wirkt auf ihn die graue
Fläche lebhafter als auf die übrigen Orte im Auge,
die vorher das stärkere Licht von den Fensterscheiben
empfangen haben. Hell erzeugt im Auge die Hinneigung zum
Dunkel; Dunkel die zum Hellen. Wenn man ein dunkles Bild vor
eine hellgraue Fläche hält und unverwandt, indem es
vorgenommen wird, auf denselben Fleck sieht, so erscheint der
Raum, den das dunkle Bild eingenommen hat, um vieles heller als
die übrige Fläche. Ein graues Bild auf dunklem Grund
erscheint heller als dasselbe Bild auf hellem. Das Auge wird
durch den dunklen Grund disponiert, das Bild heller; durch den
hellen es dunkler zu sehen. Goethe wird durch diese
Erscheinungen auf die große Regsamkeit des Auges verwiesen
«und den stillen Widerspruch, den jedes Lebendige zu
äußern gedrungen ist, wenn ihm irgend ein bestimmter
Zustand dargeboten wird. So setzt das Einatmen schon das
Ausatmen voraus und umgekehrt... Es ist die ewige Formel des
Lebens, die sich auch hier äußert. Wie dem Auge das
Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert
Dunkel, wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch
seine Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fassen, indem es
etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst
hervorbringt.» (§ 38 des didaktischen Teiles der
Farbenlehre.)
In
ähnlicher Weise wie Licht und Finsternis rufen auch
Farbenwahmehmungen eine Gegenwirkung im Auge hervor. Man halte
ein kleines Stück gelbgefärbten Papiers vor eine
mäßig erleuchtete weiße Tafel, und schaue
unverwandt auf die kleine gelbe Fläche. Nach einiger Zeit
hebe man das Papier hinweg. Man wird die Stelle, die das Papier
ausgefüllt hat, violett sehen. Das Auge wird durch den
Eindruck des Gelb disponiert, das Violett aus sich selbst zu
erzeugen. Ebenso wird das Blaue das Orange, das Rote das
Grün als Gegenwirkung hervorbringen. Jede Farbenempfindung
hat also im Auge einen lebendigen Bezug zu einer andern. Die
Zustände, in die das Auge durch Wahrnehmungen versetzt
wird, stehen in einem ähnlichen Zusammenhange wie die
Inhalte dieser Wahrnehmungen in der Außenwelt.
*
Wenn Licht und Finsternis, Hell und Dunkel aufs Auge wirken, so
tritt ihnen dieses lebendige Organ mit seinen Forderungen
entgegen; wirken sie auf die Dinge draußen im Raume, so
treten diese mit ihnen in Wechselwirkung. Der leere Raum hat
die Eigenschaft der Durchsichtigkeit. Er wirkt auf Licht und
Finsternis gar nicht. Diese scheinen durch ihn in ihrer eigenen
Lebhaftigkeit durch. Anders ist es, wenn der Raum mit Dingen
gefüllt ist. Diese Füllung kann eine solche sein,
daß das Auge sie nicht gewahr wird, weil Licht und
Finsternis in ihrer ursprünglichen Gestalt durch sie
hindurch scheinen. Dann spricht man von durchsichtigen Dingen.
Scheinen Licht und Finsternis nicht ungeschwächt durch ein
Ding hindurch, so wird es als trüb bezeichnet. Die
trübe Raumausfüllung bietet die Möglichkeit,
Licht und Finsternis, Hell und Dunkel in ihrem gegenseitigen
Verhältnis zu beobachten. Ein Helles durch ein Trübes
gesehen, erscheint gelb, ein Dunkles blau. Das Trübe ist
ein Materielles, das vom Lichte durchhellt wird. Gegenüber
einem hinter ihm befindlichen helleren, lebhafteren Licht ist
das Trübe dunkel; gegen eine durchscheinende Finsternis
verhält es sich als Helles. Es wirken also, wenn ein
Trübes sich dem Licht oder der Finsternis entgegenstellt,
wirklich ein vorhandenes Helles und ein ebensolches Dunkles
ineinander.
