Goethe
und Hegel
Goethes Weltbetrachtung geht nur bis zu einer gewissen Grenze.
Er beobachtet die Licht- und Farbenerscheinungen und dringt bis
zum Urphänomen vor; er sucht sich innerhalb der
Mannigfaltigkeit des Pflanzenwesens zurechtzufinden und gelangt
zu seiner sinnlich-übersinnlichen Urpflanze. Von dem
Urphänomen oder der Urpflanze steigt er nicht zu
höheren Erklärungsprinzipien auf. Das
überläßt er den Philosophen. Er ist befriedigt,
wenn «er sich auf der empirischen Höhe befindet, wo
er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen
überschauen, und vorwärts in das Reich der Theorie,
wo nicht eintreten, doch einblicken kann». Goethe geht in
der Betrachtung des Wirklichen so weit, bis ihm die Ideen
entgegenblicken. In welchem Zusammenhange die Ideen
untereinander stehen; wie innerhalb des Ideellen das eine aus
dem andern hervorgeht; das sind Aufgaben, die auf der
empirischen Höhe erst beginnen, auf der Goethe stehen
bleibt. «Die Idee ist ewig und einzig», meint er,
« daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht
wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden
können, sind nur Manifestationen der Idee.» Da aber
doch in der Erscheinung die Idee als eine Vielheit von
Einzelideen auftritt, z. B. Idee der Pflanze, Idee des Tieres,
so müssen diese sich auf eine Grundform
zurückführen lassen, wie die Pflanze sich auf das
Blatt zurückführen läßt. Auch die einzelnen
Ideen sind nur in ihrer Erscheinung verschieden; in ihrem
wahren Wesen sind sie identisch. Es ist also ebenso im Sinne
der Goetheschen Weltanschauung, von einer Metamorphose der
Ideen wie von einer Metamorphose der Pflanzen zu reden. Der
Philosoph, der diese Metamorphose der Ideen darzustellen
versucht hat, ist Hegel. Er ist dadurch der Philosoph der
Goetheschen Weltanschauung. Von der einfachsten Idee, dem
reinen «Sein» geht er aus. In diesem verbirgt sich
die wahrhafte Gestalt der Welterscheinungen vollständig.
Deren reicher Inhalt wird zum blutarmen Abstraktum. Man hat
Hegel vorgeworfen, daß er aus dem reinen «Sein»
die ganze inhaltvolle Welt der Ideen ableitet. Aber das reine
Sein enthält «der Idee nach» die ganze
Ideenwelt, wie das Blatt der Idee nach die ganze Pflanze
enthält. Hegel verfolgt die Metamorphosen der Idee von dem
reinen abstrakten Sein bis zu der Stufe, in der die Idee
unmittelbar wirkliche Erscheinung wird. Er betrachtet als diese
höchste Stufe die Erscheinung der Philosophie selbst. Denn
in der Philosophie werden die in der Welt wirksamen Ideen in
ihrer ureigenen Gestalt angeschaut. In Goethes Weise gesprochen
könnte man etwa sagen: die Philosophie ist die Idee in
ihrer größten Ausbreitung; das reine Sein ist die
Idee in ihrer äußersten Zusammenziehung. Daß
Hegel in der Philosophie die vollkommenste Metamorphose der
Idee sieht, beweist, daß ihm die wahre Selbstbeachtung
ebenso ferne liegt wie Goethe. Ein Ding hat seine höchste
Metamorphose erreicht, wenn es in der Wahrnehmung, im
unmittelbaren Leben seinen vollen Inhalt herausarbeitet. Die
Philosophie aber enthält den Ideengehalt der Welt nicht in
Form des Lebens, sondern in Form von Gedanken. Die lebendige
Idee, die Idee als Wahrnehmung, ist allein der menschlichen
Selbstbeobachtung gegeben. Hegels Philosophie ist keine
Weltanschauung der Freiheit, weil sie den Weltinhalt in seiner
höchsten Form nicht auf dem Grunde der menschlichen
Persönlichkeit sucht. Auf diesem Grunde wird aller Inhalt
ganz individuell. Nicht dieses Individuelle sucht Hegel,
sondern das Allgemeine, die Gattung. Er verlegt den Ursprung
des Sittlichen daher auch nicht in das menschliche Individuum,
sondern in die außer dem Menschen liegende Weltordnung,
welche die sittlichen Ideen enthalten soll. Der Mensch gibt
