Gedanken über
Entwicklungsgeschichte der Erde und Lufterscheinungen
Gedanken
über die Entwicklungsgeschichte der Erde
Durch seine Beschäftigung mit dem Ilmenauer Bergbau wurde
Goethe angeregt, das Reich der Mineralien, Gesteine und
Felsarten, sowie die übereinander geschichteten Massen der
Erdrinde zu betrachten. Im Juli 1776 begleitete er den Herzog
Karl August nach Ilmenau. Sie wollten sehen, ob das alte
Bergwerk wieder in Bewegung gesetzt werden könne. Goethe
widmete dieser Bergwerksangelegenheit auch weiter seine
Fürsorge. Dabei wuchs in ihm immer mehr der Trieb, zu
erkennen, wie die Natur bei der Bildung der Stein- und
Gebirgsmassen verfährt. Er bestieg die hohen Gipfel und
kroch in die Tiefen der Erde, um «der großen
formenden Hand nächste Spuren zu entdecken». Seine
Freude, die schaffende Natur auch von dieser Seite kennen zu
lernen, teilte er am 8. September 1780 von Ilmenau aus der Frau
von Stein mit. «Jetzt leb' ich mit Leib und Seel in Stein
und Bergen und bin sehr vergnügt über die weiten
Aussichten, die sich mir auftun. Diese zwei letzten Tage haben
mir ein groß Fleck erobert und können auf vieles
schließen. Die Welt kriegt mir nun ein neu ungeheuer
Ansehen.» Immer mehr befestigt sich bei ihm die Hoffnung,
daß es ihm gelingen werde, einen Faden zu spinnen, der
durch die unterirdischen Labyrinthe durchführen und eine
Übersicht in der Verwirrung geben könne. (Brief an
Frau von Stein vom 12. Juni 1784.) Allmählich dehnt er
seine Beobachtungen über weitere Gebiete der
Erdoberfläche aus. Auf seinen Harzreisen glaubt er zu
erkennen, wie sich große anorganische Massen gestalten. Er
schreibt ihnen die Tendenz zu, sich, «in mannigfachen,
regelmäßigen Richtungen zu trennen so daß
Parallelepipeden entstehen, welche wieder in der Diagonale sich
zu durchschneiden die Geneigtheit haben.» (Vergl. den
Aufsatz «Gestaltung großer anorganischer
Massen», Kürschner, Band 34.) Er denkt sich die
Steinmassen von einem ideellen Gitterwerk durchzogen, und zwar
sechsseitig. Dadurch werden kubische, parallelepipedische,
rhombische, rhomboidische, säulen- und plattenförmige
Körper aus einer Grundmasse herausgeschnitten. Er stellt
sich innerhalb dieser Grundmasse Kräftewirkungen vor, die
sie in dem Sinne trennen, wie das ideelle Gitterwerk es
veranschaulicht. Wie in der organischen Natur, so sucht Goethe
auch in dem Steinreiche das wirksame Ideelle. Auch hier forscht
er mit Geistesaugen. Wo die Trennung in regelmäßige
Formen nicht in die Erscheinung tritt, da nimmt er an, daß
sie ideell in den Massen vorhanden ist. Auf einer Harzreise,
die er 1784 unternimmt, läßt er von dem ihn
begleitenden Rat Kraus Kreidezeichnungen ausführen, in
denen das Unsichtbare, Ideelle durch das Sichtbare verdeutlicht
und zur Anschauung gebracht ist. Er ist der Ansicht, daß
das Tatsächliche vom Zeichner nur dann wahrhaft
dargestellt werden kann, wenn dieser auf die Intentionen der
Natur achtet, die in der äußeren Erscheinung oft
nicht deutlich genug hervortreten.«... im Übergang
aus dem Weichen in das Starre ergibt sich eine Scheidung, sie
sei nun dem Ganzen angehörig oder sie ereigne sich im
Innersten der Massen.» (Kürschner, Band 34. Aufsatz:
«Gebirgs-Gestaltung im ganzen und einzelnen.») In den
organischen Formen ist, nach Goethes Ansicht, ein
sinnlich-übersinnliches Urbild lebendig gegenwärtig;
ein Ideelles tritt in die sinnliche Wahrnehmung ein und
durchsetzt sie. In der regelmäßigen Gestaltung
anorganischer Massen wirkt ein Ideelles, das als solches nicht
in die sinnliche Form eingeht, aber doch eine sinnliche Form
schafft. Die unorganische Form ist in der Erscheinung nicht
sinnlich-übersinnlich, sondern nur sinnlich; sie muß
aber als Wirkung einer übersinnlichen Kraft aufgefaßt
werden. Sie ist ein Zwischending zwischen dem unorganischen
Vorgang, dessen Verlauf noch von einem Ideellen
beherrscht wird, der aber von demselben eine geschlossene Form
erhält, und dem Organischen, in dem das Idelle selbst zur
sinnlichen Form wird.