Nimmt die Trübe, durch welche das Licht scheint,
allmählich zu, so geht das Gelb in Gelbrot und dann in
Rubinrot über. Vermindert sich die Trübe, durch die
das Dunkel dringt, so geht das Blau in Indigo und zuletzt in
Violett über. Gelb und Blau sind Grundfarben. Sie
entstehen durch Zusammenwirken des Hellen oder Dunklen mit der
Trübe. Beide können einen rötlichen Ton
annehmen, jenes durch Vermehrung, dieses durch Verminderung der
Trübe. Das Rot ist somit keine Grundfarbe. Es erscheint
als Farbenton an dem Gelben oder Blauen. Gelb mit seinen
rötlichen Nuancen, die sich bis zum reinen Rot steigern,
steht dem Lichte nahe, Blau mit seinen Abtönungen ist der
Finsternis verwandt. Wenn sich Blau und Gelb vermischen
entsteht Grün; mischt sich das bis zum Violetten
gesteigerte Blau mit dem zum Roten verfinsterten Gelb, so
entsteht die Purpurfarbe.
Diese Grunderscheinungen verfolgt Goethe innerhalb der Natur.
Die helle Sonnenscheibe durch einen Flor von trüben
Dünsten gesehen, erscheint gelb. Der dunkle Weltraum durch
die vom Tageslicht erleuchteten Dünste der Atmosphäre
angeschaut, stellt sich als das Blau des Himmels dar.
«Ebenso erscheinen uns auch die Berge blau: denn, indem
wir sie in einer solchen Ferne erblicken, daß wir die
Lokalfarben nicht mehr sehen, und kein Licht von ihrer
Oberfläche mehr auf unser Auge wirkt, so gelten sie als
ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die dazwischen
tretenden Dünste blau erscheint.» (§ 156 des
didaktischen Teiles der Farbenlehre.)
Aus
der Vertiefung in die Kunstwerke der Maler ist Goethe das
Bedürfnis erwachsen, in die Gesetze einzudringen, denen
die Erscheinungen des Gesichtssinnes unterworfen sind. Jedes
Gemälde gab ihm Rätsel auf. Wie verhält sich das
Hell-Dunkel zu den Farben? In welchen Beziehungen stehen die
einzelnen Farben zueinander? Warum bewirkt Gelb eine heitere,
Blau eine ernste Stimmung? Aus der Newtonschen Farbenlehre war
kein Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus diese Geheimnisse
zu lüften gewesen wären. Sie leitet alle Farben aus
dem Licht ab, stellt sie stufenweise nebeneinander und sagt
nichts über ihre Beziehungen zum Dunkeln und auch nichts
über ihre lebendigen Bezüge zueinander. Aus den auf
eigenem Wege gewonnenen Einsichten konnte Goethe die
Rätsel lösen, die ihm die Kunst aufgegeben hatte. Das
Gelb muß eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft
besitzen, denn es ist die nächste Farbe am Licht. Es
entsteht durch die gelindeste Mäßigkeit desselben.
Das Blau weist auf das Dunkle hin, das in ihm wirkt. Deshalb
gibt es ein Gefühl von Kälte, so wie «es auch an
Schatten erinnert». Das rötliche Gelb entsteht durch
Steigerung des Gelben nach der Seite des Dunkeln. Durch diese
Steigerung wächst seine Energie. Das Heitere, Muntere geht
in das Wonnige über. Sobald die Steigerung noch
weitergeht, vom Rotgelben ins Gelbrote, verwandelt sich das
heitere, wonnige Gefühl in den Eindruck des Gewaltsamen.
Das Violett ist das zum Hellen strebende Blau. Die Ruhe und
Kälte des Blauen wird dadurch zur Unruhe. Eine weitere
Zunahme erfährt diese Unruhe im Blauroten. Das reine Rot
steht in der Mitte zwischen Gelbrot und Blaurot. Das
Stürmische des Gelben erscheint gemindert, die
lässige Ruhe des Blauen belebt sich. Das Rote macht den
Eindruck der idealen Befriedigung, der Ausgleichung der
Gegensätze. Ein Gefühl der Befriedigung entsteht auch
durch das Grün, das eine Mischung von Gelb und Blau ist.
Weil aber hier das Heitere des Gelben nicht gesteigert, die
Ruhe des Blauen nicht gestört durch den rötlichen Ton
ist, so wird die Befriedigung eine reinere sein als die, welche
das Rot hervorbringt.
*
Das
Auge fordert, wenn ihm eine Farbe entgegengebracht wird,
sogleich eine andere. Erblickt es Gelb, so entsteht in ihm die
Sehnsucht nach dem Violetten; nimmt es Blau wahr, so verlangt
es Orange; sieht es Rot, so begehrt es Grün. Es ist
begreiflich, daß das Gefühl der Befriedigung
entsteht, wenn neben einer Farbe, die dem Auge dargeboten wird,
eine andere gesetzt wird, die es seiner Natur nach erstrebt.