sich nicht selbst sein sittliches Ziel, sondern er hat sich der
sittlichen Weltordnung einzugliedern. Das Einzelne,
Individuelle gilt Hegel geradezu als das Schlechte, wenn es in
seiner Einzelheit verharrt. Erst innerhalb des Ganzen
erhält es seinen Wert. Dies ist die Gesinnung der
Bourgeoisie, meint Max Stirner «und ihr Dichter Goethe,
wie ihr Philosoph Hegel haben die Abhängigkeit des
Subjekts vom Objekte, den Gehorsam gegen die objektive Welt
usw. zu verherrlichen gewußt». Damit ist wieder eine
andere einseitige Vorstellungsart hingestellt. Hegel wie Goethe
fehlt die Anschauung der Freiheit, weil beiden die Anschauung
des innersten Wesens der Gedankenwelt abgeht. Hegel fühlt
sich durchaus als Philosoph der Goetheschen Weltanschauung. Er
schreibt am 20. Februar 1821 an Goethe: «Das Einfache und
Abstrakte, was Sie sehr treffend das Urphänomen nennen,
stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die konkreteren
Erscheinungen auf als entstehend durch das Hinzukommen weiterer
Einwirkungsweisen und Umstände und regieren den ganzen
Verlauf so, daß die Reihenfolge von den einfachen
Bedingungen zu den zusammengesetztem fortschreitet und so
rangiert, das Verwickelte nun durch diese Dekomposition in
seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen
auszuspüren, es von den andern, ihm selbst zufälligen
Umgebungen zu befreien, - es abstrakt, wie wir dies
heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache
des großen geistigen Natursinns, sowie jenen Gang
überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche der
Erkenntnis in diesem Felde.» «Darf ich Ew. usw. aber
nun auch noch von dem besondern Interesse sprechen, welches ein
so herausgehobenes Urphänomen für uns Philosophen
hat, daß wir nämlich ein solches Präparat
geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden können! -
Haben wir nämlich endlich unser zunächst
austernhaftes, graues oder ganz schwarzes ... Absolutes doch
gegen Luft und Licht hingearbeitet, daß es desselben
begehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es
vollends an das Licht des Tages herauszuführen; unsere
Schemen würden zu Dunst verschweben, wenn wir sie so
geradezu in die bunte verworrene Gesellschaft der
widerhältigen Welt versetzen wollten. Hier kommen uns nun
Ew. usw. Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem
Zwielichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit,
sichtlich oder greiflich durch seine Sinnlichkeit -
begrüßen sich die beiden Welten, unser Abstruses und
das erscheinende Dasein, einander.»
Wenn auch Goethes Weltanschauung und Hegels Philosophie
einander vollkommen entsprechen, so würde man sich doch
sehr irren, wenn man den Gedanken-Leistungen Goethes und denen
Hegels den gleichen Wert zuerkennen wollte. In beiden lebt
dieselbe Vorstellungsweise. Beide wollen die Selbstwahrnehmung
vermeiden. Doch hat Goethe seine Reflexionen auf Gebieten
angestellt, in denen der Mangel der Wahrnehmung nicht
schädlich wirkt. Hat er auch nie die Ideenwelt als
Wahrnehmung gesehen; er hat doch in der Ideenwelt gelebt
und seine Beobachtungen von ihr durchdringen lassen. Hegel hat
die Ideenwelt ebensowenig wie Goethe als Wahrnehmung, als
individuelles Geist-Dasein geschaut. Er hat aber gerade
über die Ideenwelt seine Reflexionen angestellt. Diese
sind daher nach vielen Richtungen hin schief und unwahr.
Hätte Hegel Beobachtungen über die Natur angestellt,
so wären sie wohl ebenso wertvoll geworden wie diejenigen
Goethes; hätte Goethe ein philosophisches
Gedankengebäude aufstellen wollen, so hätte ihn wohl
die sichere Anschauung der wahren Wirklichkeit verlassen, die
ihn bei seinen Naturbetrachtungen geleitet hat.
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