Die
Bildung zusammengesetzter Gesteine denkt sich Goethe dadurch
bewirkt, daß die ursprünglich nur ideell in einer
Masse vorhandenen Substanzen tatsächlich auseinander
getrennt werden. In einem Briefe an Leonhard, vom 25. November
1807, schreibt er: «So gestehe ich gern, daß ich da
noch oft simultane Wirkungen erblicke, wo andere schon eine
sukzessive sehen; daß ich in manchem Gestein, das andere
für ein Konglomerat, für ein aus Trümmern
Zusammengeführtes und Zusammengebackenes halten, ein aus
einer heterogenen Masse in sich selbst Geschiedenes und
Getrenntes und sodann durch Konsolidation Festgehaltenes zu
schauen glaube.»
Goethe ist nicht dazu gekommen, diese Gedanken für eine
größere Zahl unorganischer Formenbildungen fruchtbar
zu machen. Es ist seiner Denkweise gemäß, auch die
Anordnung der geologischen Schichten aus ideellen
Bildungsprinzipien zu erklären, die dem Stoff, seinem
Wesen nach, innewohnen. Den damals weit verbreiteten
geologischen Ansichten Werners konnte er sich aus dem Grunde
nicht anschließen, weil dieser solche Bildungsprinzipien
nicht kannte, sondern alles auf die rein mechanischen
Wirkungen des Wassers zurückführte. Noch
unsympathischer war ihm der von Hutton aufgestellte und von
Alexander von Humboldt, Leopold von Buch und anderen
verteidigte Vulkanismus, der die Entwicklung der einzelnen
Erdperioden durch gewaltsame, von materiellen Ursachen bewirkte
Revolutionen erklärte. Durch vulkanische Kräfte
läßt diese Anschauung große Gebirgssysteme
plötzlich aus der Erde emporschießen. Solche
unermeßliche Kraftleistungen schienen Goethe dem Wesen der
Natur zu widersprechen. Er sah keinen Grund, warum die Gesetze
der Erdentwicklung sich zu gewissen Zeiten plötzlich
ändern und nach langandauernder allmählicher
Wirksamkeit sich in einem gewissen Zeitpunkte durch «Heben
und Drängen, Aufwälzen und Quetschen, Schleudern und
Schmeißen» äußern sollen. Die Natur
erschien ihm in allen ihren Teilen konsequent, so daß
selbst eine Gottheit an den ihr eingeborenen Gesetzen nichts
ändern könnte. Ihre Gesetze hält er für
unwandelbar. Die Kräfte, die heute an der Bildung der
Erdoberfläche wirken, müssen dem Wesen nach, zu allen
Zeiten gewirkt haben.
Von
diesem Gesichtspunkte aus kommt er auch zu einer
naturgemäßen Ansicht darüber, auf welche Weise
die Gesteinblöcke an ihre Plätze gelangt sind, die in
der Nähe des Genfer Sees zerstreut sich vorfinden und die,
ihrer Beschaffenheit nach, von weit entfernten Gebirgen
abgetrennt sind. Es trat ihm die Meinung entgegen, daß
diese Gesteinsmassen bei dem tumultarischen Aufstand der weit
rückwärts im Lande gelegenen Gebirge an ihren
jetzigen Ort geschleudert worden seien. Goethe suchte nach
Kräften, die gegenwärtig beobachtet werden
können, und die geeignet sind, diese Erscheinung zu
erklären. Er fand solche bei der Bildung der Gletscher
tätig. Nun brauchte er nur anzunehmen, daß die
Gletscher, die heute noch das Gestein vom Gebirge in die Ebenen
befördern, einstmals eine ungeheuer viel größere
Ausdehnung gehabt haben als gegenwärtig. Sie haben dann
die Steinmassen viel weiter von den Gebirgen weggetragen, als
sie es in der Gegenwart tun. Als die Gletscher wieder an
Ausdehnung verloren, sind diese Gesteine liegen geblieben. In
analoger Weise, dachte Goethe, müssen auch die in der
norddeutschen Tiefebene umherliegenden Granitblöcke an
ihre jetzigen Fundorte gelangt sein. Um sich vorstellen zu
können, daß die von erratischen Blöcken
bedeckten Landesteile einst von Gletschereis bedeckt waren,
bedarf es der Annahme einer Epoche großer Kälte.
