Betrachtungen
über atmosphärische Erscheinungen
Im
Jahre 1815 lernt Goethe Luke Howards «Versuch einer
Naturgeschichte und Physik der Wolken» kennen. Er wird
dadurch zu schärferem Nachdenken über Wolkenbildungen
und Witterungsverhältnisse angeregt. Zwar hat er schon
früher mancherlei Beobachtungen über diese
Erscheinungen gemacht und aufgezeichnet. Das Erfahrene jedoch
zusammenzustellen fehlten ihm «Umsicht und
wissenschaftliche Verknüpfungszweige». In dem
Howardschen Aufsatze sind die mannigfaltigen Wolkenbildungen
auf gewisse Grundformen zurückgeführt. Goethe findet
nun einen Eingang in die Witterungskunde, die ihm bisher fremd
geblieben ist, weil es seiner Natur unmöglich war, aus der
Art, wie dieser Wissenszweig zu seiner Zeit behandelt wurde,
etwas zu gewinnen. «Den ganzen Komplex der
Witterungskunde, wie er tabellarisch durch Zahlen und Zeichen
aufgestellt wird, zu erfassen ... war meiner Natur
unmöglich; ich freute mich, einen integrierenden Teil
derselben meiner Neigung und Lebensweise angemessen zu finden,
und weil in diesem unendlichen All alles in ewiger, sicherer
Beziehung steht, eins das andere hervorbringt oder wechselweise
hervorgebracht wird, so schärfte ich meinen Blick auf das
dem Sinne der Augen Erfaßliche und gewöhnte mich, die
Bezüge der atmosphärischen und irdischen
Erscheinungen mit Barometer und Thermometer in Einklang zu
setzen...»
Da
der Stand des Barometers in genauem Bezug zu allen
Witterungsverhälmissen steht, so tritt er auch bald
für Goethe in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen
über atmosphärische Verhältnisse. Je länger
er diese Beobachtungen fortsetzt, um so mehr glaubt er zu
erkennen, da das Steigen und Fallen des Quecksilbers im
Barometer an verschiedenen «näher und ferner, nicht
weniger in unterschiedenen Längen, Breiten und Höhen
gelegenen Beobachtungsorten» so geschieht, daß einem
Steigen oder Fallen an einem Orte ein fast gleich großes
Steigen oder Fallen an allen andern Orten zu gleichen Zeiten
entspricht. Aus dieser Regelmäßigkeit der
Barometerveränderungen zieht Goethe die Folgerung,
daß auf dieselben keine außerirdischen Einflüsse
wirken können. Wenn man dem Monde, den Planeten, den
Jahreszeiten einen solchen Einfluß zuschreibt, wenn man
von Ebbe und Flut in der Atmosphäre spricht, so wird die
Regelmäßigkeit nicht erklärt. Alle diese
Einflüsse müßten sich zu gleichen Zeiten in der
verschiedensten Weise an verschiedenen Orten geltend machen.
Nur wenn innerhalb der Erde selbst die Ursache für diese
Veränderungen liegt, sind sie erklärbar, meint
Goethe. Da nun der Stand des Quecksilbers von dem Druck der
Luft abhängt, so stellt sich Goethe vor, daß die Erde
abwechselnd die ganze Atmosphäre zusammenpreßt und
wieder ausdehnt. Wird die Luft zusammengepreßt, so
erhöht sich ihr Druck und das Quecksilber steigt; das
Umgekehrte findet bei der Ausdehnung statt. Goethe schreibt
diese abwechselnde Zusammenziehung und Ausdehnung der ganzen
Luftmasse einer Veränderlichkeit zu, welcher die
Anziehungskraft der Erde unterworfen ist. Das Vermehren und
Vermindern dieser Kraft sieht er in einem gewissen Eigenleben
der Erde begründet und vergleicht es mit dem Ein- und
Ausatmen eines Organismus.
Demnach denkt sich Goethe auch die Erde nicht in bloß
mechanischer Weise wirksam. So wenig er die geologischen
Vorgänge rein mechanisch und physikalisch erklärt,
ebensowenig tut er dies bei den Barometerschwankungen. Seine
Naturansicht steht in scharfem Gegensatz zu der modernen. Diese
sucht, ihren allgemeinen Grundsätzen gemäß, die
atmosphärischen Vorgänge physikalisch zu begreifen.
Die Temperaturunterschiede in der Atmosphäre bewirken eine
Verschiedenheit des Luftdrucks an verschiedenen Orten, erzeugen
Luftströmungen von wärmeren nach kälteren
Gebieten, vermehren oder vermindern den Feuchtigkeitsgehalt,
bringen Wolkenbildungen und Niederschläge hervor. Aus
solchen und ähnlichen Faktoren werden die Schwankungen des
Luftdrucks und damit das Steigen und Fallen des Barometers
erklärt. Auch widerspricht Goethes Vorstellung von einer
Vermehrung und Verminderung der Anziehungskraft den modernen
mechanischen Begriffen. Nach diesen ist die Stärke der
Anziehungskraft an einem Orte stets dieselbe. Goethe wendet
mechanische Vorstellungen nur so weit an, als es ihm durch die
Beobachtung geboten erscheint.
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