Vorwart zur Neuauflage [1924]
In dieser Schrift habe
ich vor mehr als zwanzig Jahren die Frage beantworten
wollen: Warum stoßen eine besondere Form der Mystik
und die Anfänge des gegenwärtigen
naturwissenschaftlichen Denkens in der Zeit vom
dreizehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert
aufeinander.
Ich wollte nicht eine «Geschichte»
der Mystik dieser Zeit schreiben, sondern nur diese Frage
beantworten. Etwas an dieser Beantwortung zu ändern,
geben die Veröffentlichungen, die seit zwanzig
Jahren über den Gegenstand erfolgt sind, nach meiner
Meinung, keine Veranlassung. Die Schrift kann daher im
wesentlichen unverändert wieder erscheinen.
Die Mystiker, von denen hier gesprochen wird,
sind letzte Ausläufer einer Forschungs- und
Denkungsart, die in ihren Einzelheiten dem
gegenwärtigen Bewußtsein fremd
gegenübersteht. Nur die Seelenstimmung, die in
dieser Forschungsart gelebt hat, ist in innigen Naturen
der Gegenwart vorhanden. Die Art, die Dinge der Natur
anzusehen, mit der vor dem hier gekennzeichneten
Zeitalter diese Seelenstimmung verbunden war, ist nahezu
verschwunden. Die gegenwärtige Naturforschung ist an
ihre Stelle getreten.
Die Reihe der Persönlichkeiten, die hier
charakterisiert werden, vermochten nicht die einstmalige
Forschungsart in die Zukunft hinüber zu tragen. Sie
entspricht nicht mehr den Erkenntniskräften, die
sich vom dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert an in
der europäischen Menschheit entwickeln. Nur wie
Reminiszenzen an Vergangenes sieht sich an, was
Paracelsus oder Jacob Böhme noch von dieser
Forschungsart bewahren. Im wesentlichen bleibt den
sinnenden Menschen die Seelenstimmung. Und für diese
suchen sie einen Impuls in den Neigungen der Seele
selbst, während sie ehedem in der Seele
aufleuchtete, wenn diese die Natur beobachtete. Mancher,
der heute zur Mystik neigt, wird die mystischen
Erlebnisse nicht in Anlehnung an das entzünden
wollen, was die gegenwärtige Naturforschung sagt,
sondern an das, was die Schriften der hier geschilderten
Zeit enthalten. Dadurch aber wird er ein Fremdling
gegenüber dem, was die Gegenwart am meisten
beschäftigt.
Es könnte nun scheinen, als ob die
gegenwärtige Naturerkenntnis, in ihrer Wahrheit
gesehen, keinen Weg anzeigte, der so die Seele stimmen
könnte, daß sie in mystischem Schauen das Licht
des Geistes findet. Warum finden mystisch gestimmte
Seelen zwar Befriedigung bei dem Meister Eckhart, bei
Jacob Böhme usw.; nicht aber in dem Buche der Natur,
soweit dieses heute durch die Erkenntnis aufgeschlagen
vor dem Menschen liegt?
Die Gestalt, in der über dieses Buch heute
zumeist gesprochen wird, kann allerdings nicht in die
mystische Seelenstimmung führen.
Daß aber so nicht gesprochen werden
muß, darauf will diese Schrift hinweisen. Es wird
dies dadurch versucht, daß auch von solchen Geistern
gesprochen wird, die aus der Seelenstimmung der alten
Mystik ein Denken entwickeln, das auch die neueren
Erkenntnisse in sich aufnehmen kann. Das ist bei Nikolaus
von Kues der Fall.
An solchen Persönlichkeiten zeigt sich,
daß auch die gegenwärtige Naturforschung einer
mystischen Vertiefung fähig ist. Denn ein Nikolaus
von Kues könnte sein Denken in diese Forschung
hinüberführen. Man hätte zu seiner Zeit
die alte Forschungsart ablegen, die mystische Stimmung
bewahren, und die moderne Naturforschung annehmen
können, wenn sie schon dagewesen wäre.
Was aber die Menschenseele mit einer
Forschungsart verträglich findet, das muß sie
auch aus ihr gewinnen können, wenn sie stark genug
dazu ist.
Ich habe die Wesensart der mittelalterlichen
Mystik darstellen wollen, um darauf hinzuweisen, wie sie
sich losgelöst von ihrem Mutterboden, der alten
Vorstellungsart, als selbständige Mystik ausbildet,
sich aber nicht erhalten kann, weil ihr die seelische
Impulsivität nunmehr fehlt, die sie in alten Zeiten
durch die Forschung gehabt hat.
Das führt zu dem Gedanken, daß die
zur Mystik führenden Elemente der neueren Forschung
gesucht werden müssen. Aus dieser kann dann die
seelische Impulsivität wieder gewonnen werden, die
nicht bei dem dunklen mystischen, gefühlsverwandten
Innenleben stehen bleibt, sondern von dem mystischen
Ausgangspunkte aus zur Geisterkenntnis aufsteigt. Die
mittelalterliche Mystik verkümmerte, weil sie den
Untergrund der Forschung verloren hatte, der den
Seelenkräften hinauf die Richtung zum Geiste gibt.
Anregen will dies Büchlein dazu, die nach der
geistigen Welt richtunggebenden Kräfte aus der
rechtverstandenen neueren Forschung zu gewinnen.
Goetheanum in Dornach bei Basel
Herbst 1923 Rudolf Steiner
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