Gemeingut der Wissenschaft wurde diese Annahme durch
Agassiz, der selbständig auf sie kam und sie 1837
in der Schweizerischen Gesellschaft für Naturforschung
darlegte. In neuerer Zeit ist diese Kälteepoche, die
über die Kontinente der Erde hereinbrach, als bereits ein
reiches Tier- und Pflanzenleben entwickelt war, zum
Lieblingsstudium bedeutender Geologen geworden. Was Goethe im
einzelnen über die Erscheinungen dieser
«Eiszeit» vorbringt, ist gegenüber den
Beobachtungen, die spätere Forscher gemacht haben,
belanglos.
Ebenso wie zur Annahme einer Epoche großer Kälte wird
Goethe durch seine allgemeine Naturanschauung zu einer
richtigen Ansicht über das Wesen der Versteinerungen
geführt. Zwar haben schon frühere Denker in diesen
Gebilden Überreste vorweltlicher Organismen erkannt. Diese
richtige Ansicht ist aber so langsam allgemein herrschend
geworden, daß noch Voltaire die versteinerten Muscheln als
Naturspiele ansehen konnte. Goethe erkannte bald, nachdem er
einige Erfahrung auf diesem Gebiete gewonnen hatte, daß
die Versteinerungen als Reste von Organismen in einem
naturgemäßen Zusammenhange mit denjenigen
Erdschichten stehen, in denen sie gefunden werden. Das
heißt, daß diese Organismen in den Epochen der Erde
gelebt haben, in denen sich die entsprechenden Schichten
gebildet haben. In dieser Weise spricht er sich über
Versteinerungen in einem Briefe an Merck vom 27. Oktober 1782
aus: «Alle die Knochentrümmer, von denen Du sprichst
und die in dem oberen Sande des Erdreichs überall gefunden
werden, sind, wie ich völlig überzeugt bin, aus der
neuesten Epoche, welche aber doch gegen unsere gewöhnliche
Zeitrechnung ungeheuer alt ist. In dieser war das Meer schon
zurückgetreten; hingegen flossen Ströme noch in
großer Breite, doch verhältnismäßig zum
Niveau des Meeres, nicht schneller und vielleicht nicht einmal
so schnell als jetzt. Zu derselbigen Zeit setzte sich der Sand,
mit Leimen gemischt, in allen breiten Tälern nieder, die
nach und nach, als das Meer sank, von dem Wasser verlassen
wurden und die Flüsse sich in ihrer Mitte nur geringe
Beete gruben. Zu jener Zeit waren die Elefanten und
Rhinozerosse auf den entblößten Bergen bei uns zu
Hause, und ihre Reste konnten gar leicht durch die
Waldströme in jene großen Stromtäler oder
Seeflächen heruntergespült werden, wo sie mehr oder
weniger mit dem Steinsaft durchdrungen sich erhielten und wo
wir sie nun mit dem Pfluge oder durch andere Zufälle
ausgraben. In diesem Sinne sagte ich vorher, man finde sie in
dem oberen Sande, nämlich in dem, der durch die alten
Flüsse zusammengespült worden, da schon die
Hauptrinde des Erdbodens völlig gebildet war. Es wird nun
bald die Zeit kommen, wo man Versteinerungen nicht mehr
durcheinander werfen, sondern verhältuismäßig zu
den Epochen der Welt rangieren wird.» Goethe ist
wiederholt ein Vorläufer der durch Lyell
begründeten Geologie genannt worden. Auch diese nimmt
nicht mehr gewaltsame Revolutionen oder Katastrophen an, um die
Entstehung einer Erdperiode aus der andern zu erklären.
Sie führt die früheren Veränderungen der
Erdoberfläche auf dieselben Vorgänge zurück, die
sich auch jetzt noch abspielen. Es darf aber nicht außer
acht gelassen werden, daß die moderne Geologie bloß
physikalische und chemische Kräfte heranzieht, um die
Erdbildung zu erklären. Daß dagegen Goethe
gestaltende Kräfte annimmt, die innerhalb der Massen
wirksam sind und die eine höhere Art von
Bildungsprinzipien darstellen, als die Physik und Chemie sie
kennen.
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