Aus dem Wesen des Auges ergibt sich das Gesetz der
Farbenharmonie. Farben, die das Auge nebeneinander fordert,
wirken harmonisch. Treten zwei Farben nebeneinander auf, von
denen die eine nicht die andere fordert, so wird das Auge zur
Gegenwirkung aufgeregt. Die Zusammenstellung von Gelb und
Purpur hat etwas Einseitiges, aber Heiteres und
Prächtiges. Das Auge will Violett neben Gelb, um sich
naturgemäß ausleben zu können. Tritt Purpur an
die Stelle des Violetten, so macht der Gegenstand seine
Ansprüche gegenüber denen des Auges geltend. Er
fügt sich den Forderungen des Organs nicht.
Zusammenstellungen dieser Art dienen dazu, auf das
Bedeutende der Dinge hinzuweisen. Sie wollen nicht
unbedingt befriedigen, sondern charakterisieren. Zu solchen
charakteristischen Verbindungen eignen sich Farben, die nicht
in vollem Gegensatz zueinander stehen, die aber doch auch nicht
unmittelbar ineinander übergehen. Zusammenstellungen der
letzteren Art geben den Dingen, an denen sie vorkommen, etwas
Charakterloses.
*
Das
Werden und Wesen der Licht- und Farbenerscheinungen hat sich
Goethe in der Natur offenbart. Er hat es auch wiedererkannt in
den Schöpfungen der Maler, in denen es auf eine
höhere Stufe gehoben, ins Geistige übersetzt ist.
Einen tiefen Einblick in das Verhältnis von Natur und
Kunst hat Goethe durch seine Beobachtungen der
Gesichtswahrnehmungen gewonnen. Daran mag er wohl gedacht
haben, als er nach Vollendung der «Farbenlehre »
über diese Beobachtungen an Frau von Stein schrieb:
«Es reut mich nicht, ihnen soviel Zeit aufgeopfert zu
haben. Ich bin dadurch zu einer Kultur gelangt, die ich mir von
einer andern Seite her schwerlich verschafft
hätte.»
Die
Goethesche Farbenlehre ist verschieden von derjenigen Newtons
und derjenigen Physiker, die auf Newtons Vorstellungen ihre
Anschauungen aufbauen, weil der erstere von einer andern
Weltanschauung ausgeht als die letzteren. Wer nicht den hier
dargestellten Zusammenhang zwischen Goethes allgemeinen
Naturvorstellungen und seiner Farbenlehre ins Auge faßt,
der wird nicht anders können, als glauben, Goethe sei zu
seinen Farbenanschauungen gekommen, weil ihm der Sinn für
die echten Beobachtungsmethoden des Physikers gemangelt habe.
Wer diesen Zusammenhang durchschaut, der wird auch einsehen,
daß innerhalb der Goetheschen Weltanschauung keine andere
Farbenlehre möglich ist als die seinige. Er würde
über das Wesen der Farbenerscheinungen nicht anders haben
denken können, als er es tat, auch wenn alle seit seiner
Zeit gemachten Entdeckungen auf diesem Gebiete vor ihm
wären ausgebreitet gewesen, und wenn er die
gegenwärtig so vervollkommneten Versuchsmethoden
hätte selbst exakt handhaben können. Wenn er auch,
nachdem er mit der Entdeckung der Frauenhoferschen Linien
bekannt wird, diese auch im Sinne seiner Naturanschauung nicht
völlig in diese einreihen kann, so sind doch weder sie
noch sonst eine Entdekkung auf optischem Gebiete ein Einwand
gegen seine Auffassung. Es handelt sich bei alledem nur darum,
diese Goethesche Auffassung so auszubauen, daß diese
Erscheinungen in ihrem Sinne in sie sich einfügen.
Zuzugeben ist, daß wer auf dem Gesichtspunkte der
Newtonschen Auffassung steht, sich bei Goethes Farbenansichten
nichts vorstellen könne. Das rührt aber nicht davon
her, weil ein solcher Physiker Erscheinungen kennt, die der
Goetheschen Auffassung widersprechen, sondern weil er sich in
eine Naturanschauung eingewöhnt hat, die ihn verhindert,
zu erkennen, was die Goethesche Naturansicht eigentlich
will.
|